M Train (eBook)

Spiegel-Bestseller
Erinnerungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31571-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

M Train -  Patti Smith
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Endlich: Die Fortsetzung von »Just Kids« ist da! In »M Train« erzählt Patti Smith von ihrer Ehe mit Fred Sonic Smith, von ihren Lieblingsbüchern und von Dingen und Menschen, die sie im Laufe ihres Lebens verloren hat und die dadurch für sie nur an Bedeutung gewonnen haben. Patti Smith nimmt den Leser mit in unzählige Cafés auf der ganzen Welt, in denen sie schreibt, malt, Listen komponiert und nachdenkt. Über alte Zeiten, über die Gegenwart und über die Bücher, die sie gerade liest oder dringend wieder lesen muss. Bis zu 14 Tassen Kaffee trinkt man mit ihr pro Tag und schweift dabei zusammen mit ihr durch ihr Leben, von den 1980er-Jahren bis heute. Es geht auf spektakuläre Reisen, z.B. nach Französisch-Guyana auf den Spuren von Genet oder zu den Gräbern seelenverwandter Künstler (Sylvia Plath, Rimbaud, Frida Kahlo). Immer wieder kommt Patti Smith auf für sie wichtige Autoren zurück: auf Murakami, Bolaño, Wittgenstein und Bulgakow. Jede Geschichte ist gespickt mit kleinen Besonderheiten: Begegnungen, Gegenständen, Bildern, die Patti Smith wie kaum eine andere auratisch aufzuladen versteht. Eine wunderbare Meditation über das Reisen, über kreatives Schaffen und die hohe Kunst der Kontemplation. Mit zahlreichen von Patti Smith aufgenommenen Polaroidfotos.

Patti Smith ist Musikerin, Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin. Ihr erstes Album »Horses« mit einem Coverfoto von Robert Mapplethorpe schrieb Musikgeschichte. 2007 wurde sie in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 2010 erschien ihr Buch »Just Kids«, das in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Außerdem erschienen von ihr »Die Traumsammlerin«, »M Train«, »Hingabe« und »Im Jahr des Affen«.

Patti Smith ist Musikerin, Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin. Ihr erstes Album »Horses« mit einem Coverfoto von Robert Mapplethorpe schrieb Musikgeschichte. 2007 wurde sie in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. 2010 erschien ihr Buch »Just Kids«, das in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Außerdem erschienen von ihr »Die Traumsammlerin«, »M Train«, »Hingabe« und »Im Jahr des Affen«. Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg und überträgt seit 1990 englischsprachige Literatur ins Deutsche, u.a. Werke von William Trevor, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger und Jonathan Evison.

UMSCHALTEN


Ich steige die Treppe hinauf in mein Zimmer mit seinem Oberlicht, einem Arbeitstisch, einem Bett, der Navyflagge meines Bruders, eigenhändig von ihm gebündelt und verschnürt, und einem kleinen, mit einem fadenscheinigen Laken drapierten Sessel in der Ecke am Fenster. Ich ziehe meinen Mantel aus, es ist Zeit weiterzumachen. Ich habe einen schönen Schreibtisch, arbeite aber lieber im Bett, wie eine Genesende in einem Gedicht von Robert Louis Stevenson. Ein optimistischer, an Kissen gelehnter Zombie, der Seiten von somnambulen Früchten gebiert – nicht ganz reif oder überreif. Manchmal schreibe ich direkt in meinen kleinen Laptop und sehe schuldbewusst zum Regal, auf dem meine Schreibmaschine mit ihrem alten Farbband neben einem obsoleten Textcomputer von Brother steht. Eine anhaltende Loyalität hält mich davon ab, die beiden zu verschrotten. Dann liegen da viele Notizbücher, deren Inhalt ruft – Geständnis, Offenbarung, endlose Variationen desselben Paragraphen –, und Stapel von Servietten mit hingeschmierten unverständlichen Texten. Verkrustete Tintenfässer, Schreibfedern, Ersatzpatronen für längst verschwundene Füller, Druckbleistifte ohne Minen. Strandgut einer Schriftstellerin.

© Patti Smith
Roberto Bolaños Stuhl, Blanes, Spanien

Ich schenke mir Thanksgiving und schleppe mein Unwohlsein durch den Dezember, mit einer ausgedehnten Phase selbst auferlegter Einsamkeit, leider ohne aufhellende Wirkung. Morgens füttere ich die Katzen, packe stumm meine Sachen und mache mich auf den Weg über die Sixth Avenue ins Café ’Ino, sitze an meinem gewohnten Tisch in der Ecke und tu so, als würde ich schreiben oder ernsthaft schreiben, mit den mehr oder minder gleichen zweifelhaften Resultaten. Ich meide soziale Verpflichtungen und plane aggressiv, die Feiertage allein zu verbringen. Am Heiligabend überreiche ich den Katzen Mäusespielsachen mit Katzenminze, gehe ziellos hinaus in die verwaiste Nacht und lande schließlich nahe dem Chelsea Hotel in einem Kino, das im Spätprogramm Verblendung zeigt. Ich kaufe mein Ticket, hole mir im Deli an der Ecke einen großen schwarzen Kaffee und eine Tüte Bio-Popcorn und mache es mir hinten im Kino auf meinem Platz gemütlich. Nur ich und zwanzig andere Müßiggänger, angenehm isoliert von der Welt, die ihrer eigenen Art von Festtagsstimmung frönen, ohne Geschenke, ohne Christkind, ohne Lametta oder Mistelzweige, nur ein Gefühl vollkommener Freiheit. Ich mochte die Ästhetik des Films. Ich hatte die schwedische Fassung bereits ohne Untertitel gesehen, kannte die Bücher aber nicht und konnte jetzt also dem Plot folgen und mich in der öden schwedischen Landschaft verlieren.

Es war nach Mitternacht, als ich nach Hause ging. Die Nacht war relativ mild, und ich spürte eine große Gelassenheit, die langsam in den Wunsch überging, zu Hause in meinem Bett zu liegen. In meiner leeren Straße gab es kaum Spuren von Weihnachten, nur ein paar vereinzelte Lamettafäden, eingebettet in nasse Blätter. Ich sagte den auf dem Sofa liegenden Katzen Gute Nacht, und als ich nach oben in mein Zimmer ging, folgte mir Cairo, die kleine Abessinierkatze mit einem Fell von der Farbe der Pyramiden. Dort öffnete ich eine Glasvitrine und wickelte vorsichtig eine flämische Weihnachtskrippe aus, bestehend aus Maria und Joseph, zwei Ochsen und einem Baby in seiner Wiege, und stellte sie oben auf mein Bücherregal. Die Figuren waren aus Knochen geschnitzt und hatten über zwei Jahrhunderte hinweg eine goldene Patina angesetzt. Ich bewunderte die Ochsen und dachte, wie traurig, dass sie nur an Weihnachten zu sehen sind. Dann wünschte ich dem Baby alles Gute zum Geburtstag, entfernte die Bücher und Papiere von meinem Bett, putzte mir die Zähne, schlug die Bettdecke zurück und ließ Cairo auf meinem Bauch schlafen.

Der Silvesterabend verlief in etwa genauso und ohne besondere Vorsätze. Während sich Tausende von Betrunkenen über den Times Square verteilten, folgte mir meine kleine Abessinierkatze, während ich unruhig auf und ab ging und mit einem Gedicht kämpfte, einer Hommage an den großen chilenischen Schriftsteller Roberto Bolaño, die ich unbedingt beenden wollte, um das neue Jahr einzuläuten. Bei der Lektüre seines Amuleto fiel mir ein flüchtiger Verweis auf die Hekatombe auf – eine uralte rituelle Schlachtung von hundert Ochsen. Ich beschloss, eine Hekatombe für ihn zu schreiben – ein Hundert-Zeilen-Gedicht. Es sollte ein Dank dafür sein, dass er die letzte Phase seines kurzen Lebens mit der rasanten Fertigstellung seines Meisterwerks 2666 verbracht hatte. Hätte man ihm doch nur eine Sonderbewilligung erteilt und ihn länger leben lassen. Denn 2666 schien darauf angelegt, für immer weiterzugehen, solange er schreiben wollte. Was für ein trauriges ungerechtes Schicksal für den schönen Bolaño, auf der Höhe seiner Schaffenskraft mit fünfzig Jahren zu sterben. Sein Verlust und alles, was er nicht schrieb, enthalten uns mindestens ein Geheimnis der Welt vor.

Während die letzten Stunden des Jahres verstrichen, schrieb ich, schrieb um und las laut die Zeilen. Doch als am Times Square die Kugel fiel, stellte ich fest, dass ich versehentlich 101 Zeilen verfasst hatte, und konnte mich nicht entscheiden, welche ich opfern sollte. Außerdem merkte ich, dass ich ungewollt die Schlachtung der glänzenden Knochenochsen heraufbeschwor, die über das Christkind in der Krippe auf meinem Bücherregal wachten. War es wichtig, dass das Ritual nur in Worten stattfand? War es wichtig, dass meine Ochsen aus Knochen geschnitzt waren? Nach ein paar Minuten sich im Kreis drehenden Grübelns legte ich meine Hekatombe vorübergehend beiseite und ging zu einem Film über. Ich sah mir Das 1. Evangelium – Matthäus an und bemerkte eine Ähnlichkeit zwischen Pasolinis junger Maria und der ebenfalls jungen Kristen Stewart. Ich drückte auf Pause und machte mir eine Tasse Nescafé, zog meinen Kapuzenpullover an, ging nach draußen und setzte mich auf meine Treppe. Es war eine kalte, klare Nacht. Ein paar betrunkene Kids, vermutlich aus New Jersey, sprachen mich an.

– Was sagt die Scheißuhr?

– Zeit zu kotzen, antwortete ich.

– Sag das nicht vor ihr, sie macht das schon den ganzen Abend.

Sie war ein barfüßiger Rotschopf in einem paillettenbesetzten Minikleid.

– Wo ist ihr Mantel? Soll ich ihr einen Pullover holen?

– Sie kommt schon zurecht.

– Na, dann frohes neues Jahr.

– Ist es schon so weit?

– Ja, seit ungefähr achtundvierzig Minuten.

Sie verschwanden hastig um die Ecke und ließen einen schrumpfenden silbernen Luftballon zurück, der über dem Gehsteig schwebte. Ich ging hin, um ihn zu retten, als er gerade schlaff den Boden berührte.

– Ein ziemlich gutes Sinnbild für alles, sagte ich laut.

Schnee. Gerade so viel, um ihn von den Stiefeln abzukratzen. In meinem schwarzen Mantel und Wollmütze gehe ich wie ein treuer Postbote über die Sixth Avenue und liefere mich wie jeden Tag vor der orangefarbenen Markise des Café ’Ino ab. Ich schlage mich immer noch mit Änderungen meiner Hekatombe für Bolaño herum und bleibe bis weit in den Nachmittag. Ich bestelle toskanische Bohnensuppe, Vollkornbrot mit Olivenöl und noch mehr schwarzen Kaffee. Ich zähle die Zeilen des angestrebten hundertzeiligen Gedichts, nunmehr drei Zeilen zu kurz. Siebenundneunzig Spuren, aber nichts gelöst, ein weiteres ungeklärtes Gedicht.

Ich sollte weg von hier, denke ich, raus aus der Stadt. Aber gäbe es einen Ort, an den ich meine anscheinend unheilbare Lethargie nicht mitschleppen würde wie den verschlissenen Leinensack eines angstgesteuerten jungen Eishockeyspielers? Und was würde dann aus den Vormittagen in meiner kleinen Ecke, aus den späten Abenden, an denen ich mich mit einer störrischen Fernbedienung, die erst nach mehrmaligem Drücken reagiert, durch die Kanäle zappe?

© Patti Smith

– Ich hab deine Batterien gewechselt, sage ich flehentlich, also wechsle verdammt noch mal den Kanal.

– Solltest du nicht arbeiten?

– Ich seh mir meine Krimis an, rechtfertige ich mich murmelnd, das ist keine Kleinigkeit. Die Dichter von gestern sind die Detektive von heute. Sie erschnüffeln die hundertste Zeile, lösen einen Fall und hinken erschöpft in den Sonnenuntergang. Sie unterhalten mich und geben mir Kraft. Linden und Holder. Goren und Eames. Horatio Caine. Ich begleite sie, übernehme ihre Gewohnheiten, durchleide ihre Misserfolge und denke über ihre Schritte nach, lange nachdem eine Folge vorbei ist, ob im Original oder als Wiederholung.

Die Überheblichkeit eines kleinen Handgeräts! Vielleicht sollten mir meine Unterhaltungen mit leblosen Objekten zu denken geben. Aber da sie seit meiner Kindheit Teil meines Lebens sind, habe ich kein Problem damit. Wirklich beunruhigend dagegen finde ich, dass ich im Januar an Frühjahrsmüdigkeit leide. Dass die Windungen meines Gehirns wie von Pollen bepudert sind. Seufzend wandere ich durch mein Zimmer und suche nach geliebten Dingen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht in jenen halbdimensionalen Raum gezogen wurden, wo sie einfach verschwinden. Wichtigere Dinge als Socken oder Brillen: Kevin Shields’ Elektrobogen, ein Schnappschuss von Fred mit müdem Gesicht, eine burmesische Opferschale, Margot Fonteyns Ballettschläppchen, eine verunstaltete Tongiraffe, geformt von den Händen...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2016
Übersetzer Brigitte Jakobeit
Zusatzinfo zahlreiche s/w Fotos
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Familie • Haruki Murakami • Horses • Just Kids • New York • Patti Smith • Punk-Musik • Reise • Tod • Verlust
ISBN-10 3-462-31571-4 / 3462315714
ISBN-13 978-3-462-31571-4 / 9783462315714
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