Der Sommer, in dem einfach alles passiert ist -  Iben Akerlie

Der Sommer, in dem einfach alles passiert ist (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-347-5 (ISBN)
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Nora ist überhaupt nicht begeistert: Sie muss den Sommer bei ihrer Oma auf dem Land verbringen, obwohl sie sie kaum kennt. Doch dann lernt sie Abbas kennen, den Jungen mit den allergrünsten Augen, der ihren Magen kribbeln lässt wie Brausepulver. Aber warum hat Abbas Angst vor Dorrit aus dem Café? Warum gibt es Regeln, die für Abbas gelten, aber nicht für Nora? Und welches Geheimnis haben Noras Oma und Abbas' Vater? In diesen Ferien passiert einfach alles, und es wird der beste Sommer überhaupt! Eine warmherzige Erzählung über die erste Liebe und darüber, dass die Welt manchmal komplizierter ist, als gedacht.

Iben Akerlie, geboren 1988 in Oslo, hat Sozialpädagogik studiert und arbeitet als Schauspielerin und Schriftstellerin.

Iben Akerlie, geboren 1988 in Oslo, hat Sozialpädagogik studiert und arbeitet als Schauspielerin und Schriftstellerin.

3


Ich werde von Geräuschen aus der Küche geweckt. Die anderen frühstücken. Irgendwann kommt jemand die Treppe hoch, kurz darauf klopft es an der Tür.

»Nora?«

Es ist Mama. Ich antworte nicht. Die Tür ist abgeschlossen, aber Mama drückt die Klinke gar nicht erst runter. Stattdessen höre ich, wie etwas unter der Tür durchgeschoben wird, und als ich mich im Bett aufrichte, um genauer hinzuschauen, liegt dort ein kleiner Briefumschlag.

Ich bleibe im Bett und höre, wie Mama wieder nach unten geht.

Als sich die anderen zur Abfahrt bereit machen, stelle ich mich hinter den Vorhang am Fenster und schaue ihnen zu. Sie stehen mitten auf dem Hof. Truls umarmt Oma, bevor Mama es auch versucht, aber es wirkt etwas komisch, weil Oma sie auf der gleichen Seite umarmen will. Dann wechseln sie gleichzeitig zur anderen Seite, und die Situation wird noch komischer.

Plötzlich schaut Mama direkt hoch zu dem Fenster, an dem ich stehe. Ich lasse den Vorhang los und mache ein paar Schritte zurück, zähle bis fünf, bevor ich wieder hinausschaue. Jetzt sitzt Mama schon im Auto. Truls steigt auf der Fahrerseite ein, setzt zurück und wendet, dann gibt er Gas, und meine vermeintliche Familie fährt auf der Straße davon und verschwindet bald hinter hohen Fichten.

Noch nie haben wir uns nicht voneinander verabschiedet. Noch nie uns nicht in den Arm genommen, wenn wir uns getrennt haben. Immer haben wir gesagt, dass wir uns lieb haben und uns gegenseitig vermissen werden. Und jetzt fährt Mama, ohne zu winken, zurück in die Stadt.

Erst in diesem Moment hebe ich den Umschlag auf und drehe ihn um. Es steht nichts darauf, und er ist auch nicht zugeklebt. Ich linse hinein und sehe einen zusammengefalteten Brief mit vielen Worten, die ich jetzt nicht lesen will. Ich gehe zum Nachttisch und lege den Umschlag unter ein dickes Buch, das dort herumliegt.

Dann gehe ich nach unten. Die Tür steht sperrangelweit offen und führt hinaus in den hellen Morgen. Drinnen ist es angenehm kühl, aber ich kann spüren, dass es ein heißer Tag wird.

Auf dem runden Küchentisch steht noch das Frühstück. Es ist für vier Leute gedeckt, und ein Teller ist nach wie vor unberührt. Ich habe einen Riesenhunger und greife gierig zu, hoffe, dass Oma nicht hereinkommt. Ich fühle mich wie Goldlöckchen, die im Haus der Bären von deren Essen isst und in deren Betten liegt. So als wäre ich hier eigentlich nicht willkommen.

 

Als ich nach dem Frühstück in den Garten gehe, habe ich Oma noch nicht gesehen. Nur Misse, ihre Katze, sitzt auf dem Hof und starrt mich an. Ich starre zurück. Schließlich dreht mir die Katze den Rücken zu und geht zu dem weißen Häuschen. Ich folge ihr.

Die Katze macht es sich auf der Treppe bequem, und ich drücke die Türklinke herunter. Die Tür ist nicht verschlossen. Ich komme in einen kleinen Flur, der das Haus in zwei Teile teilt. Es riecht muffig. Auf jeder Seite gibt es eine Tür. Zuerst schaue ich durch die Tür auf der rechten Seite in ein kleines Bad. Die linke Tür führt in ein Schlafzimmer. Kein typisches Schlafzimmer vielleicht, aber mittendrin steht zumindest ein Bett. Um das Bett herum stapeln sich Bücher, Ordner und Zeitungen. Lose Blätter und Notizbücher liegen überall verstreut. In einem Regal an der Wand stehen noch mehr Bücher und Ordner. An der Wand zum Gang hängen drei Masken, die afrikanisch aussehen oder auch südamerikanisch. Ich bin mir nicht sicher, aber ich weiß ja, dass Oma viel gereist ist und sicherlich an beiden Orten war.

Das Bett ist gemacht. Als ich auf die Decke schlage, steigt eine Staubwolke auf. Ich öffne das Fenster und entdecke Oma. Sie steht mitten auf dem Hof und schaut zu mir rüber.

»Wohnt hier jemand?«, rufe ich ihr zu.

Oma murmelt etwas und schüttelt den Kopf, bevor sie sich umdreht und in das rote Haus geht.

Ich setze mich auf das Bett und teste die Matratze, genau wie Goldlöckchen es getan hat. Ich ziehe einen Ordner aus dem Regal und schlage eine zufällige Seite auf. Ein Zeitungsartikel. Das Papier ist vergilbt und die Schrift ziemlich altmodisch. Die Überschrift lautet: »Taliban rücken erneut nach Kabul vor«.

Unter der Überschrift steht, wer den Artikel verfasst hat: »Wendy Andersson, Nahost-Korrespondentin«.

Das ist Oma. Der Artikel ist alt, von 1996. Das ist weit vor meiner Geburt, damals war Mama vielleicht so alt wie ich jetzt.

Ich blättere weiter. Noch ein Zeitungsartikel: »… Wendy Andersson berichtet aus dem kriegsgebeutelten Afghanistan. Zwischen den Häusern Kabuls laufen Straßenhunde frei herum … der Lärm der Maschinengewehre und Panzer ist verstummt, und nachdem sich der Staub gelegt hat, werden die Zerstörungen sichtbar …«

Unter dem Artikel ist ein Foto von einem völlig überladenen Auto mit Männern, die Gewehre in den Händen halten, und ein weiteres Foto von einem Mann, der zwei Kinder an sich drückt, als wollte er sie beschützen.

Ich klappe den Ordner zu und lege ihn auf den Boden, dann ziehe ich einen neuen Ordner heraus. Auch er ist gefüllt mit alten Zeitungsartikeln, größtenteils über den Krieg. Ich überfliege sie, bevor ich den nächsten Ordner herausziehe, der voller alter Flugtickets und Quittungen ist, auf denen die Zahlen fast nicht mehr zu erkennen sind. Es stehen auch mehrere Notizbücher da, aber die Schrift ist so schwer zu entziffern, dass ich aufgebe.

Ganz am Ende des Regals steht ein kleinerer Ordner, und als ich ihn aufklappe, bin ich verwirrt. Zuerst glaube ich, ein Foto von mir selbst zu sehen. Aber dann geht mir auf, dass es Oma ist. Sie sieht jünger aus. Sie trägt ihre Haare offen, die Brillengläser sind viereckig. Die Farben sind verblasst, aber … ihre Haare sind rot, nicht grau. Ich bin bisher nie auf den Gedanken gekommen, dass Omas Haare je eine andere Farbe hatten als grau. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, dass sie einmal rot waren, wie meine.

Meine Haare sind feuerrot, als würde mein Kopf dauerbrennen. Darum vertrage ich auch fast keine Sonne, weil meine Haut so hell ist. Einmal habe ich im März einen Sonnenbrand bekommen. Und im Sommer kriege ich am ganzen Körper tausend Sommersprossen. Auch wenn ich meine Sommersprossen nicht mag, liebe ich die Sonne, darum bin ich manchmal leichtsinnig und lege mich in die Sonne, dann soll sie gern brennen, soviel sie will.

 

Ich schaue mich im Zimmer um, es wirkt alles gemütlicher als in dem roten Haus. Hier kann ich allein sein. Aber mir ist auch klar, dass ich erst einmal aufräumen muss, wenn ich hier wohnen will. Zuerst schiebe ich die Bücherstapel an die Wand und räume die Ordner und die herumliegenden Papierstapel ins Regal. Danach fege ich den Boden mit einem alten Besen, den ich ihm Flur finde, und wische die Oberflächen mit einem Lappen sauber. Das Aufräumen hilft mir, nicht an Mama zu denken und daran, wie wütend ich auf sie bin.

Nach einer Weile merke ich, dass ich großen Hunger habe. Essen ist das Problem. Ohne Essen kann ich nicht überleben, und ich kann es mir nicht selbst beschaffen. Ich bin gezwungen, mit Oma zu essen oder zumindest von ihren Vorräten zu essen. Vielleicht sollte ich auch ein bisschen mit ihr reden.

Als ich die Küche im roten Haus betrete, ist der Tisch zum Mittagessen gedeckt, und Oma sitzt da, ohne etwas angerührt zu haben, obwohl sie garantiert schon länger wartet. Sie schaut von der Zeitung auf.

»Willst du lieber draußen essen?«, fragt sie.

Ich nicke, und wir machen uns daran, alles von der Küche auf die Terrasse zu tragen. Leberpastete und Gewürzgurken, die ich liebe, und Kaviar und Eier, die ich hasse. Ein großer Sonnenschirm wirft Schatten auf Tisch und Stühle, und als ich mich setze, versinke ich in dem weichen Polster. Vom Aufräumen bin ich ganz müde geworden. Oma stellt ein Glas Saft vor mich hin. Ich nehme es in die Hand und trinke es in einem einzigen Zug leer.

»Du ziehst also in das weiße Haus?«, fragt Oma.

»Ja«, antworte ich.

Dann ist es eine Weile still, bevor Oma sagt:

»Du hast dich heute Morgen gar nicht verabschiedet.«

Ich sage nichts.

Oma kann sehr direkt sein. Einmal, als wir in der Stadt in einem Café waren, ist sie einfach so zu einem Mann hingegangen, der ganz laut telefoniert hat, und hat ihn gebeten, leiser zu sprechen. Obwohl es bestimmt richtig war und sich viele Gäste darüber gefreut haben, war es mir total peinlich. Ein andermal hat sie einen Jugendlichen, der sich an der Schlange im Museum vordrängeln wollte, zurückgepfiffen. Auch das war peinlich. Mama hat sich aufgeregt, weil sie findet, dass Oma sich für etwas Besseres hält. Dass es nicht Omas Aufgabe ist, anderen Vorschriften zu machen.

Oma mustert mich von der gegenüberliegenden Tischseite.

»Ich glaube, mit Kindern kann ich nicht so gut«, sagt sie.

»Was?«, frage ich zurück.

Oma klappt die Zeitung zu.

»Deine Mutter findet auch«, fährt sie fort, »dass ich nicht so gut mit Kindern kann.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Ich bin kein Kind«, sage ich versuchshalber.

»Haha«, lacht Oma.

Habe ich was Witziges gesagt?

»Gut, okay«, sagt sie, »einverstanden.«

Es wird wieder still. Ich nehme einen viel zu großen Bissen Brot in den Mund.

»Was bist du denn dann?«, fragt Oma.

Ich kaue. Schlucke.

»Weiß nicht«, antworte ich, »eine Art … Zwischenmensch vielleicht?«

Oma lächelt. Ich verstehe immer noch nicht, was an dem, was ich sage, so lustig ist.

»Und was machen Zwischenmenschen im Sommer?«, fragt Oma.

Ich zucke mit den Schultern.

»Angeln?«, schlägt sie vor. »Baden? Auf Entdeckungstour gehen?«

Ich...

Erscheint lt. Verlag 5.4.2024
Illustrationen Laura Rosendorfer
Übersetzer Ina Kronenberger
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte ab 10 • Afghanistan • Diskriminierung • Erste Liebe • Familie • Flüchtlinge • Freundschaft • Geflüchtete • Geheimnis • Großmutter • Kinderbuch • mutig sein • Norwegen • Oma • Rassismus • Skandinavien • Sommer • Sommerbuch • Sommerferien
ISBN-10 3-96052-347-5 / 3960523475
ISBN-13 978-3-96052-347-5 / 9783960523475
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