Wilde Kirche -  Jan Frerichs

Wilde Kirche (eBook)

Spiegel-Bestseller
Wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
184 Seiten
Patmos Verlag
978-3-8436-1535-8 (ISBN)
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Die WILDE KIRCHE hat es immer gegeben. Ihre Kathedralen sind Wälder, Berge, Täler, Flussufer, Wüsten und der Ozean. Ihre Gläubigen pflegen seit Urzeiten eine innige Beziehung zur Erde und zu allen Geschöpfen. »Wild« heißt diese Kirche nicht, weil sie ungestüm oder chaotisch wäre. Sondern weil sie draußen ist, ungezähmt, voller ursprünglicher Lebenskraft und unausrottbar. Dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die ihre spirituelle Heimat verloren haben. Die sich im konventionellen Christentum und in der Institution Kirche nicht mehr zu Hause fühlen - und diese Wurzeln dennoch nicht einfach abschneiden wollen. Die sich weder bei Konservativen noch bei Progressiven einordnen, weil es ihnen um mehr als »die Kirche« geht. Weil sie ahnen, dass die spirituelle Obdachlosigkeit, die sie erleben, gar nicht bloß das Problem, sondern ein Teil der Lösung sein könnte.

Jan Frerichs ist Gründer und Leiter der Franziskanischen Lebensschule. Als Theologe begleitet er Menschen in geistlichen Auszeiten und Übergangsriten. Er ist ausgebildet in der Tradition der School of Lost Borders und geprägt von franziskanischer Spiritualität (Richard Rohr: Mens' Rites of Passage). Nach fünf Jahren als Franziskanerbruder gehört er heute dem Dritten Orden der franziskanischen Familie an. Der frühere ZDF-Redakteur lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Bingen am Rhein. www.barfuss-und-wild.de

ERFAHRUNG
Geschichten erzählen –
das Herz der Wilden Kirche schlagen hören


Als ich einige Monate nach meinem 40. Geburtstag mitten in der Toskana auf einem Bio-Bauernhof irgendwo im Nirgendwo mit elf anderen Menschen in einem provisorisch zusammengezimmerten Seminarraum Platz nahm, ahnte ich nicht, wie grundsätzlich die folgenden Tage mein Leben verändern würden. Eine Freundin hatte mir von ihrer Visionssuche erzählt, und ich wusste nur: Das will ich auch. Und so hatte ich mir so eine Visionssuche zum Geburtstag gewünscht. Mit dem Begriff konnte damals niemand in meinem Umfeld etwas anfangen, und schon gar nicht hätte jemand sich so etwas zum Geburtstag gewünscht: Vier Tage und vier Nächte allein, fastend, ohne Dach über dem Kopf in der Wildnis – das wäre den meisten wie eine Strafe vorgekommen. Oder wie eine Art Überlebenstraining.

Eine Visionssuche ist aber kein Überlebenstraining. Und schon gar keine Strafe. Was es aber genau ist, was mich da in die Wildnis lockte, konnte ich auch nicht erklären.

Und so saß ich damals in jenem Kreis und wusste nur: Etwas in mir will da hinausgehen. Es zog mich auf geheimnisvolle Weise in die Natur, obwohl ich überhaupt kein Pfadfindertyp bin und die Dunkelheit bis dahin geflissentlich gemieden hatte.

Ich ahnte jedoch, dass diese Tage und Nächte mir die Möglichkeit geben würden, etwas Ursprüngliches zu berühren. Da war ein inneres Bild: Ich allein draußen in der Natur – und diesem inneren Bild folgte ich.

Auf der Suche nach dem Ursprung


Diesen mächtigen Wunsch, etwas Ursprüngliches (und damit »die Wahrheit«) zu berühren, kannte ich schon. Aus diesem Wunsch heraus war ich nach dem Zivildienst Franziskaner geworden und hatte dann als junger Mann begonnen, Theologie zu studieren. Ich habe allein ein halbes Jahr lang nichts anderes getan, als Hebräisch zu büffeln, um die Texte der Bibel in der Originalsprache lesen zu können. Ich hoffte, auf diese Weise dem Ursprung und damit der Wahrheit näherzukommen. Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, etwas ganz Großem auf der Spur zu sein. Mit diesem Gefühl saß ich in der ersten Hebräisch-Stunde und hing an den Lippen meines Lehrers: »Stellen Sie sich vor, 5000 Jahre vor Christus geht irgendwo im Orient die Sonne auf und jemand sagt jom; das ist Hebräisch und heißt Tag

Ich las mit Begeisterung in der hebräischen Bibel. Mit dem Gefühl, jetzt wirklich das Original zu berühren. Bis ich erfuhr, dass diese hebräische Textfassung nur ein bisschen mehr als 1000 Jahre alt war. Was Menschen vor 5000 Jahren wirklich bewegt hat, wissen wir schlicht nicht, denn wir haben keine schriftlichen Zeugnisse von ihnen. Wir haben nur jüngere Abschriften, wenn überhaupt. Irgendwann wurde mir klar, dass ich auf diesem Weg – von außen – dem Ursprung nicht näherkommen konnte.

Ähnlich und noch schwieriger ist es mit den vorchristlichen Traditionen. Die Kelten zum Beispiel haben gar nichts aufgeschrieben. Keltische Schriftquellen stammen alle aus der christlichen Zeit. Und die Bezeichnungen der keltischen Feste wurden im 19. Jahrhundert (!) festgelegt. Ob und wie die Kelten also »Samhain« oder »Beltane« gefeiert haben, ob sie wirklich einen Baumkalender hatten – all das wissen wir überhaupt nicht aus Originalquellen, sondern können es uns nur erschließen. Ich will damit nicht sagen, dass die Beschäftigung mit der hebräischen Bibel oder mit keltischen oder anderen Traditionen unsinnig wäre. Im Gegenteil. Ich will nur sagen, dass wir von außen nicht zum Ursprung gelangen. Wissen allein hilft uns jedenfalls dabei nicht. Ganz gleich, wie tief wir in die Historie eines Textes oder einer Tradition eintauchen, den Ursprung können wir auf diesem Weg nicht berühren.

So ist mir damals schmerzlich bewusst geworden, dass ich im Grunde trotz allen Studierens ein Zuschauer war. Rückblickend weiß ich, was ich damals als junger Franziskaner eigentlich gesucht habe: eine eigene unmittelbare Erfahrung. Und weil niemand diese Erfahrung durch ein Studium finden kann, braucht es einen anderen Zugang. Das ist wohl auch der Grund, warum ich damals eine Pilgerreise unternehmen wollte von Münster in Westfalen, wo ich studierte, bis nach Jerusalem. Heute würde ich sagen, dass ich dadurch intuitiv den Raum geschaffen habe für eine Initiation, eine Einweihung, nach der meine Seele schon lange gedürstet hatte.

Ich machte mich irgendwann im Sommer 1998 auf den Weg und kam immerhin bis Assisi. Dort endete die Reise aus Gründen, von denen noch die Rede sein wird. Nach dieser Erfahrung verließ ich den Orden. Ich erlernte einen Beruf, gründete eine Familie, und die Suche, die mich hatte aufbrechen lassen, trat in den Hintergrund. Eine einmal begonnene Initiation lässt sich allerdings nicht einfach aufhalten. Der Same liegt im Boden und wartet auf den Zeitpunkt zum Keimen. Irgendwann nahm ich den Faden wieder auf und entdeckte die Visionssuche. Die 16 Jahre zwischen meiner Pilgerreise und meiner Visionssuche, der »Quest«, kommen mir heute vor wie eine Odyssee mit vielen scheinbaren Irrwegen und Sackgassen, die schließlich doch auf wundersame Weise »nach Hause« geführt haben.

Das Herz der Wilden Kirche


Da saß ich nun an jenem Abend in der Toskana. Ich weiß kaum mehr ein Wort von dem, was an jenem ersten Abend und in den folgenden Tagen in diesem Kreis gesprochen wurde. Worte waren nicht das Entscheidende in diesen Tagen. Und das war neu für mich. Sie waren aber auch nicht unwichtig. Und so ist mir die Geschichte einer Teilnehmerin sehr deutlich in Erinnerung geblieben, die sie in diesem Kreis am ersten Abend erzählte. Und sie ist mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil ich kein Wort davon glauben konnte.

Zur Vorbereitung auf ihre Visionssuche hatte die Frau einige Zeit in der Natur verbringen wollen. Dafür war sie in den nahegelegenen Wald aufgebrochen. Sie war allerdings nie dort angekommen, erzählte sie, denn schon an der Landstraße, an einer Bushaltestelle, seien ihr Menschen in weißen Gewändern begegnet. Denen sei sie gefolgt in einen versteckten unterirdischen Raum. Dort brannte ein Feuer und alles war bereitet für ein Ritual, an dem sie spontan teilnahm. Es habe sich alles sehr stimmig angefühlt, obwohl sie mit »so was« eigentlich nichts anfangen könne.

Wie gesagt: Ich konnte kein Wort davon glauben. Das sollte wirklich so passiert sein? Wo gibt’s denn so was? Und überhaupt: Was sollen denn das für Leute gewesen sein? Eine Sekte? Worum ging es denn in diesem Ritual genau? Wieso hatten die Leute nichts dagegen, dass die Frau einfach so dabei war?

An diesem ersten Abend in der Toskana lernte ich eine wichtige Lektion. Und ich spürte den Herzschlag der Wilden Kirche. Dieses Herz hatte schon immer geschlagen und wird auch immer schlagen. Ich hatte es bloß nicht bewusst wahrgenommen und hätte es auch nicht so benennen können.

Ich erwartete natürlich eine Intervention der Ältesten, die die Visionssuche leiteten. Sie würden diese Geschichte sicher in Frage stellen, denn sie klang absolut unglaubwürdig. Das Gegenteil geschah. Statt den Beitrag dieser Teilnehmerin zu kommentieren oder zu diskutieren, nahmen die Ältesten jedes einzelne Wort der Frau offensichtlich sehr ernst. Die Geschichte wurde genauso gespiegelt, wie die Frau sie erzählt hatte. Und noch mehr: Im Spiegel bekam die Geschichte plötzlich einen tieferen Sinn. Und auch wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, worin genau dieser Sinn bestand, so kann ich mich doch sehr deutlich an das Gefühl erinnern, die Frau auf eine tiefe Weise gesehen und verstanden zu haben. Es hatte einen Grund, warum die Frau genau diese Geschichte genau jetzt und genau so erzählte, und dieser Grund war in diesem Kreis berührt, gewürdigt und bezeugt worden. Das Ganze machte Sinn. Jetzt und hier machte das Ganze Sinn.

Heute bin ich selbst Visionssucheleiter und würde eine Geschichte wie die obige im Rahmen einer Visionssuche nicht mehr in Frage stellen. Wenn zum Beispiel eine Person erzählt, dass in der Auszeit ein großer Adler gekommen sei und sich auf ihrer Schulter niedergelassen habe, dann könnte ich natürlich sagen: Hier gibt es überhaupt keine Adler und sie setzen sich uns auch nicht auf die Schulter. Sag mir also, was »wirklich« passiert ist. Aber damit würde ich der Bedeutung dieser Geschichte und dem Menschen, der sie erzählt, nicht näherkommen. Denn selbst wenn der Adler nur in der Fantasie dieser Person erschienen ist – wie in einem Traum –, handelt es sich ja dennoch um eine Erfahrung, die eine Bedeutung haben kann. Also: Was bedeutet es für diese Person, dass der Adler auf ihrer Schulter gelandet ist? Was bedeutet es ganz subjektiv für diese Person, die es erzählt, in dem konkreten Kontext, in dem sie sich gerade jetzt in ihrem Leben bewegt? Was wird durch diese Erfahrung bezeugt oder gestärkt?

Deshalb spielte es damals in jenem Kreis auch keine Rolle, ob das unterirdische Ritual tatsächlich so passiert war. Es war eine Vision. Ein inneres Bild. Und wenn man so will, ist jede persönliche Erfahrung, von der ich erzähle, jede Zuschreibung, die ich mache (ein dunkler Wald, ein friedlicher Wald), eine Er-Innerung im wahrsten Sinne des Wortes, sprich: ein inneres Bild, denn ich betrachte die Wirklichkeit immer subjektiv durch meine persönliche Brille. Dass eine Geschichte sich nicht so zugetragen hat, wie sie erzählt wird, heißt nicht, dass sie nicht trotzdem wahr sein kann.

Vom Zuschauer zum Zeugen


Die Begebenheit in der Toskana war für mich deshalb so bedeutend, weil ich an jenem Abend vom Zuschauer zum Zeugen geworden war. Als...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
ISBN-10 3-8436-1535-7 / 3843615357
ISBN-13 978-3-8436-1535-8 / 9783843615358
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