Sommerhaus, später (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403402-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sommerhaus, später -  Judith Hermann
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2023 feiern wir 25 Jahre »Sommerhaus, später«  Dieses Buch hat Generationen von Leser*innen geprägt Im September 1998 erschien in der Collection S. Fischer ein Buch, das die literarische Landschaft verändert hat: »Sommerhaus, später«. Erzählungen wie »Rote Korallen« und »Hunter-Thompson-Musik« haben eine ganze Generation von Leser*innen geprägt und über Jahre begleitet. Marcel Reich-Ranicki erkannte, dass wir eine neue hervorragende Autorin bekommen haben, und sagte ihr großen Erfolg voraus; Hellmuth Karasek sprach von dem »Sound einer neuen Generation«. Das »Fräuleinwunder« war geboren. Von solchen Zuschreibungen hat sich das Buch emanzipiert, es ist zu einer Ikone geworden. Die Geschichten aus »Sommerhaus, später« sind Schullektüre und wurden verfilmt. Die Erzählungen haben Leser*innen in der ganzen Welt begeistert. Die Dichte und Intensität der Stimmungen treffen auch heute noch unser Lebensgefühl.  

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023Preis der LiteraTour Nord 2022Bremer Literaturpreis 2022Rheingau Literatur Preis 2021Blixenprisen 2018 für »Lettipark«Erich-Fried-Preis 2014Friedrich-Hölderlin-Preis 2009Kleist-Preis 2001Hugo-Ball-Förderpreis 1999Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien 2023 bei S. FISCHER »Wir hätten uns alles gesagt«, basierend auf den Frankfurter Poetikvorlesungen, die Judith Hermann im Frühjahr 2022 hielt. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.  Literaturpreise: Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2023 Preis der LiteraTour Nord 2022 Bremer Literaturpreis 2022 Rheingau Literatur Preis 2021 Blixenprisen 2018 für »Lettipark« Erich-Fried-Preis 2014 Friedrich-Hölderlin-Preis 2009 Kleist-Preis 2001 Hugo-Ball-Förderpreis 1999 Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999

Judith Hermann hat eine unsagbar genaue und neue Sprache für das Unsagbare gefunden. Sie hat uns noch lange nicht alles gesagt.

Rote Korallen


Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten.

Das rote Korallenarmband kam aus Rußland. Es kam, genauer gesagt, aus Petersburg, es war über hundert Jahre alt, meine Urgroßmutter hatte es ums linke Handgelenk getragen, meinen Urgroßvater hatte es ums Leben gebracht. Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin nicht sicher. Nicht wirklich sicher:

 

Meine Urgroßmutter war schön. Sie kam mit meinem Urgroßvater nach Rußland, weil mein Urgroßvater dort Öfen baute für das russische Volk. Mein Urgroßvater nahm eine große Wohnung für meine Urgroßmutter auf der Petersburger Insel Wassilij Ostrow. Die Insel Wassilij Ostrow wird umspült von der kleinen und von der großen Newa, und wenn meine Urgroßmutter sich in der Wohnung auf dem Malyj-Prospekt auf ihre Zehenspitzen gestellt und aus dem Fenster geschaut hätte, so hätte sie den Fluß sehen können und die große Kronstädter Bucht. Meine Urgroßmutter aber wollte den Fluß nicht sehen und nicht die Kronstädter Bucht und nicht die hohen, schönen Häuser des Malyj-Prospekts. Meine Urgroßmutter wollte nicht aus dem Fenster hinaussehen in eine Fremde. Sie zog die schweren, roten samtenen Vorhänge zu und schloß die Türen, die Teppiche verschluckten jeden Laut, und meine Urgroßmutter saß auf den Sofas, den Sesseln, den Himmelbetten herum und wiegte sich vor und zurück und hatte Heimweh nach Deutschland. Das Licht in der großen Wohnung auf dem Malyj-Prospekt war ein Dämmerlicht, es war ein Licht wie auf dem Grunde des Meeres, und meine Urgroßmutter mag gedacht haben, daß die Fremde, daß Petersburg, daß ganz Rußland nichts sei als ein tiefer, dämmeriger Traum, aus dem sie bald erwachen werde.

 

Mein Urgroßvater aber reiste durchs Land und baute Öfen für das russische Volk. Er baute Schachtöfen und Röstöfen und Flammöfen und Fortschaufelungsöfen und Livermooreöfen. Er blieb sehr lange fort. Er schrieb Briefe an meine Urgroßmutter, und wenn diese Briefe kamen, zog meine Urgroßmutter die schweren, roten samtenen Vorhänge an den Fenstern ein wenig zurück und las in einem schmalen Spalt von Tageslicht:

Ich will dir erklären, daß der Hasenclever-Ofen, den wir hier bauen, aus Muffeln besteht, die durch vertikale Kanäle miteinander verbunden sind und durch die Flamme einer Rostfeuerung erhitzt werden – du erinnerst dich an den Gefäßofen, den ich in der Blomeschen Wildnis in Holstein baute und der dir doch damals ganz besonders gefallen hat – nun, auch bei dem Hasenclever-Ofen wird das Erz durch die Öffnungen in die oberste Muffel gebracht und …

Meine Urgroßmutter machte das Lesen dieser Briefe sehr müde. Sie konnte sich nicht mehr an den Gefäßofen in der Blomeschen Wildnis erinnern, aber sie konnte sich an die Blomesche Wildnis erinnern, an die Weiden und an das flache Land, an die Heuballen auf den Feldern und den Geschmack von süßem, kaltem Apfelmost im Sommer. Sie ließ das Zimmer zurücktauchen ins Dämmerlicht und legte sich müde auf eines der Sofas, sie sagte: »Blomesche Wildnis, Blomesche Wildnis«, es klang wie ein Kinderlied, es klang wie ein Schlaflied, es klang schön.

 

Auf der Petersburger Insel Wassilij Ostrow lebten in diesen Jahren neben den ausländischen Kaufmännern und ihren Familien auch viele russische Künstler und Gelehrte. Es blieb nicht aus, daß diese von der Deutschen hörten, der Schönen, Blassen mit dem hellen Haar, die dort oben im Malyj-Prospekt wohnen sollte, fast immer allein und in Zimmern, so dunkel, weich und kühl wie das Meer. Die Künstler und die Gelehrten wurden vorstellig. Meine Urgroßmutter winkte sie mit müder, schmaler Hand herein, sie sprach wenig, sie verstand kaum etwas, sie schaute unter schweren Lidern langsam und verträumt. Die Künstler und die Gelehrten nahmen Platz auf den tiefen, weichen Sofas und Sesseln, sie sanken ein in die schweren und dunklen Stoffe, die Hausmädchen brachten schwarzen, zimtigen Tee und Konfitüre aus Heidelbeeren und Brombeeren. Meine Urgroßmutter wärmte sich die kalten Hände am Samowar und war viel zu müde, um die Künstler und die Gelehrten wieder hinauszubitten. Und so blieben sie. Und sie betrachteten meine Urgroßmutter, und meine Urgroßmutter verschmolz mit dem Dämmerlicht zu etwas Traurigem, Schönem, Fremdem. Und da Traurigkeit und Schönheit und Fremdheit die Grundzüge der russischen Seele sind, verliebten sich die Künstler und die Gelehrten in meine Urgroßmutter, und meine Urgroßmutter ließ sich von ihnen lieben.

 

Mein Urgroßvater blieb sehr lange fort. Meine Urgroßmutter ließ sich also lange lieben, sie tat das vorsichtig und umsichtig, sie beging kaum einen Fehler. Sie wärmte ihre kalten Hände am Samowar und ihre fröstelnde Seele an den glühenden Herzen ihrer Liebhaber, sie lernte aus der fremden, weichen Sprache die Worte heraushören: »Du zarteste aller Birken.« Sie las die Briefe über die Schmelzöfen, die Devillschen Öfen, die Röhrenöfen im schmalen Spalt des Tageslichts und verbrannte sie allesamt im Kamin. Sie ließ sich lieben, sie sang am Abend vor dem Einschlafen das Lied von der Blomeschen Wildnis vor sich hin, und wenn ihre Liebhaber sie fragend ansahen, dann lächelte sie und schwieg.

 

Mein Urgroßvater versprach, bald zurückzukommen, bald mit ihr zurückzukehren nach Deutschland. Aber er kam nicht.

Der erste und der zweite und der dritte Petersburger Winter verging, und noch immer war mein Urgroßvater in der russischen Weite mit dem Bauen der Öfen beschäftigt, und noch immer wartete meine Urgroßmutter darauf, daß sie heimkehren konnte, nach Deutschland. Sie schrieb ihm in die Taiga. Er schrieb zurück, er käme bald, er müßte dann nur noch einmal fort, nur noch ein letztes Mal – aber dann, aber dann, er verspräche, könnten sie reisen.

 

Am Abend seiner Ankunft saß meine Urgroßmutter vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und kämmte sich ihr helles Haar. In einem Kästchen vor dem Spiegel lagen die Geschenke ihrer Liebhaber, die Brosche von Grigorij, der Ring von Nikita, die Perlen und Samtbänder von Alexej, die Locken von Jemeljan, die Medaillons, die Amulette und Silberreife von Michail und Ilja. In dem Kästchen lag auch das rote Korallenarmband von Nikolaij Sergejewitsch. Seine sechshundertfünfundsiebzig kleinen Korallen waren auf einem Seidenfaden aufgereiht, und sie leuchteten rot wie die Wut. Meine Urgroßmutter legte die Haarbürste in ihren Schoß. Sie schloß sehr lange die Augen. Sie machte die Augen wieder auf, nahm das rote Korallenarmband aus dem Kästchen heraus und band es sich um ihr linkes Handgelenk. Ihre Haut war sehr weiß.

 

An diesem Abend aß sie mit meinem Urgroßvater zum ersten Mal seit drei Jahren. Mein Urgroßvater redete russisch und lächelte meine Urgroßmutter an. Meine Urgroßmutter faltete die Hände im Schoß und lächelte zurück. Mein Urgroßvater redete über die Steppe, über die Wildnis, über die hellen, russischen Nächte, er redete über die Öfen und nannte ihre deutschen Namen, und dann nickte meine Urgroßmutter, als hätte sie verstanden. Mein Urgroßvater sagte auf russisch, er müsse noch einmal nach Wladiwostok fahren, er aß die Pelmeni mit den Händen, während er das sagte, er wischte sich mit den Händen das Fett vom Mund, er sagte, Wladiwostok sei die letzte Station, dann wäre es Zeit, zurückzugehen, nach Deutschland. Oder wolle sie noch bleiben?

Meine Urgroßmutter verstand ihn nicht. Aber sie verstand das Wort Wladiwostok. Und sie legte ihre Hände auf den Tisch, und das Korallenarmband leuchtete rot wie die Wut an ihrem linken, weißen Handgelenk.

 

Mein Urgroßvater starrte auf das Korallenarmband. Er legte den Rest seiner Pelmeni auf den Teller zurück, wischte sich die Hände an der Leinenserviette ab und winkte das Hausmädchen aus dem Zimmer. Er sagte auf deutsch: »Was ist das.«

Meine Urgroßmutter sagte: »Ein Armband.«

Mein Urgroßvater sagte: »Und woher hast du das, wenn ich fragen darf?«

Meine Urgroßmutter sagte sehr leise und weich: »Ich wünschte überhaupt, du hättest je gefragt. Es ist ein Geschenk von Nikolaij Sergejewitsch.«

 

Mein Urgroßvater rief das Hausmädchen wieder herein und schickte es nach seinem Freund Isaak Baruw. Isaak Baruw kam, er war bucklig und krumm, er sah verschlafen und verwirrt aus, es war schon spät in der Nacht, und er strich sich immer wieder verlegen durch das ungekämmte Haar. Mein Urgroßvater und Isaak Baruw liefen erregt und diskutierend durchs Zimmer, Isaak Baruw sprach vergebens beruhigende Worte, Worte, die meine Urgroßmutter an ihre Liebhaber erinnerten. Meine Urgroßmutter sank erschöpft in einen der weichen Sessel und legte die kalten Hände an den Samowar. Mein Urgroßvater und Isaak Baruw sprachen russisch, meine Urgroßmutter verstand nicht viel mehr als die Worte Sekundant und Petrowskij-Park. Das Hausmädchen wurde mit einem Brief hinaus in die Dunkelheit geschickt. Als der Morgen graute, verließen mein Urgroßvater und Isaak Baruw das Haus. Meine Urgroßmutter auf dem weichen Sessel war eingeschlafen, ihre schmale Hand mit dem roten Korallenarmband am Handgelenk hing matt von der Lehne herunter; im Zimmer war es so dunkel und still wie auf dem Grund des Meeres.

 

Isaak Baruw kam gegen Mittag zurück und teilte meiner Urgroßmutter unter vielerlei Kratzfüßen und Beileidsbezeugungen mit, daß mein Urgroßvater um acht Uhr in der Frühe verstorben sei. Nikolaij Sergejewitsch hatte ihn auf der Anhöhe des Petrowskij-Parks mitten ins...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2014
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Bali • Berlin • Brenton • Daheim • Ein Buch von S. Fischer • Glenn Gould • Hamburg • Hügel • Hurrikan • Johann Sebastian Bach • Korallenarmband • Oderbruch • Premierenfest • Regisseur • Sommerhaus
ISBN-10 3-10-403402-8 / 3104034028
ISBN-13 978-3-10-403402-7 / 9783104034027
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