Das KZ-Universum (eBook)

(Autor)

Nicolas Bertrand (Urheber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
140 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-76565-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das KZ-Universum -  David Rousset
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Im August 1945 schrieb David Rousset, nach Buchenwald und einem Todesmarsch gerade von den alliierten Truppen befreit, eine der ersten Darstellungen des Systems der deutschen Konzentrationslager in ihrem Aufbau, ihrer inneren und äußeren Hierarchie sowie ihren Funktionsweisen. Und er schrieb darüber, welche Konsequenzen dieses Universum für die Nachgeborenen hat.

»Normale Menschen wissen nicht, dass alles möglich ist. Die KZler wissen es. Unter den KZlern wohnte der Tod in jeder Stunde ihres Daseins. Er hat ihnen all seine Gesichter gezeigt. Sie haben erfahren, wie er einen Menschen auf jede erdenkliche Weise entkleiden kann. Sie haben über Jahre in den phantastischen Kulissen einer Welt gelebt, in der alle Würde vernichtet war. Sie sind von den anderen Menschen durch eine Erfahrung getrennt, die nicht weitergegeben werden kann.«



<p>David Rousset, 1912 in Roanne geboren, war in den 1930er Jahren franz&ouml;sischer Sozialist, bereiste das nationalsozialistische Deutschland. Er wurde 1938 Journalist amerikanischer Zeitschriften. Im Oktober 1943 wurde Rousset wegen seiner politischen Arbeit von den deutschen Besatzern in Paris verhaftet, gefoltert und ins KZ Buchenwald gebracht. Er &uuml;berlebte den Todesmarsch vom KZ Neuengamme nach W&ouml;bbelin. Das KZ-Universum war sein erstes Buch, 1946 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Der Widerstandsk&auml;mpfer G&eacute;rard Rosenthal nannte ihn den &raquo;Zeugen unter den Zeugen&laquo;. Rousset schrieb sp&auml;ter wichtige B&uuml;cher &uuml;ber die politische Verfolgung und die Gefangenenlager in China, Spanien, Griechenland, in der Sowjetunion und dem damaligen Jugoslawien und unterst&uuml;tzte in den 1960er Jahren Pr&auml;sident de Gaulle. David Rousset starb im Dezember 1997 in Paris.</p>

IV

Seltsame Obsessionen peinigten ihre Körper


»Sie kennen den Abgrund der Lager nicht.« Ein Abend in Helmstedt in Stube zwei, dem kleinen Raum für die Kapos. Nur wir drei sind da: Emil sitzt auf seinem üblichen Platz an der Stirnseite des Tischs, den Rücken an die Wand zur Schreibstube gelehnt; rechts von ihm Martin, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und ihm gegenüber ich, rittlings auf der Bank. Georg ist nach draußen gegangen. Er arbeitet als Schreiner hier, ein untersetzter, stämmiger Mann. Im Lager ist er seit zehn Jahren. Wegen seiner Schwäche für kleine Mädchen und weil er sich für einen Heiler hielt. Ab und zu legt er immer noch jemandem die Hände auf. Zurzeit ist er in eine Gefangene verliebt, der er heimlich Briefe und manchmal eine Kleinigkeit zu essen schickt. Das kann ihm fünfundzwanzig Stockschläge einbringen, aber er ist verliebt. Er ist fünfundvierzig, hat ein wettergegerbtes, durchtriebenes Bauerngesicht und eine erstaunliche Neigung, Vorträge zu halten.

Aus der Schreibstube tönt die laute, vulgäre Stimme von Poppenhauer, dem Lagerältesten. Mit seiner gedrungenen Statur, den plumpen Bewegungen, dem fetten, kurzen Hals, dem wuchtigen Kopf und dem hoch ausrasierten Haar ist er der vollendete Typus des deutschen Kleinbürgers, wie aus dem Simplicissimus. Im KZ ist er seit einem Jahr: Er hatte auf dem Schwarzmarkt elektrische Geräte verkauft, die dem Staat vorbehalten waren. Poppenhauer hat einige Monate in den USA verbracht und spricht Englisch. Er prügelt mit der Begeisterung eines Feldwebels. Auch Franz prügelte wie ein Irrer, ehe er verhaftet wurde. Er ging auf die Gefangenen los wie ein Tornado, berauscht von der bitteren Lust, ganz alleine siebenhundert Männer in die Flucht zu schlagen, sie niederzuprügeln, sie stürzen zu sehen. Aber er hatte auch seine friedlicheren Stunden, Momente fürstlicher Großmut. Poppenhauer dagegen hört nie auf. Er ist pedantisch, kleinlich. Er rennt mit hochroter Visage und erhobenem Schlagstock hinter den Männern her, drischt in keuchender Raserei auf sie ein. Seine allabendliche Zerstreuung besteht darin, ein paar übermüdete, ausgehungerte Gefangene, deren Decken nicht ordnungsgemäß gefaltet sind, Froschsprünge machen zu lassen. Danach muss er sich hinlegen, weil seine Leber schmerzt.

Jetzt hört man Alfred, den Rollwagenkapo, der Poppenhauer antwortet. Er klingt kurz angebunden und gleichgültig. Er spricht ein wenig Französisch, artikuliert sehr langsam Wort für Wort. Er behauptet, er hätte eine Frau in Avignon. Er war es, der Franz bei der SS angeschwärzt und dafür gesorgt hat, dass Poppenhauer Lagerältester wurde. Alfred ist sehr mächtig, denn er hat so gut wie alle Hebel des örtlichen Schwarzmarkts in der Hand und unterstützt die SS-Leute bei ihren Geschäften. Abends, wenn die Männer in den Baracken eingesperrt sind, spielt er Mozart, und er spielt gut. Sonntags singt er gern in kleiner Runde stundenlang sentimentale alte Lieder. Gestern hat er Rudolf windelweich geprügelt, weil der seinem Liebhaber Heinz, dem Pfarrer, einen schmutzigen Antrag gemacht hatte. Und jetzt schmiedet er vermutlich blutige Rachepläne gegen Herbert Pfeiffer, weil dieser ewig angetrunkene Gauner es geschafft hat, Heinz’ Leidenschaft zu wecken.

Aus dem Speisesaal tönen Rufe herüber: Kamu! Kamu! Kamu Zigaretten? Delaunay, gib mir deine miska, Herrgott! Scheiße Mensch! Chui! Pisda! Jemand in der Menge macht den großen Toni nach: Jop twoju mat pisda chujewa. Der große Toni schiebt verächtlich die Lippen vor, und die Russen lachen über ihn, aber es läuft ihnen kalt über den Rücken. Toni Brüncken, unser Blockführer, ist eine sadistische Bestie. Einmal hat er an einem Tag sämtliche weiblichen Gefangenen ausgepeitscht: vierhundert Frauen. Nach der letzten ist er erschöpft, aber strahlend auf einen Stuhl gesunken.

Jop twoju mat … Der Streit wird handgreiflich. Die Männer haben Brote mit 1600 Gramm bekommen, die sie zu je achtzehnt teilen sollen. Sie stoßen und drängen sich um die von den Russen und Polen gebauten primitiven Waagen. Außer dem Brot haben sie 25 Gramm Wurst. Das ist ihr Abendessen. Die Pfeife des Blockältesten schraubt sich durch den Tumult. In der Schreibstube herrscht einen Moment lang Schweigen. Gleich darauf erklingt eine unverwechselbare Stimme: Der Kammerkapo, Judas genannt, ein professioneller Betrüger und Schläger Nummer 1. Das Lächeln des Kammerkapos kennt jeder. Selbst unter seinesgleichen ist er verhasst. Er spricht sanft und stets beflissen, seine schmalen, zwanghaft lügenden Lippen dehnen die Wörter in die Länge.

In Stube zwei erzählt Emil Künder mit tonloser Stimme: »Heute ist das Lager das reinste Sanatorium. Früher waren wir auch vier Mann an einer Lore, aber obendrauf saß noch ein SS-Mann. Und wir mussten rennen. Wenn wir nicht schnell genug waren, setzte es Schläge. Wenn man abends in den Block wollte, musste man die Leichen auf dem Platz mit dem Fuß wegschieben.« Emil Künder hatte einst eine leitende Position in der Deutschen Kommunistischen Partei. Er ist schon seit Jahren im Lager. Er ist hager, aber von kräftiger Statur. Noch immer kann er zwei Säcke Zement auf den Schultern tragen. Noch immer hat er den schaukelnden Gang des Hamburger Matrosen, der er in seiner Jugend war. Aber seiner ganzen Struktur nach ist er ein hartnäckiger, schlauer Funktionär. Dreimal ist er knapp dem Strick entkommen.

Aus der Schreibstube tönt jetzt Gebrüll. Hans, »die Bulldogge«, schlägt in gleichmäßigem Takt mit Tonis Peitsche zu. Der Russe schreit. So geht es Abend für Abend.

Walter kommt herein, dann Kurt. Walter sagt ein paar Worte auf Plattdeutsch zu Emil. Er hat vierzehn Jahre Haft hinter sich, davon sechs in Einzelhaft und acht im Lager; bei Kurt sind es zehn Jahre Lager. Kurt wollte sich schon dreimal umbringen, und jedes Mal kam rechtzeitig ein Brief von seiner Frau. Man hat ihn mit auf dem Rücken gefesselten Händen aufgehängt, stundenlang – die Schultern ausgerenkt, die Muskelfasern zerfetzt, der Körper mit jedem Augenblick schwerer und zugleich immer bewusster, während die Angst ihn überflutet wie ein Rausch. Irgendwo hat er eine Tochter, die inzwischen eine erwachsene Frau ist. Früher leitete er eine örtliche Zelle der KPD. Walter war in der Weimarer Republik ein bekannter Terrorist. Sein grausamer Humor ist aus Verachtung gemacht. Mager und gebeugt, fast bucklig, das Gesicht gezeichnet von einer verborgenen Kränkung, durchmisst Walter, der Kapo von Schacht Marie, stumm und gleichmäßig die leeren, einsamen, grell erleuchteten Stollen: Salzwände auf allen Seiten, nirgends ein Ausweg. Der Spott auf seinen Lippen ist sein Sieg über das verzweifelte Warten. Walter ist zu einer Shakespeare’schen Figur geworden.

Die Stube füllt sich. Otto muss schon bei seiner Geburt grotesk ausgesehen haben. Als erwachsener Mann ist er von einer Hässlichkeit, deren Tragik unwiderstehlich zum Lachen reizt. Sein Gesicht kommt nie zur Ruhe. Ein nervöses Zucken zerrt an seinen Zügen, ein unablässiges Grimassieren. Krumm und schief schleppt er sich dahin, eine hochgewachsene Figur, der eigenen Dummheit überdrüssig. Er betrachtet die Menschen aus riesigen, verblüfften, bettelnden Augen. Fünfhundert Meter unter der Erde, in den dantesken Gängen des Schachts Bartensleben, schlägt er blind auf die Unglücklichen in seinem Kommando ein. Er schlägt unablässig, verzweifelt, aus Angst. Otto, der Vorarbeiter, hat vor allem Angst: vor dem Kapo, den zivilen Meistern, den Posten. Noch in der Nacht, noch im Traum hat er Angst.

Max, der Bäcker, strahlt die Würde eines klassischen Römers aus. Max ist ein Mann der Bibel. Er schreitet einher wie eine Naturgewalt, ist gleichmütig und wortkarg. Eines Abends hat er sich aber lange mit Martin, Lorenz und mir unterhalten. Er sprach sehr würdevoll, mit vielen Pausen und Wiederholungen und mit der bedächtigen Gewissheit des Mannes, der eine Botschaft hat. Mit seinen leblosen Händen wies er auf Hitler, das der Vernichtung geweihte apokalyptische Tier. Der Kapo Max lebt in der Gewissheit der Propheten. Seit zehn Jahren zieht er ruhig durch die Lager; nie ist er auf ein ...

Erscheint lt. Verlag 20.1.2020
Nachwort Jeremy Adler
Übersetzer Volker Weichsel, Olga Radetzkaja
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Auschwitz • Autiobiografie • Bestseller bücher • buch bestseller • Buchenwald • bücher bestseller 2020 • Deutscher Faschismus • Holocaust • Judentum • Judenverfolgung • Judenvernichtung • Konzentrationslager • KZ • KZler • Leben im KZ • Nationalsozialismus • neues Buch • Sachbuch • spiegel bestseller • spiegel bestsellerliste • Spiegel-Bestseller-Liste • Spiegel Bestsellerliste aktuell • ST 5203 • ST5203 • Sterben im KZ • suhrkamp taschenbuch 5203 • Systematische Vernichtung • System der deutschen Konzentrationslager • Tod • Todesmarsch • Unmenschlichkeit • Zeuge
ISBN-10 3-633-76565-4 / 3633765654
ISBN-13 978-3-633-76565-2 / 9783633765652
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