Radikale Hoffnung (eBook)

Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
235 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76644-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Radikale Hoffnung - Jonathan Lear
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Kurz vor seinem Tod erzählte Plenty Coups, der letzte große Häuptling der Crow, seine Geschichte — bis zu einem gewissen Punkt: »Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen.« Diese verstörende Äußerung über ein Volk, das vor dem Ende seiner Lebensweise steht, ist Ausgangspunkt für Jonathan Lears bewegende philosophische Untersuchung. Ihm zufolge wirft die Geschichte von Plenty Coups eine tiefgreifende ethische Frage auf, die uns alle angeht: Wie sollen wir mit der Möglichkeit umgehen, dass unsere eigene Kultur zusammenbrechen könnte, wie mit dieser Verwundbarkeit leben? Ist es sinnvoll, sich einer solchen Herausforderung mutig zu stellen?

Auf Grundlage der Anthropologie und Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner und mittels Philosophie und psychoanalytischer Theorie erforscht Lear die Geschichte der Crow im Angesicht der kulturellen Zerstörung. Sein Buch ist eine tiefschürfende und höchst originelle philosophische Studie über eine eigentümliche Verletzlichkeit, die den Kern der conditio humana betrifft.

Jonathan Lear ist John U. Nef Distinguished Service Professor im Committee on Social Thought und am Department of Philosophy an der University of Chicago sowie Direktor des Neubauer Collegium for Culture and Society. Er wurde u.a. mit dem Andrew W. Mellon Foundation Distinguished Achievement Award ausgezeichnet und ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences.

7Vorwort zur deutschen Ausgabe[1]


In den späten 1980er Jahren besuchte ich im geisteswissenschaftlichen Gebäude der Yale University während der Mittagspause einen Vortrag. Der Historiker William Cronon redete über die Frage, was bei der Geschichtsschreibung über die nordwestliche Prärie der Vereinigten Staaten zu beachten ist. Beiläufig zitierte er dabei eine Äußerung, die Häuptling Plenty Coups vom Stamm der Crow einst über den Umzug seines Volkes in ein Reservat gemacht hatte: »Danach ist nichts mehr geschehen.« Als ich diese Worte hörte, fühlte ich einen Schlag in meiner Magengrube. Zum Ende des Vortrags verließ ich den Raum mit einem Übelkeitsgefühl – doch nachdem es mir wieder besser ging, vergaß ich den Vorfall. Es verging mehr als ein Jahrzehnt; ich war in der Zwischenzeit nach Chicago gezogen. Eines Tages machte ich einen Spaziergang am Lake Michigan und ließ meinen Gedanken freien Lauf, als Plenty Coups' Äußerung mir plötzlich wie aus dem Nichts in den Sinn kam. Ich war überrascht: Zuvor war mir nicht klar gewesen, dass seine Worte mich so ergriffen und in mir Halt gefunden hatten. (Ein Freund vom Stamm der Crow sagte mir später, ich solle nicht davon ausgehen, dass die Worte »in mir« waren.) Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, doch ich wusste nicht, was. Mein erster Weg führte zurück zum 8Campus und in die dortige Buchhandlung, wo ich auf eine Ausgabe von Frank Lindermans Biographie Plenty Coups. Chief of the Crows stieß. Damit begann für mich eine jahrelange Vertiefung in alles, was ich über die Crow (oder Apsáalooke), die Völker der Great Plains und die Geschichte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas finden konnte. Ich begann, Reisen zum Reservat der Crow in Montana zu unternehmen. Dabei wollte ich mich niemandem aufdrängen, doch es war mir ein Anliegen, das Gespräch zu suchen und vor allem jedem Menschen zuzuhören, der gewillt war, mit mir zu reden. Eine Bekannte gewährte mir schließlich einen Sommer lang die Benutzung ihrer Hütte ungefähr 20 Kilometer nördlich des Reservats in den Wolf Mountains. Sie weigerte sich, Geld dafür entgegenzunehmen. Die Straße, die hoch zur Hütte führte, war größtenteils unbefestigt – und meine Frau, mein damals sechs Monate alter Sohn und ich zogen hinauf, um dort zu leben. Die Hütte befand sich auf einem Hügel neben einer Ebene, die zum Aufführen des Sonnentanzes genutzt wurde. Es war ein guter Ort, um Traubenkirschen zu pflücken; häufig kamen Leute vorbei und hielten für ein kurzes Gespräch an. Wir unternahmen Ausflüge in das Land der Crow. Mein Sohn Sam saß auf einem Pferd der Crow, bevor er laufen konnte.

Ich bin kein Historiker und kein Anthropologe, und ich hegte keinerlei Interesse daran, »die Crow zu studieren«. Doch es war mein Eindruck, dass Plenty Coups sein Wort an jeden gerichtet hatte, der bereit war, ihm sein Ohr zu schenken, und durch eine Verkettung von Umständen war ich nun vor die Wahl gestellt: Entweder musste ich etwas erwidern, oder ich musste mich entschließen, nichts zu sagen. Dieser Entscheidung konnte ich nicht entgehen. Je mehr ich darüber nachdachte, umso erstaunlicher schien es mir, dass Plenty Coups – nach allem, was er und sein 9Volk hatten durchmachen müssen – überhaupt willens war, zu sprechen. Warum weigerte er sich nicht, jemals wieder etwas mit uns zu tun zu haben? Der Anfang des vorliegenden Buches (im englischsprachigen Original erstmals erschienen im Jahr 2006) lautet:

Kurz bevor er starb, trat Plenty Coups, der letzte Oberhäuptling des Volks der Crow, über den ›Kampf der Kulturen‹ hinweg an einen weißen Mann heran, um ihm seine Geschichte zu erzählen.[2]

Andere können uns von Plenty Coups' Persönlichkeit berichten. Als Philosoph interessiert mich eine hintergründige Verpflichtung, die sich in Plenty Coups' Bereitschaft offenbart, ein Gespräch zu beginnen. Natürlich können wir den Ausdruck »radikale Hoffnung« auf verschiedene, alltägliche Weisen verstehen: So kann er etwa auf jemanden Anwendung finden, der sich für eine Situation einen Ausgang erhofft, der uns radikal erscheint; oder auf jemanden, der es vermag, sich seine Hoffnung in einer entbehrungsreichen Lage zu erhalten. Diese Formen der Hoffnung sind ihrerseits von unschätzbarer Wichtigkeit. In diesem Buch möchte ich jedoch einen außergewöhnlichen Gebrauch von jenem Ausdruck machen: Ich meine mit radikaler Hoffnung ein Hoffen, das auch im Angesicht einer ontologischen Verletzlichkeit weiterbesteht. Als Plenty Coups mit Linderman sprach, war die traditionelle Lebensweise der Crow/Apsáalooke einige Zeit zuvor der Zerstörung zum Opfer gefallen. Mit ihr waren auch die Begriffe zerstört worden, mit denen sich die Stammesmitglieder bislang ihr Leben verständlich gemacht hatten. So war etwa 10die Tugend des Mutes in ihrer praktischen Bedeutung, wie diese traditionell durch die Crow verstanden worden war, nicht mehr anwendbar. Es war den Stämmen durch die US-Regierung verboten, untereinander Krieg zu führen; ebenso war es untersagt, auf traditionelle Weise zu jagen; und die Leute wurden dazu gezwungen, unter völlig neuen Verhältnissen in einem »Reservat« zu leben. Man konnte auf die Vergangenheit zurückblicken und (theoretisch) verstehen, wie Mut zuvor gelebt worden war, und man konnte Nostalgie für diese vergangenen Zeiten empfinden. Womöglich konnte man gar den Wunsch nach einer Zeit hegen, in der die traditionelle Lebensweise wiedererrichtet würde. In praktischer Hinsicht konnte man sich jedoch keine Vorstellung mehr davon machen, wonach man in seinem Handeln streben sollte – oder wie sich dieses Ziel verwirklichen ließ. Man konnte keinen Gedanken hinsichtlich der Frage fassen, was nun zu tun war. Nach der traditionellen Auffassung davon, was es bedeutet, ein Crow zu sein, oder was es bedeutet, als Crow zu gedeihen, konnten die Crow ihr Leben nun nicht mehr ausrichten. Kulturelle Zerstörung besteht unter anderem in genau dieser Vernichtung einer verständlichen Lebensweise. Ich glaube, dass all das die Hintergrundbedingungen waren, unter denen Plenty Coups sprach, und meine Vermutung ist, dass sie uns dabei helfen, seine Behauptung »Danach ist nichts mehr geschehen« zu verstehen. Radikale Hoffnung in dem außergewöhnlichen Sinne, den ich ausweisen möchte, besteht in der Hoffnung darauf, dass etwas Gutes hervortreten wird, selbst wenn man gegenwärtig noch nicht über die Begriffe verfügt, mittels derer man sich dieses Gute verständlich machen kann. Da wir in einem Zeitalter leben, in dem sich unser Gefühl für unsere eigene Verletzlichkeit verstärkt, und da uns diese Verletzlichkeit als menschlich kennzeichnet, sind die Anliegen dieses Buches 11von allgemeinem philosophischem und ethischem Interesse.

Kurz nach der Erstveröffentlichung von Radikale Hoffnung wurde ich eingeladen, am Little Big Horn College bei der Crow Agency einen Vortrag zu halten. Ich hatte keine Ahnung, wie das Gespräch verlaufen würde. Was dachte sich ein »weißer Mann« auch dabei, über die Crow zu schreiben? Ich verfüge über keine »Expertise«, und das Buch gehört keiner gängigen Buchgattung an. Es ist keine Untersuchung von Tatsachen, sondern ein Versuch in philosophischer Vorstellungskraft. Es ist ein Gedankenexperiment darüber, was Plenty Coups gemeint haben könnte, sofern er Zeuge davon wurde, wie die Ereignisse zu Ende gehen. Ich wollte die Vorstellung ernst nehmen, dass womöglich dereinst nichts mehr geschieht. Und ich wollte Plenty Coups in ein offenes Gespräch mit Denkern versetzen, die mich in meinem Denken gestützt haben: Aristoteles und Platon, Kierkegaard und Heidegger, Freud. Wohin würde dieses Gespräch führen? Ich nahm an, dass das Buch seine Makel haben würde, ich diese aber erst im Laufe der Zeit würde begreifen können, sofern ich mich weiter am Gespräch beteiligte. So reiste ich also wieder ins Reservat – dieses Mal, um einen Vortrag zu halten.

Der Saal war voller Menschen, und unter ihnen waren nicht nur Studierende und Lehrende, sondern Stammesälteste, Würdenträger und eine große Anzahl erwachsener Mitglieder der Gemeinschaft. Etwa eine halbe Minute, nachdem ich meinen Vortrag begonnen hatte, hob ein Stammesältester in der ersten Reihe die Hand. Er fragte: »Wer sind Ihre Leute?« Niemand hatte mir zuvor diese Frage gestellt, und ich hatte mich auch noch...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2020
Übersetzer Jens Pier
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Kultur • Moralphilosophie • Philosophie • Zivilisation
ISBN-10 3-518-76644-9 / 3518766449
ISBN-13 978-3-518-76644-6 / 9783518766446
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