Hans Grünauer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
320 Seiten
Limmat Verlag
978-3-03855-280-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hans Grünauer -  Jakob Senn
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In seinem autobiografischen Roman schildert Jakob Senn mit umwerfendem Charme das Heranwachsen des Hans Grünauer, eines Bauernsohns, der früh an den Webstuhl gesetzt wird, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Seine Leidenschaft aber gilt den Textgeweben: Süchtig liest er jedes gedruckte Wort, das er auftreiben kann, und bald beginnt er, selbst zu schreiben, mangels Papier auf jede erdenkliche Unterlage, von der Hemdmanschette bis zum Webstuhlrahmen.

Jakob Senn (1824-1879), geboren in Fischenthal, Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Primarschule Arbeit auf dem väterlichen Hof. Erste literarische Versuche mit zwanzig Jahren, Bekanntschaft mit dem Volksschriftsteller Jakob Stutz. 1856 angestellt in einem Zürcher Antiquariat, ab 1862 freier Schriftsteller, 1864 Heirat und Übersiedlung nach St.Gallen. 1867 Ausreise nach Südamerika, Rückkehr 1878, 1879 Freitod im Zürichsee.

Jakob Senn (1824-1879), geboren in Fischenthal, Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Primarschule Arbeit auf dem väterlichen Hof. Erste literarische Versuche mit zwanzig Jahren, Bekanntschaft mit dem Volksschriftsteller Jakob Stutz. 1856 angestellt in einem Zürcher Antiquariat, ab 1862 freier Schriftsteller, 1864 Heirat und Übersiedlung nach St.Gallen. 1867 Ausreise nach Südamerika, Rückkehr 1878, 1879 Freitod im Zürichsee.

1


Mein Vater war das jüngste von dreizehn Kindern, darum wurde er nicht bloß von seinen Geschwistern, sondern auch von der ganzen Nachbarschaft zeitlebens der «Kleine» genannt, obgleich er körperlich größer war als alle seine Geschwister. Ein achtzehn Jahre älterer Bruder wohnte im Nebenhause, welches seit unvordenklichen Zeiten das eigentliche Stammhaus unserer Familie gewesen war. Früher, bei Lebzeiten der Großeltern, war das Haus meines Vaters an eine Familie vermietet gewesen, von welcher man allgemein wusste, dass sie mehr verstehe als Brot zu essen. Dieselbe bestand aus Vater, Mutter und vier Töchtern, letztere von wunderbarer Schönheit, von denen jedoch, ungeachtet ihrer körperlichen Vorzüge, nur die jüngste zur Heirat gelangte, da die übrigen gleich der Mutter «Hexen» waren und durch diese Berühmtheit der männlichen Bevölkerung allzugroßen Respekt einflößten.

Der älteste Bruder meines Vaters, der, gleich mir, Hans hieß, war ein leidenschaftlicher Liebhaber vom Frakturschreiben und füllte mit dieser Schrift eine unglaubliche Menge von teilweise dicken Heften aus; Nachtmahlbüchlein und kleine Katechismen schrieb er zu vielen Hunderten, alle aufs sauberste, jede Seite mit einer großen farbigen Initiale verziert. Das hatte er ohne eigentlichen Schulbesuch erlernt, und da seine tägliche Beschäftigung in landwirtschaftlichen Arbeiten bestand und er bloß achtundzwanzig Jahre alt wurde, so scheint es geradezu unbegreiflich, wie es ihm möglich war, so viel Papier mit Frakturschrift zu bedecken.

Hans schrieb denn auch die Nachtmahlbüchlein für die schönen Hexlein, und er konnte dem Zauber eines derselben nicht widerstehen und verliebte sich in es, es hieß Margritli. Die Eltern Hansens waren aber besonders hart gegen diese Liebschaft und verboten dem Liebhaber bei Seel und Seligkeit das Betreten der Hexenwohnung, sowie überhaupt allen Verkehr mit der Hexenfamilie. Mein Vater war damals sechs oder sieben Jahre alt und wurde von Hans als geheimer Liebeskurier verwendet, wofür ihm Margritli manch schneeweißes Stücklein Brot bescherte mit einem so süßen Stoffe darauf, dass der Empfänger lebenslang glaubte, selbes sei keine natürliche, sondern eine zauberhafte Süßigkeit gewesen. Aber Hans kriegte den Lohn für seinen Ungehorsam, er bekam die Schwindsucht und starb daran, die Feder in der Hand, mitten in einem Nachtmahlbüchlein und mitten im Worte zu schreiben aufhörend. In Hansens Sterbestunde war mein Vater bei Margritli, er hatte ihr das letzte Brieflein gebracht, sie wusste, dass es das letzte war, und durfte doch nicht zu Hans, durfte nicht selber ihm die lieben, treuen Augen zudrücken. Ihr verzweifeltes Gebaren machte auf meinen Vater einen unauslöschlichen Eindruck. Sie presste ihn auf ihren Schoß, drückte sein Köpflein an ihren Busen, wickelte die langen braunen Zöpfe ihres Hauptes um die Hand und raufte, als wollte sie diesen Schmuck für immer herunter reißen. Als der Junge darauf seiner Mutter erzählte, wie Margritli getan, da sagte sie: «Die hat wohl Ursache dazu! Der Hans ist ihr jetzt entkommen und einen andern wird sie wohl nicht wieder bekommen.» Der Grund, warum die Hexen nach Männern höchst begierig waren, war nach ihr der, dass sie nur dann dereinst selig sterben konnten, wenn sie im Ehestand Mutter geworden waren und wenn möglich ihren letzten Atemzug in des Mannes Mund aushauchen konnten.

Diese Hexenfamilie wohnte einundvierzig Jahre lang in besagtem Hause, wobei sie ein großes Stück Ackerfeld benutzte und jährlich achtzig Mannslasten aus den Waldungen bezog, alles für den Jahreszins von dreizehn Gulden. Mein Großvater hatte wohl auch nach und nach gefunden, diese Jahresrente sei etwas zu niedrig angesetzt, aber nie hatte er es gewagt, den zauberfähigen Mietsleuten gegenüber aufzuschlagen oder aufzukünden. Endlich war das Hexenelternpaar gestorben und es waren nur noch die drei älteren Töchter beisammen. Mit diesen glaubte es ein junger, starker Nachbar aufnehmen zu dürfen, nachdem ihm meines Vaters Bruder die Wohnung für ein Jahr zinsfrei zugesagt, falls er es wage, das Weibergeschmeiß hinauszutreiben. Der Nachbar säuberte richtig das Haus, aber die älteste Hexenjungfrau, welche er gewaltsam hinausstieß, sagte ihm lächelnd vor der Türe: «Kaspar, es kann dir im weiten Haus noch zu eng werden!» Und Tatsache ist, dass dieser Kaspar einige Jahre später an Engbrüstigkeit starb.

Noch vor diesen Vorgängen waren meine Großeltern gestorben und des Vaters sämtliche noch lebende Schwestern in den Ehestand getreten. Die Brüder schritten zur Teilung der Liegenschaften. Die Grundstücke lagen zerstreut nach vielen Seiten; statt nun aber dieselben als ganze Stücke dem einen oder andern zuzuweisen, wurde jedes, auch das kleinste Stück in zwei Teile geteilt. Dabei ging man folgendermaßen zu Werke: In das zu teilende Stück wurden durch einen herbeigezogenen Vertrauensmann Merkzeichen gesteckt, der eine Teil mit Eins, der andere mit Zwei bezeichnet. Dann nahm jeder der Brüder zwei Steinchen in die Hände und wies auf die Frage des Vertrauensmannes, welchen Teil er vorziehe, ein oder zwei Steinchen vor. Fiel die Wahl beider auf den gleichen Teil, so mussten die Zeichen («Ziele») so lange verändert werden, bis die Wahl entschieden hatte. Das nannte man «runen». Nun hatte sich mein Vater von Anfang geäußert, er wünsche für seinen Teil das Stammhaus, weil er nicht in das von den Hexen bewohnt gewesene einziehen möchte. Das merkte sich der ältere Bruder und wusste es so zu richten, dass je die schönere Hälfte der Grundstücke der verhassten Wohnung zugeteilt wurde, vor welcher er selber geringeres Grauen empfand. Als nun die Teilung in dieser Weise bereits sehr günstig arrangiert war, verlor der Vater plötzlich die Vorliebe für das Stammhaus und wählte die verrufene Hexenwohnung samt den dazu gehörenden Grundstücken. Solcherweise hatte sich der ältere Bruder, der den Jüngeren übervorteilen gewollt, selbst betrogen und blieb darob zeitlebens verstimmt.

In seinem vierundzwanzigsten Jahre heiratete mein Vater ein Mädchen aus dem Schulkreise Nideltobel. Dieser Ehe entsprossen innerhalb zehn Jahren fünf Kinder, von welchen ich das mittlere war. Das jüngste starb bald nach der Geburt, das älteste, ein Mädchen, Betheli, starb in seinem dreizehnten Jahre an Blutarmut. Einen Tag vor seinem Tode flocht es meine ersten langgewachsenen Haare in Zöpfe, welche alsdann von der Mutter abgeschnitten und zum Andenken an die Verstorbene aufbewahrt wurden, sodass sie noch heute in meinem Schreibtische liegen. Meine beiden andern Geschwister waren Brüder, von welchen der ältere Kaspar, der jüngere Jakob genannt wurde.

Der um vier Jahre ältere Kaspar besuchte die tägliche Schule, wovon ich oft hörte, äußerst begierig, zu erfahren, was die Schule für ein Ding sei. Ich durfte denn auch einmal nach langem Bitten mit Kaspar hingehen. Das Schulhaus stand drüben in Frühblumen und der Weg dahin führte über die Tosa, deren Ufer nur durch zwei auf einer Seite flach behauene Tannenbäume verbunden waren, deren dünne Enden in der Mitte des Flussbettes zusammenreichten und dort lose auf einem erhöhten Steine lagen, während durch die Wurzelenden je ein Pfahl in den Wuhrboden getrieben war. Wenn dann die Tosa stark anschwoll, so wurden die beiden Bäume vom Steine weggespült und blieben längs den Wuhrseiten hängen, bis das Wasser sich soweit gesetzt hatte, dass sie wieder auf den Stein gehoben werden konnten. Über diesen Steg führte der Weg in die Schule. Dieselbe fand ich schon beim ersten Besuche so sehr nach meinem Geschmacke, dass ich, als Kaspar folgenden Tages meine Begleitung verbat, so lange bei der Mutter anhielt, bis sie mir erlaubte allein hinzugehen, mir die gestrichelte Zipfelkappe aufsetzte und auch auf dringendes Verlangen einen «Lobwasser» herunterreichte, damit ich, ein Buch unterm Arme, einem Schüler ähnlich sehe. So zog ich meines Weges und gelangte auf den Steg, gaffte in das fließende Wasser, meinte, der Steg fließe mit, trat ihm nach und patsch spritzte es auf, ich schwamm in tiefster Strömung. Ein unfern dem andern Ufer stehender Schlossergeselle bemerkte mein Unglück und holte mich schon Bewusstlosen heraus. «Lobwasser» und Zipfelkappe waren dahin, keineswegs aber die Lust am Schulbesuch, so dass ich noch dreimal, bevor derselbe für mich obligatorisch wurde, bei gleicher Veranlassung in die Tosa stürzte.

In diese Zeit fällt das Sterben eines meiner Altersgenossen, das mir seiner besondern Umstände wegen unvergesslich geblieben ist. Er war das einzige Kind eines jenseits der Tosa wohnenden bemittelten Bauers. Diesem Hause durfte ich eines Sonntagnachmittags in Begleitung meiner Eltern einen Besuch machen. Dasselbe befand sich etwas außerhalb der...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2016
Nachwort Matthias Peter
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Bildungsroman • Kindheit • Literatur • Oberland • Otto • Schweiz • Sutermeister • Volksschriftsteller • Zürcher
ISBN-10 3-03855-280-1 / 3038552801
ISBN-13 978-3-03855-280-2 / 9783038552802
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