Indigo (eBook)

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2012 | 2. Auflage
475 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78850-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Indigo -  Clemens J. Setz
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Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren. Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen. Fünfzehn Jahre später berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal ermordet zu haben. Und jetzt noch einmal von vorne. Vergessen Sie die Zusammenfassung einer Romanhandlung, die sich jeder Zusammenfassung entzieht, und lesen Sie das Buch »Indigo« von Clemens J. Setz. Sein viertes insgesamt. Sie werden feststellen: Das »radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur« (»Die Welt«) geht weiter. Rasend spannend und so erholsam wie eine gute Massage. Hinterher spüren Sie jeden Muskel.

<p>Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er als &Uuml;bersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er f&uuml;r seinen Erz&auml;hlband <em>Die Liebe zur Zeit des Mahlst&auml;dter Kindes</em> mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman <em>Indigo </em>stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 pr&auml;miert. 2014 erschien sein erster Gedichtband <em>Die Vogelstrau&szlig;trompete</em>. F&uuml;r seinen Roman <em>Die Stunde zwischen Frau und Gitarre </em>erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit <em>Vereinte Nationen</em> war Setz 2017 und mit <em>Die Abweichungen</em> 2019 zu den M&uuml;lheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde er mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis geehrt.</p>

Das Wesen der Ferne


Am 21. Juni 1919 fand im britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow, nahe der schottischen Küste, die Selbstversenkung der Kaiserlichen Deutschen Hochseeflotte statt. Der kurz zuvor von Deutschland unterzeichnete Vertrag von Versailles sah, neben der Rückgabe des Totenschädels des Häuptlings Mkwawa an die britische Regierung, auch vor, dass alle Schiffe unverzüglich übergeben werden sollten, aber der deutsche Admiral Ludwig von Reuter wollte seine Schiffe lieber versenken, als sie den Briten zu überlassen, die er für ein unkultiviertes Volk hielt. Seither liegen die Kriegsschiffe dort auf dem Meeresgrund, in etwa fünfzig Metern Tiefe. Und das ist ein Glück für die moderne Raumfahrt, denn aus den Wracks dieser seit nun fast hundert Jahren unter Wasser liegenden Kriegsschiffe wird auf Tauchgängen hochwertiger Stahl gewonnen, der beim Bau von Satelliten, Geigerzählern oder Ganzkörperscannern in Flughafen-Sicherheitsschleusen verwendet wird. Jeder andere Stahl auf der Welt ist – nach Hiroshima, Tschernobyl und den zahlreichen in der Erdatmosphäre durchgeführten Atombombentests – zu stark verstrahlt, um beim Bau solcher hochsensiblen Geräte verwendet zu werden. Hinreichend sauberen Stahl gibt es nur in Scapa Flow, in fünfzig Metern Tiefe.

Mit dieser Geschichte beginnt das bemerkenswerte, 2004 erschienene Buch Das Wesen der Ferne der Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbret. An einem Samstag im Sommer des Jahres 2006 besuchte ich sie in ihrer Wohnung im villenreichen Grazer Bezirk Geidorf. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein halbjähriges Praktikum als Mathematik-Tutor am Helianau-Institut bereits abgebrochen. Der Leiter des Instituts, Dr. Rudolph, hatte mich davor gewarnt, jemals wieder einen Fuß auf das Grundstück zu setzen.

Ich suchte Frau Häusler-Zinnbret auf, um sie zu fragen, unter welchen Bedingungen Indigo-Kinder ihrer Meinung nach heute, zwei Jahre nach der Veröffentlichung ihres einflussreichen Buches, das in seinen Anfangszeilen hoffnungsvolle Töne anschlägt, in Österreich leben. Und ob sie wisse, was es mit den so genannten Relokationen auf sich habe, deren verständnisloser Zeuge ich während meiner Praktikumszeit des Öfteren geworden war.

An der alten Haustür mit den drei Klingelknöpfen war auch ein ornamentaler Türklopfer angebracht, der aussah, als wäre er vielleicht einmal echt gewesen – aber dann, an einem heißen Tag, verschmolz er einfach mit dem dunkelgestrichenen Holz der Tür und wurde zu einer ohrmuschelartigen Zierde oberhalb der schweren, gusseisernen Klinke. In dem kleinen, von einem Messingzaun und einer von vielen Spinnennetzchen vernebelten Hecke umgebenen Gärtchen, das neben dem ungewöhnlich prächtigen Wohnhaus lag, standen ein paar stille Birken, wassergewächshaft und beinahe silbern, und vor einem ebenerdigen Fenster entdeckte ich eine einzelne Sonnenblume, die den Kopf aufmerksam, als hörte sie leise Musik, gereckt hielt, weil sie die Vormittagssonne schon um die nächste Ecke kommen fühlte. Es war ein warmer Tag, kurz vor zehn Uhr morgens. Die Tür stand offen. Im Treppenhaus war es kühl, und ein schwacher Geruch nach feuchtem Stein und alten Kartoffeln lag in der Luft.

Noch vor einem oder zwei Monaten wäre mir das alles nicht aufgefallen.

Bevor ich durchs Treppenhaus hinauf zur Praxis ging, kontrollierte ich meinen Puls. Er war unauffällig.

Frau Häusler-Zinnbret ließ mich lange vor ihrer Tür warten. Ich hatte den Klingelknopf, unter dem ihre beiden Nachnamen standen, verbunden durch ein gewelltes ? anstatt durch einen Bindestrich, mehrere Male betätigt und mich, wie schon so oft in meinem Leben, darüber gewundert, dass Psychologinnen und Pädagoginnen immer Doppelnamen haben. Ich hörte sie in ihrer Wohnung herumgehen und Möbel oder andere größere Gegenstände bewegen. Als ich ihre Schritte einmal ganz nahe an der Tür wahrzunehmen meinte, klingelte ich wieder, in der Hoffnung, sie nun endlich auf mich aufmerksam zu machen. Aber wieder entfernten sich die Schritte, und ich stand im Treppenhaus und wusste nicht, ob ich wieder nach Hause gehen sollte.

Ich machte noch einen Versuch und klopfte an.

Eine Tür hinter mir ging auf.

– Herr Setz?

Ich drehte mich um und sah den Kopf einer Frau, der aus einem Türspalt schaute.

– Ja, sagte ich. Frau Häusler?

– Bitte kommen Sie herein. Ich bin gerade in einer … na ja, in einer Umbruchphase, gewissermaßen, entschuldigen Sie die Unordnung … ja …

Beeindruckt und eingeschüchtert von der Tatsache, dass sich ihre Wohnung offenbar über das ganze Stockwerk erstreckte, blieb ich gleich hinter der Eingangstür stehen und wurde erst durch einen Kleiderbügel, den mir Frau Häusler-Zinnbret vor die Brust hielt, daran erinnert, meinen Mantel abzulegen und meine Schuhe auszuziehen.

Frau Häusler-Zinnbrets körperliche Erscheinung war beeindruckend. Sie war sechsundfünfzig, aber ihr Gesicht wirkte jugendlich, sie war schlank und groß, ihr Haar trug sie in einem langen geflochtenen Zopf auf dem Rücken. Bis auf die schwarzen Stiefel war sie an jenem Tag eher leger gekleidet, eine Strickweste hing ihr über die Schultern. Beim Sprechen blickte sie die meiste Zeit über ihre Brille, nur wenn sie etwas las, schob sie sie ein wenig hoch.

Sie führte mich in ihr Arbeitszimmer, eines von dreien, wie sie mir erklärte. Hier emp?ng sie meist ihre Besucher – aus aller Welt, fügte sie hinzu und betätigte dann einen Schalter an der Wand, der die Jalousien zuerst ein wenig nach unten und dann in die Höhe fahren ließ; ein merkwürdig hypnotischer Vorgang, als würde der Raum in Zeitlupe blinzeln. Die Vormittagssonne kam ins Zimmer. Ein wie Zellophan glänzender Sonnenstrahl kroch über den Boden, knickte an der Wand ein und lief bis zu einem großformatigen abstrakten Gemälde, auf dem runde Formen gegen eckige kämpften.

– Du liebe Zeit, sagte die Kinderpsychologin. Haben Sie sich verletzt?

– Ja, sagte ich. Ein kleiner Unfall. Aber nichts Schlimmes.

– Nichts Schlimmes, wiederholte Frau Häusler-Zinnbret und nickte, als hätte sie diese Ausrede schon oft gehört. Tee? Oder vielleicht einen Kaffee?

– Nur Leitungswasser bitte.

– Leitungswasser?, fragte sie schmunzelnd. Hm …

Sie brachte mir ein Glas, das stark nach Geschirrspülmittel schmeckte, aber trotzdem war ich froh, etwas zu trinken zu bekommen, denn ich war auf dem Fußmarsch von meiner Wohnung in der Nähe des Lendplatzes bis zu Frau Häusler-Zinnbret müde und durstig geworden. Mein Fahrrad war in der Nacht zuvor von einem Unbekannten in alle Einzelteile zerlegt worden. Fein säuberlich waren sie heute Morgen im Garten gelegen, die Räder, der Rahmen, der Lenker, in annähernd dem Quincunx-Muster entsprechender Anordnung.

– Sie recherchieren also für ein Buch, ja?, fragte sie, als wir uns an einen kleinen Glastisch setzten.

Frau Häusler-Zinnbret nahm einen Fächer aus einer Schachtel, die wie eine vergrößerte Zigarettenpackung aussah, und faltete ihn auf. Sie bot auch mir einen an, aber ich lehnte ab.

– Ich weiß noch nicht, was es wird, sagte ich. Mehr ein Artikel.

– Das finstere Leben der I-Kinder, sagte Frau Häusler-Zinnbret und tippte mit einem Zeigefinger ein kleines Soso auf den Tisch.

Ich nickte.

– Und wie kommt das?

– Na ja, sagte ich, das Thema ist, also, es liegt ja sozusagen in der Luft, gewissermaßen …

Die Psychologin machte eine sonderbare Geste, als verscheuche sie eine Fliege vor ihrem Gesicht.

– Sie waren bis vor Kurzem noch am Institut?, fragte sie.

– Ja.

– Wissen Sie, ich kenne Dr. Rudolph, sagte sie und fächelte sich Luft zu.

– Ich verstehe.

Ich wollte schon aufstehen.

– Nein, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin keine von seinen … Bitte, bleiben Sie sitzen. Dr. Rudolph … Ich würde gerne wissen, was für einen Eindruck er auf Sie gemacht hat, Herr Seitz.

Geräusche von Menschen im Treppenhaus, ein Juckreiz an den sich selbst auflösenden Nähten in meiner Kopfhaut, ein locker sitzendes Schuhband …

– Ein schwieriger Mensch, sagte ich schließlich.

– Ein Fanatiker.

– Ja, mag sein.

– Haben Sie dort gewohnt, ich meine, auf dem Gelände? In der Nähe von den …?

– Nein. Ich bin gependelt.

– Gependelt.

– Ja.

– Mhm, machte Frau Häusler-Zinnbret. Ist auch besser, nicht wahr? Wegen …

Eine Pause entstand. Dann sagte sie:

– Wissen Sie, die Nähe zu den I-Kindern, oder wie sagt Dr. Rudolph inzwischen dazu? Hat er überhaupt noch einen Namen dafür?

– Nein, er zieht es vor – 

– Ach, dieser verdammte Idiot, sagte Frau Häusler-Zinnbret mit einem Lachen, und dann fügte sie hinzu: Entschuldigung. Was wollte ich sagen? Ah ja, die Nähe zu den Dingos kann Menschen verändern. Ich meine, nicht nur körperlich … sondern auch ihr Weltbild. Macht er eigentlich immer noch diese … diese Bäder?

Ich war so erstaunt, sie das Wort Dingo verwenden zu hören, dass es dauerte, bis ich antwortete:

– Wer?

– Dr. Rudolph.

– Bäder? Ich weiß nicht.

Frau Häusler-Zinnbret spitzte kurz die Lippen, dann lächelte sie. Der Fächer übernahm für sie die Aufgabe, ungläubig...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Georg-Büchner-Preis • Krimis • Postmoderne • ST 4477 • ST4477 • suhrkamp taschenbuch 4477 • Thriller
ISBN-10 3-518-78850-7 / 3518788507
ISBN-13 978-3-518-78850-9 / 9783518788509
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