»... zitternd vor bunter Seligkeit« -  Renate Müller-Buck

»... zitternd vor bunter Seligkeit« (eBook)

Nietzsche in Venedig
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
199 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8651-8 (ISBN)
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Der Philosoph und die Lagunenstadt - die Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck hat sich auf Spurensuche begeben Zwischen 1880 und 1887 verbrachte Friedrich Nietzsche insgesamt fünfmal eine längere Zeit in Venedig. Es war die einzige Stadt, die er liebte, ein »geweihter Ort« für sein Gefühl und als Ort der '100 tiefen Einsamkeiten' ein 'Bild für die Menschen der Zukunft'. Empfangen und umsorgt wurde er dabei von dem Musiker Heinrich Köselitz, dessen Lehrer er an der Universität Basel war. Ausgehend von Nietzsches Briefen sowie von Berichten und Erinnerungen seiner Freunde und Weggefährten vermittelt Renate Müller-Buck ein Bild vom Alltag des Philosophen in Venedig und von der vielfältigen Bedeutung, die die Lagunenstadt in seinem Denken einnimmt. Wir begleiten ihn durch die schattigen Gässchen mit ihrem 'regelmäßigen Trachytsteinpflaster', das er als 'Dreiviertelblinder' besonders liebt und folgen ihm in die Calle nova, wo Köselitz in seinem Zimmer ganze Vormittage für ihn musiziert. Und wir blättern mit ihm in seinen Venedig-Lektüren: Lord Byron, George Sand, Stendhal. Die ausgewiesene Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck wirft einen ebenso kenntnisreichen wie intimen Blick auf den Menschen Nietzsche und bietet gleichzeitig ein besonderes Bild Venedigs im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Renate Müller-Buck studierte Germanistik und Amerikanistik in Tübingen und Berkeley. Von 1980 bis 1985 war sie Lektorin für Deutsche Sprache und Literatur am Germanistischen Seminar der Universität Florenz bei Mazzino Montinari, danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin zur Erstellung der Nachberichtbände zur historisch-kritischen Ausgabe des Nietzsches Briefwechsels von Colli und Montinari. Weiterhin ist sie als Übersetzerin aus dem Italienischen und Französischen tätig, verfasste umfangreiche Rundfunkessays und wirkte 2017 an einer ARTE-Doku über Nietzsche und die Fälschungen seiner Schwester mit.

 

 

 

ERSTES KAPITEL


»Ich möchte Venedig daraufhin ansehn,
ob ich dort längere Zeit leben könnte«


Präludium


 

 

 

Die Tauben von San Marco

 

 

 

Im Wintersemester1878/79 ist Nietzsches Gesundheit auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit zehn Jahren ist er Professor für klassische Philologie in Basel und gerade erst vierunddreißig Jahre alt. Selbst sein engster Freund und Vertrauter, der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, befürchtet, er könne nicht einmal die zweite Hälfte des Semesters überstehen. Auf alle Fälle möchte Overbeck Vorsorge treffen für die anschließenden Osterferien, und so erkundigt er sich bei Heinrich Köselitz, dem zehn Jahre jüngeren Schüler Nietzsches, der inzwischen als Musiker in Venedig lebt, ob es möglich wäre, dass der kranke Freund die Ferien bei ihm in der Lagunenstadt verbringe: »Gerne wäre er mit Ihnen dort zusammen, und wir erführen daher ebenfalls gern durch Sie, was Sie uns etwa Genaueres über die Einwirkung der Luft zu besagter Jahreszeit mitzutheilen wüssten«,[1] schreibt Overbeck, da Nietzsche zu diesem Zeitpunkt kaum in der Lage ist, selbst Briefe zu schreiben. Seine fast väterliche Fürsorge hat etwas Rührendes. Die Antwort aus Venedig lässt allerdings auf sich warten. Erst sechs Wochen später berichtet Köselitz, die Lagunenstadt gelte als »klimatischer Cur-Ort« neben Nizza. Dabei beruft er sich nicht wie üblich auf den Baedeker als Reiseführer, sondern auf seinen Basler Kollegen, den Kunsthistoriker, Mediziner und Reiseschriftsteller Theodor Gsell-Fels, welcher von 1870 bis 1880 an der Universität Basel italienische Kunstgeschichte gelehrt hat und Mitglied des großen Rats gewesen ist: »Der Dr. med. Gsellfels sagt: das Klima sei nicht gut für Erschlaffte, Skrophulöse und Chloritische.«[2]

Er selbst, betont Köselitz jedoch, habe sich in Venedig jederzeit wohler gefühlt als »in Basel und Florenz; der venezianische Sommer ist milder und bei weitem angenehmer als z. B. der baseler; bekanntlich sind an den Küsten die Jahreszeiten temperirter, als im Binnenland, der Sommer weniger heiss, der Winter weniger kalt. Den ganzen Sommer über habe ich in Venedig jede helle Nacht unter freiem Himmel geschlafen, was ich in keiner anderen Stadt hätte wagen dürfen. Im Mai beginnen nämlich die Zanzaren [die Stechmücken] zu kommen«, doch dann begebe er sich einfach auf die Altane über dem Dach seines Hauses, wo es den Zanzaren zu zugig sei. Er liebe Venedig außerordentlich, »nicht nur weil es so eindringlich auf die Stimmung wirkt«, sondern auch, weil es ganz »ohne Staub und ohne Wagengerassel« ist und dadurch »dem Ideal einer Stadt schon um vieles näher rückt«. Außerdem seien »die Menschen dort von einer ungemein wohlthuenden Naivetät, von anderem Erfreulichen ganz zu schweigen.« Jacob Burckhardt habe ihm noch eingeschärft, sich »in Venedig vor der Zugluft in Acht zu nehmen«, Nietzsche solle auf alle Fälle seinen »Sommerüberzieher« mitnehmen, denn des »Aufhörens der wirklichen Winterkälte« dürfe man sich erst Ende März gewiss sein. Natürlich würde es ihn unaussprechlich freuen und ehren, wenn Herr Prof. Nietzsche ihn in Venedig aufsuchen wollte.[3] Seiner Braut Cäcilie Gussenbauer berichtet Köselitz umgehend, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihn die Ankündigung von Nietzsches Osterbesuch freue.[4]

Köselitz, der Nietzsche als eine Art Eckermann bereits in Basel als Vorleser und Sekretär gedient und fast alle Druckmanuskripte für ihn erstellt hatte, ist auch in Venedig, wo er sich 1878 dauerhaft als Musiker niedergelassen hat, weiterhin mit Nietzsches Manuskripten beschäftigt. Mitte März 1879 erschienen die Vermischten Meinungen und Sprüche als Anhang zu Menschliches, Allzumenschliches, und auch hier hatte Köselitz bei der Korrektur geholfen. Als Ende Februar die mühsame Korrekturarbeit zu Ende ist, schreibt Nietzsche: »Nun, lieber guter hülfreicher Freund, bleibt Ihnen nur noch übrig, an mir selber die Correctur zu machen – in Venedig! Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren. ›Ob ich reisen kann?‹ Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde? … Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter. Ich will nichts sehen als zufällig. – Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein.«[5]

 

Heinrich Köselitz alias Peter Gast (1854-1918)

 

Was heute eher seltsam anmutet, war damals ganz selbstverständlich. Venedig gehörte zwar schon seit 1866 zu Italien, aber auf dem Markusplatz spielte sonntags immer noch eine österreichische Militärkapelle. Außerdem wollte Nietzsche »alle Festtage … die Messe in S. Marco« hören, die öffentlichen Gärten »in aller Stille ablustwandeln. Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. – Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). … Wüßten Sie nur, wie gut und dankbar ich immer von Ihnen denke und spreche! Und was ich alles von Ihnen erhoffe! Jetzt seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt: aber mich quält’s zu denken, daß ich Ihnen wieder viel Mühe mache. Aber so wenig wie möglich Zeit will ich Ihnen nehmen, das verspreche ich. – Ich wünsche sehr, reisen zu können, aber glaube noch nicht daran. – Wohnung für 4 Wochen (c. 30-40 frs.) Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte (auch sehr billig –), wenn ich doch mein Basler Amt aufgeben müßte. Ich benutze Ihre Fußtapfen.«[6]

Noch zweifelt Nietzsche daran, die weite Reise in seinem derzeitigen Zustand überhaupt bewältigen zu können, er lebe an einem Abgrund, alles sei eine einzige Tortur: »Dreiviertel Schmerz und ein Viertel Erschöpfung«.[7] Ihn plagen wütende Kopfschmerzen, er ist fast blind, »der Magen immer zerstört«,[8] und im Hintergrund beständig die Frage, ob er die nächsten Monate überleben werde: »Für mich ist Venedig noch immer keine ausgemachte Sache. … Trotzdem: es ist wahrscheinlich dass ich komme.«[9] Köselitz verspricht eine Wohnung nach seinem Wunsch. »An der Riva de’ Schiavoni, die freilich die prächtigsten Aussichten bietet, ist wegen des lauten Treibens Nichts zu holen. Ich denke aber an die Paläste Malpier-Trevisan und Grimani bei der Kirche Santa Maria Formosa, oder Häuser in der Nähe – sehr ruhig und venezianisch schön gelegen. Oder Palazzo Zorzi und Nähe. Ich habe die Absicht mich an den Fondamenta nuove anzusiedeln, weiss aber noch nicht wie mir’s gelingen wird.«[10] Das war keine schlechte Wahl. Die Palazzi, die Köselitz ins Auge gefasst hatte, waren allesamt prächtige, stattliche Bauwerke, im Sestiere Castello, rund um den Campo Santa Maria Formosa gelegen, einen der größten Plätze der Stadt. In dem Palazzo Malipiero-Trevisan führte die Fürstin Hatzfeld einen berühmten literarischen Salon, in dem Richard Wagner und Franz Liszt regelmäßig verkehrten.

Direkt an dem herrlichen Campo Santa Maria Formosa befindet sich auch eine bedeutende Bibliothek, von der Köselitz in einem späteren Brief berichtet: »In Venedig habe ich eine Lesegesellschaft mit Bibliothek, in welcher unter anderem Schopenhauers und Wagners Schriften auch zu finden sind! im Stil der Baseler entdeckt; dort sind deutsche, englische, französische und italienische Journale und periodische Schriften; sie heißt Fondazione Stampali-Querini, ist eine reiche Stiftung eines Patriziers, der Eintritt ist ganz frei, man hat nur seine Karte abzugeben.«[11] Die Fondazione Querini-Stampalia direkt hinter der Kirche Santa Maria Formosa wurde von Conte Giovanni Querini Stampalia gegründet, der in seinem Testament von 1868 seine private Büchersammlung samt Bibliothek der Stadt Venedig vermacht hat und dabei verfügte, dass diese auch dann geöffnet sei, wenn andere Einrichtungen bereits geschlossen sind. Die Bibliothek ist bis heute, auch an allen Sonn- und Feiertagen, täglich bis 23 Uhr geöffnet. Selbstverständlich verwies Köselitz auch auf die Biblioteca Marciana: »Eine gute, auch mit vielen deutschen Werken versehene Bibliothek ist im Dogenpalast; verliehen wird aber Nichts, sondern man erhält die Bücher nur im Lesesaal.«[12] Die Biblioteca Marciana war zwischen 1812 und 1904 tatsächlich im Dogenpalast untergebracht und nicht in der 1553 von Sansovino eigens dafür errichteten Libreria vecchia auf der gegenüberliegenden Seite der Piazzetta, die damals für andere Zwecke genutzt wurde. Heute ist die Bibliothek wieder an ihrem angestammten Sitz, sogar um ein zusätzliches Gebäude erweitert, die Zecca, das angrenzende, ebenfalls von Sansovino erbaute Münzgebäude, mit Blick auf das Bacino di San Marco.

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Erscheint lt. Verlag 2.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-8353-8651-4 / 3835386514
ISBN-13 978-3-8353-8651-8 / 9783835386518
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