G.L.A.S

'Was ist das?', erkundigte sich ein Mann. 'Gehört das zur Führung?''Sicher nicht', sagte Evelyn ratlos. 'Ganz sicher nicht.'Unterhalb der Felsen formte sich eine zunächst unscheinbare Quelle rötlichen Lichts, die innerhalb weniger Augenblicke immer größer wurde. Aufgeregt diskutierten die Wanderer, welch merkwürdiges Schauspiel das wohl sein könnte. Hatte es mit der aufgehenden Sonne zu tun? Waren es Lichtspiegelungen?'Das glaube ich nicht', entgegnete Gruber, der seine Kamera fest auf das seltsame Phänomen gerichtet hielt, das immer größere Ausmaße annahm. Langsam breitete sich das Leuchten aus und bahnte sich seinen Weg unaufhaltsam in Richtung des Gipfels, indem es den Berg mehr und mehr mit einem undurchdringlich glühenden Teppich umschloss. Das anfängliche Staunen der Gruppe war inzwischen einer immer größer werdenden Ehrfurcht gewichen, die sich allmählich in eine Art nicht näher definierbare Angst wandelte. 'Was soll das bedeuten, Frau Hohenstein?', schaute eine der Touristinnen sorgenvoll zu ihrer Fremdenführerin. 'So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen', rief ein anderer Teilnehmer aus.Ein starker Wind kam jetzt aus Richtung der Glashöhlen auf, der umso intensiver wurde, je mehr der Berg von dem hell leuchtenden, roten Etwas umgeben war. Es war kein angenehmer Luftstoß, von dem zugleich eine spürbare Kälte ausging, die einige der Senioren erschaudern ließ. 'Herr Gruber, halten Sie drauf!', sagte Evelyn und griff ihr Handy, um das ungewöhnliche Ereignis sofort im Dorf zu melden. Sie bekam jedoch keinen Empfang. 'Spüren Sie denn nicht den Fluss der Energien?', kommentierte Gruber von einer Demut übermannt, die ihm vor wenigen Minuten noch keiner der Touristen zugetraut hätte. 'Das ist das Erbe der alten Alchemisten - wie ich es Ihnen gesagt habe, Frau von Hohenstein!''Müssen wir denn keine Angst haben?', erkundigte sich eine bei ihm stehende, eingeschüchterte Wanderin, die in Grubers sichtlicher Gelassenheit Schutz suchte.'Es ist doch nur ein harmloses Leuchten! Das soll hier früher schon vorgekommen sein. In den alten Legenden! Ich habe sehr lange darauf gewartet, es zu sehen!'Als hätte er mit dieser Bemerkung das Schicksal herausgefordert, ließ ein leichtes Beben plötzlich den Boden direkt unter ihren Füßen erzittern. Vom Gipfel des Berges ausgehend bildeten sich innerhalb weniger Sekunden dunkle, wolkenähnliche Gebilde, aus denen einzelne Blitze jagten. Fast der gesamte Berg war mittlerweile in das rötlich schimmernde Licht getaucht, das seinen Ursprung in den Glashöhlen zu haben schien. 'Wir müssen hier weg, schnell!', rief eine Seniorin aufgeregt. Es war eine Art Weckruf, der den Rest der Gruppe binnen Sekunden aus der Schockstarre erwachen ließ, die sie alle erfasst hatte. Selbst Evelyn, die den ihr so vertrauten Berg noch nie so erlebt hatte.'Sie haben absolut Recht!', rief sie gegen das aufkommende Donnern an. 'Aber bewahren Sie Ruhe.' Langsam fand Evelyn wieder die Kontrolle über ihre Sinne. Das Donnern wurde zunehmend lauter, während die Wanderer wie Gejagte in dem Waldstück verschwanden. Alle - bis auf einen. Gruber schien von dem Phänomen magisch angezogen zu sein. Nur sehr langsam rückwärtsgehend hielt er seine Kamera noch immer auf den Berg gerichtet.'Herr Gruber!', schrie Evelyn ihm zu. 'Kommen Sie! Sie sind in Gefahr!' Sie konnte seine Sensationsgier absolut nicht nachvollziehen. 'Gleich!', rief Gruber zurück. 'Nur noch einen Augenblick!''Jetzt lassen Sie das mit der verdammten Kamera!', rief sie noch einmal eindringlich.Wie aus dem Nichts schlug plötzlich eine Art Blitz direkt neben Gruber ein. Erschrocken presste Evelyn ihre Hände vors Gesicht. Ein gewaltiges Donnergrollen raste über das Gelände hinweg. Gruber war, vom grellen Licht geblendet, gestürzt. Seine Kamera rutschte ihm aus der Hand, knallte mit voller Wucht auf den harten Steinboden und zerbrach.'Verdammt! Meine Aufnahmen!', fluchte er. Evelyn erkannte in seinem Gesicht noch weit mehr als nur den