Ein Monat auf dem Land (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
158 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8926-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Monat auf dem Land -  J.L. Carr
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»Eine meisterhafte Geschichte von verlorener Liebe« THE NEW YORKER Sommer 1920 im nordenglischen Oxgodby: Als auf dem Bahnhof ein Londoner aus dem Zug steigt, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid: Er ist der Restaurator, der das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freilegen soll. Doch was steckt hinter der Fassade des stotternden und unter chronischen Gesichtszuckungen leidenden Mannes? Tom Birkin hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, als traumatisierter Veteran wurde er von seiner Frau verlassen. Er hofft, in der Ruhe und Einfachheit Yorkshires zu gesunden. Und tatsächlich: Langsam gelingt es ihm, sich der Welt um sich herum zu öffnen, vielleicht sogar der Liebe ... J.L.Carr erzählt von einem Mann, der überlebt, und von der Rettung, die in uns wie den anderen liegt. Dieser moderne Klassiker der englischen Literatur ist in seiner sprachlichen Leichtigkeit und Eleganz eine echte Wiederentdeckung.

J.L. CARR wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag Quince Tree Press und verfasste acht Romane. >Ein Monat auf dem Land< (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem >Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten< (2017), >Ein Tag im Sommer< (2018) und >Die Lehren des Schuldirektors George Harpole< (2019).

Ein Monat auf dem Land

ALS DER ZUG ZUM STEHEN KAM, stolperte ich die Stufen hinab, während ich meinen Seesack umständlich vor mir herbugsierte. Am unteren Ende des Bahnsteigs rief eine verzweifelte Stimme: »Oxgodby … Oxgodby.« Niemand bot mir Hilfe mit meinem restlichen Gepäck an, also kehrte ich in mein Abteil zurück, taumelte über Knöchel und Füße, um den Bastkorb (aus der Gepäckablage über dem Sitz) und mein faltbares Feldbett (aus dem Stauraum unter dem Sitz) zu holen. Sollte dieses Verhalten charakteristisch für die Nordländer sein, dann befand ich mich in Feindesland und so achtete ich nicht besonders darauf, wo ich meine Füße hinsetzte. Ich hörte, wie ein Kerl vernehmlich die Luft einsog und ein anderer etwas Unverständliches knurrte: Keiner von ihnen sagte etwas.

Dann war ich draußen, der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, der Zug fuhr ruckelnd an – und blieb abermals stehen. Dies schien zu genügen, um den alten Mann, der im nächstgelegenen Waggon saß, dazu zu bewegen, das Fenster halb herunterzulassen und mir in breitestem und nahezu unverständlichem Yorkshire-Dialekt zuzurufen: »Pass’n Sie auf, Master, Sie werd’n ja nass bis auf die Knochen!«, und er schob das Fenster direkt vor meiner Nase wieder hoch. Schließlich stieß die Lok eine herrliche Dampfwolke aus, und während der Zug davonzuckelte, zog eine Reihe hölzerner und mich anstarrender Gesichter an mir vorüber. Nunmehr allein auf dem Bahnsteig, ordnete ich meine Gepäckstücke und warf einen letzten Blick auf meine Karte, ehe ich sie wieder in der Tasche meines Mantels verstaute, nur um sie erneut hervorzuzerren, wobei mein Fahrschein dem Stationsvorsteher vor die Füße fiel und ich wünschte, ich hätte die beiden fehlenden Knöpfe angenäht und es würde zu regnen aufhören, bis ich ein Dach über dem Kopf hätte.

Ein junges Mädchen, das Gesicht gegen eine Fensterscheibe des Stationsvorsteherhauses gedrückt, sah mich unverwandt an. Vermutlich hatte mein Mantel sein Interesse geweckt; er stammte noch aus Vorkriegszeiten, schätzungsweise aus dem Jahr 1907, erstklassiges Material, noch die gute alte Qualität, dicker Fischgrät-Tweed. Er reichte mir bis zu den Knöcheln; sein ursprünglicher Besitzer musste ein gut betuchter Riese gewesen sein.

Mir schwante, dass ich tatsächlich bis auf die Knochen nass werden würde; schon drang Wasser durch die Sohlen meiner Schuhe. Der Stationsvorsteher trat in den Lampenraum zurück und sagte etwas zu mir, aber ich konnte seinen Dialekt nicht verstehen. Er schien es zu bemerken. »Ich habe gesagt, Sie können sich meinen Schirm borgen, wenn Sie wollen«, wiederholte er in passablem Englisch.

»Es ist nicht so weit zu meinem Ziel«, sagte ich. »… das heißt, laut meiner Karte.«

Die Leute dort oben sind von unbezwingbarer Neugier. »Und was soll das sein?«, fragte er.

»Die Kirche«, antwortete ich. »Dort werde ich mich gewiss trocknen können.«

»Kommen Sie doch auf ’ne Tasse Tee herein«, erwiderte er.

»Danke, aber ich bin mit dem Pfarrer verabredet.«

»Ach so«, sagte er, »ich selbst bin bei der Freikirche, wissen Sie. Trotzdem, wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«

Er schien zu wissen, weswegen ich gekommen war.

Dann machte ich mich mit gemischten Gefühlen auf den Weg, während ich den Bastkorb mit meiner Wechselkleidung notdürftig mit dem Mantel vor dem Regen abschirmte. Die schmale Straße befand sich dort, wo sie laut Karte sein sollte. Und da war ein einzelnes Gebäude; es entpuppte sich als heruntergekommenes Bauernhaus, dessen kleiner Vorgarten hinter einem verrosteten schmiedeeisernen Zaun schmollte. Ein Hund, ein Airedaleterrier, zerrte an seiner Kette, jaulte halbherzig und zog sich dann schnell wieder ins Trockene zurück. Sodann passierte ich eine Reihe Hühnerställe, halb eingefallen inmitten der Brennnesseln des darniederliegenden Obstgartens. Der Regen floss mir in einem Rinnsal vom Filzhut in den Nacken, und einer der Griffe meines Bastkorbs hatte sich gelöst. Schließlich bog ich um eine hohe Hecke herum und befand mich auf offenem Feld. Und da war auch schon die Kirche.

Auf den ersten Blick ein Allerweltsbauwerk: Allem Anschein nach hatte dieser Landstrich im ausgehenden Mittelalter keine Schafwoll-Hochkonjunktur erlebt. Dies war mit Sicherheit ein Hungerleiderland gewesen, jeder Baustein hatte der Erde abgepresst werden müssen. Das Giebeldach des Altarraums war weniger steil als das des Hauptgebäudes und musste gut hundert Jahre später hinzugefügt worden sein (das Giebeldach von letzterem lief über den beiden Seitenschiffen flach aus). Ein gedrungener Glockenturm. Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen; alles in allem war ich angenehm überrascht von der Kirche, und im Näherkommen sah ich, dass sie über ein gut erhaltenes Mauerwerk verfügte – Kalkstein statt Bruchgestein. Sogar die Steine zwischen den Strebepfeilern waren gut behauen und kamen mit nur einem Hauch Mörtel aus, und obwohl ich schier im Regen ertrank, zollte ich den Steinmetzen Bewunderung. Was den Stein betraf – nur eine leichte Gelbfärbung, Magnesium –, so musste er in der Nähe von Tadcaster abgebaut und über die Flüsse herbeigeschifft worden sein. Sehen Sie mir diese Detailversessenheit nach: Bereits in jener längst vergangenen Zeit bildete ich mir etwas auf meine Gesteinskenntnisse ein.

Auch die Kirchhofmauer war in gutem Zustand, allerdings war die Klinke des schmalen Tors abgebrochen, und es wurde von einer Schnurschlaufe zugehalten. Einige alte Grabsteine aus dem achtzehnten Jahrhundert waren zu sehen, die flechtenbewachsenen Engels-, Stundengläser- und Totenkopfmotive überwuchert von Gras, Brennnesseln und Hundspetersilie. Auch zwei, drei Zacken eines Familiengrabsteins konnte ich zwischen dem Dornengestrüpp ausmachen. Eine graue Katze spähte daraus hervor, funkelte mich feindselig an, und weg war sie. Der Himmel allein wusste, was sonst noch hier lebte: Heutzutage würde man es gewiss zum schützenswerten Biotop erklären.

Die Dachrinnen und Abflussrohre – ich konnte nicht anders und musste nachschauen, ob sie mit den Wassermassen zurechtkamen. Also ging ich schnell um das Gebäude herum. Nirgendwo ein Sturzbach von oben, kein einziger Spritzer an den Mauern! Feuchtigkeit ist der Untergang von Wandgemälden. Wenn es irgendwo eine grüne Mauer gegeben hätte, hätte ich genauso gut auf dem Absatz kehrtmachen und mich wieder zum Bahnhof zurückspülen lassen können.

Doch so ging ich zu der kleinen Veranda zurück, deren steinerne Sitzbänke blank poliert waren von den Hinterteilen unzähliger Trauergäste, die dort in den letzten fünfhundert Jahren Platz genommen hatten, schwindelig von Weihrauch oder Gewissensbissen.

Dann drehte ich den Eisenring und schob die Tür auf. Sie ächzte – ein Warnsignal, für das ich während der nächsten Wochen noch dankbar sein sollte. Und hier war ich also. Im Großen und Ganzen war es so, wie ich es erwartet hatte – ein Steinplattenboden, drei gedrungene Säulen zu beiden Seiten des Mittelschiffs, zwei niedrige Seitenschiffe und vorn der Altarraum (jedenfalls das, was ich davon sehen konnte), penibel umgestaltet von einem Amtsinhaber der reformerischen Oxford-Bewegung. Ein dichtes, robustes Dach; es hätte ebenso gut ein auf dem Kopf stehender Schiffsboden sein können. Und soweit ich es erkennen konnte, schien es ein paar interessante Scheitelsteine zu geben. Aber natürlich war es der Geruch des Ortes, der sich zuerst einprägte – und dieser Geruch war der von feuchten Kniekissen.

Das Baugerüst war, so wie es mir brieflich zugesichert worden war, errichtet und füllte den Chorbogen aus. Sogar eine mit einem Seil befestigte Leiter stand bereit, und ich stieg augenblicklich hinauf. Man kann ja viel gegen den Reverend Keach sagen. Leider. Aber wenn er eines Tages vor den Richterstuhl Christi tritt, muss dies zu seiner Verteidigung vorgebracht werden: In geschäftlichen Dingen war bei Gott auf ihn Verlass. Und das ist bei Engländern eine rare Tugend. In Frankreich hätten wir ein paar Majore von seinem Schlag gut brauchen können. Er hatte gesagt, das Gerüst werde bereitstehen, und es stand bereit. Er hatte gesagt, wenn ich mit dem Zug um Viertel nach sieben ankäme, werde er mich um halb acht in der Kirche erwarten. Und das tat er.

Und so sah ich ihn zum ersten Mal – er schien mir der fleischgewordene Ausdruck seiner geschäftsmäßigen Briefe zu sein, wie er da schräg unter mir im Eingang stand und an den nassen Fußabdrücken ablas, dass ich bereits da war. Mit der Unnachgiebigkeit eines Spürhunds folgte er ihnen mit den Blicken bis zum Fuß der Leiter und an ihr empor.

»Guten Abend, Mr Birkin«, sagte er, und ich kletterte hinunter. Er war vier oder fünf Jahre älter als ich, so um die dreißig, ein großer, aber nicht gerade kräftiger Mann, wohlgeraten, mit hellen Augen und mit kaltem, verschlossenem Ausdruck, und selbst als er sich längst an das Zucken in meinem Gesicht hätte gewöhnt haben müssen, schien er, wenn er mit mir sprach, seine Worte an jemanden hinter meiner linken Schulter zu richten.

Er kam sogleich zur Sache. »Also, zu Ihrem Wunsch, in der Glockenturmkammer zu wohnen. Ich bin nicht gerade begeistert von dieser Idee. Gewiss habe ich in unserer Korrespondenz erwähnt, dass Mossop jeden Sonntag die Glocke läuten muss und dass das Seil durch ein Loch im Boden verläuft. Ich hatte gehofft, Sie würden sich eine andere Unterkunft suchen – ein möbliertes Privatzimmer vielleicht oder dass Sie sich im Shepherds’ Arms einquartierten.«

Ich murmelte etwas von unnötigen Ausgaben.

»Der Ofen«, sagte ich dann....

Erscheint lt. Verlag 19.7.2016
Übersetzer Monika Köpfer
Sprache deutsch
Original-Titel A Month In The Country
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920 • A Day in Summer • A Month in the Country • Dorf • Ein ganzes Leben • Ein Tag im Sommer • Entschleunigung • Entspannung • genesung durch ruhe • gesundung durch Natur • How Steeple Sinderby Wanderers won the FA Cup • Kontemplation • Oxgodby • Rettung • Robert Seethaler • Roman • Romane & Erzählungen • Sommer • Traumatisierung durch Krieg • Verlorene Liebe • Veteran • Wandgemälde • Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten
ISBN-10 3-8321-8926-2 / 3832189262
ISBN-13 978-3-8321-8926-6 / 9783832189266
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