Einfach gehen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
352 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30996-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einfach gehen -  Steven Amsterdam
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Evan ist Krankenpfleger, und sein Leben ist chaotisch. Seine energiegeladene Mutter hält ihn trotz ihrer Krankheit ordentlich auf Trab. Seine Freunde Lon und Simon, mit denen er soeben eine Dreiecksbeziehung begonnen hat, wünschen sich mehr als nur ein Abenteuer, was ihn ziemlich beunruhigt. Zu alldem kommt noch sein neuer Job: Im Krankenhaus soll er Menschen, die Sterbehilfe beantragen, auf ihrem Weg begleiten. Witzig und ernsthaft, leicht und tiefgründig, mit Humor und radikaler Liebe erzählt dieser Roman vom Sterben und feiert dabei das Leben.

Steven Amsterdam, geboren 1966 in New York City, war zunächst als Kartenherausgeber, Konditor und Produktionsassistent tätig. Seit 2003 lebt er in Melbourne, wo er als Schriftsteller und Palliativpfleger arbeitet. Sein Debüt Things We Didn't See Coming wurde von der australischen Tageszeitung The Age als Buch des Jahres ausgezeichnet und von The Guardian für den First Book Award nominiert. Sein zweites Buch What the Family Needed war für den International IMPAC Prize und den Encore Award nominiert.

Steven Amsterdam, geboren 1966 in New York City, war zunächst als Kartenherausgeber, Konditor und Produktionsassistent tätig. Seit 2003 lebt er in Melbourne, wo er als Schriftsteller und Palliativpfleger arbeitet. Sein Debüt Things We Didn't See Coming wurde von der australischen Tageszeitung The Age als Buch des Jahres ausgezeichnet und von The Guardian für den First Book Award nominiert. Sein zweites Buch What the Family Needed war für den International IMPAC Prize und den Encore Award nominiert.

Schmerzmanagement


Die Ergotherapeutin Joan sitzt auf dem Boden des Wohnzimmers neben meiner Mutter, die auf einer Schaumstoffrolle hin und her gleitet. Seit einer Woche gehört das zum Alltag. Viv trägt ihren gelben Jogginganzug aus Fleece, eine Anschaffung nach ihrem letzten Gewinn. Mit den Waden und Füßen auf dem Sofa schiebt sie sich mühelos vor und zurück. Ein Ordner von Willow Wood liegt mit der Rubrik Nachsorge aufgeschlagen neben Joan. Sie hakt die erreichten Ziele meiner Mutter ab.

Viv sieht mich im Flur und schwenkt auf der blauen Röhre herum. »Locker und beherrscht«, prahlt sie. Damit ich ihre Fortschritte bewundern kann, schiebt sie die Rolle weg und zeigt ein paar Pilates-Posen.

Um die Kollektivsünde des Personals ob des Stillschweigens über Vivs Auszug auszugleichen, hat Joan offensichtlich die Anweisung erhalten, mit dem Sohn übertrieben eng zusammenzuarbeiten. Detailliert berichtet sie, was in den letzten drei Stunden passiert ist – duschen, anziehen, putzen (Letzteres mehr, als es in den letzten Monaten in dieser Wohnung geschehen ist) und kochen (ebenso). Das frühe Mittagessen bestand aus panierter Flunder mit Kartoffeln und Salat. Nach dem Abwasch ist Viv bis in den vierten Stock marschiert und von dort hinunter ins Erdgeschoss, hat sich die Kräfte selbst eingeteilt und ist nie geschwankt.

»Zufrieden?«, fragt mich Joan.

»Zufrieden?«, frage ich Viv, die mir ein falsches Lächeln schenkt. »Ich bin zufrieden«, sage ich Joan, die ein Telefon aus der Tasche zieht und meiner Mutter hinhält, damit sie den Besuch bestätigt.

»Damit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.«

Meine Mutter kommt hoch auf die Knie, um ihren Daumen aufs Display zu drücken. »Da.«

»Bis Donnerstag?«, fragt Joan.

Viv blinzelt. »Ich kann nichts versprechen.«

Die Frau ist hingerissen.

Sobald sie weg ist, dreht sich Viv zu mir um. »So, nun habe ich für ein paar Tage Ruhe vor den Bewährungshelfern. Zeit, abzuhauen. Bleibst du heute Nacht bei den Jungs?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Soll mir recht sein. Ich brauch dich nur noch für eine Stunde. Den Rest kann ich allein. Wir gehen zur Bank, denn es gibt da noch eine Sache, die die Unterschrift meines Wächters erfordert. Hast du was dagegen?«

Nein. Jetzt, da sie nicht mehr in Willow Wood wohnt, steht mehr Geld zur Verfügung. Sie hat die Kontrolle über sich selbst geltend gemacht und mich nicht nur aus der Pflicht entlassen, mich um die Bezahlung ihrer Rechnungen zu kümmern, sondern auch verboten, noch irgendetwas dazu beizutragen. Natürlich unter der Annahme, dass ihre Rente und die Gewinne ausreichen, sie nicht wieder pflegebedürftig wird und selbst einschätzen kann, was sie braucht. Die einzige Absicherung, die sie hat, ist Willow Wood, wo für sie noch immer die ursprünglichen 145 000 Dollar Kaution für drei Monate verwaltet werden. Trishs Idee, für den Ernstfall.

Viv schnappt sich strahlend weiße Turnschuhe aus dem Flurschrank, und wie ein Flamingo, mit jeweils einem Knie in der Luft, zieht sie sie an und schnürt sie zu – ohne sich einen Stuhl zu nehmen oder zu fallen. Beeindruckend.

Sie setzt ihren Rucksack auf. »Mein Vorschlag: Du könntest draußen ein bisschen zurückbleiben, vielleicht einen halben Block, und mich beobachten. Was meinst du?«

»Mach ich.«

»Der Weg zur Bank und zur Bücherei ist eine schöne Zusatzübung zu denen von heute Morgen, und das auch noch in der prallen Sonne.«

»Wenn du dich fit genug fühlst.«

»Wenn du dich fit genug fühlst. Wenn ich mich weiterhin bewähre, was hast du dann geplant?«

»Ich geh zu Lon und Simon und esse zu Abend.«

»Ich meine dein Leben. Du kannst doch nicht die ganze Zeit nur Couchsurfing betreiben, oder was auch immer du mit ihnen tust.«

»Ich werds mir merken. Lass uns zur Bank gehen.« Ich lenke sie zur Tür.

»Schieb mich nicht rum. Hör endlich auf zu klammern. Allein komm ich besser zurecht. Du solltest nach vorn schauen und …« Sie hebt die Hände mit gespreizten Fingern, um zu zeigen, wo sie mich gern sehen würde.

Nach Vivs Sturz wurden die Stufen mit rutschfesten gelben Leisten versehen. Ruhig und besonnen steigt sie hinunter.

»Schaffst du das auch, wenn du es eilig hast?«

Sie blickt zu mir hoch. »Warum um Himmels willen sollte ichs denn eilig haben?«

Um eine wahrscheinlich verdiente Lektion in Sachen Achtsamkeit zu vermeiden, bedeute ich ihr, weiterzugehen, und warte oben, um ihr die Führung zu überlassen.

Auf der Straße sehe ich eine kleine dünne Fremde in einem gelben Jogginganzug, die sich schon einen halben Block entfernt hat. Jeden einzelnen Schritt führt sie mit Bedacht aus. Ihre Ellenbogen treiben sie geschmeidig an. Sie weicht Schulkindern aus und geht um die Ecke, ohne sich auch nur ein Mal umzugucken, ob ich hinter ihr bin.

Zuerst gewinnen das Schaufenster eines Outdoor-Geschäfts und dann ein Akkordeonspieler ihre Aufmerksamkeit. Der Musiker hat beide Arme komplett tätowiert. Mit ernsthafter Miene spielt er Habanera, temporeich, wie für ein Karussell. Er ist zu jung und zu verwahrlost für das reich verzierte Instrument, weshalb alle Leute weggucken, wenn sie an ihm vorbeigehen – was bei Viv genau das Gegenteil bewirkt. Aus dem Marschgepäck zieht sie ihr Portemonnaie. Ich gehe näher heran, um erkennen zu können, was sie ihm gibt. Zehn Dollar. Die alte Viv hätte höchstens fünf gegeben. Zumindest sind die Gewinne aus dem Onlinepoker stabil – jedenfalls behauptet sie das. Wenigstens hat sie nicht ihr Scheckbuch gezückt.

Aber auf anderen Gebieten ist sie vorsichtig. Früher wäre sie trotz rot werdender Ampel über die Barkley Avenue gerannt, heute trabt sie pflichtbewusst die ganze Schaltphase lang auf der Stelle. Eine junge Frau mit einer Yogamatte unterm Arm sprintet herüber, läuft mit einem herannahenden Bus um die Wette und stolpert Viv vor die Füße. Meine Mutter streckt die Hand aus, um die Frau vor einem Sturz auf die Straße zu bewahren. Die Frau nimmt die Hilfe an, wirft ihr einen ernsten, dankenden Blick zu, betritt den Gehsteig und eilt weiter. Die Ampel wird grün und Viv macht sich mit hochgerecktem Kinn auf den Weg, umrundet die nächste Ecke und stößt dann die riesigen Messingtüren der Bank auf.

Im Wartebereich steht sie hinter einem leeren Stuhl, die Hand auf der Lehne, die Wartemarke zwischen den Fingern und die Augen auf den Monitor gerichtet.

»Darf ich dir Gesellschaft leisten?«, frage ich.

»Wenn du möchtest.«

»Ich wollte dir von einem Patienten erzählen. Dein ›lieber allein sein‹ hat mich daran erinnert.«

»Schieß los.«

»Er ist wohlhabend, ungefähr in deinem Alter, zum dritten Mal verheiratet. Eine degenerative Erkrankung wird diagnostiziert. Es verschlimmert sich, und er braucht richtige Pflege, intime Pflege. Nun rate mal, was er gemacht hat.«

»Er hat Nutten besucht?«

»Daran hab ich noch gar nicht gedacht.«

»Schließ niemals etwas aus. Er hat Geld. Vielleicht erzählt er dir gar nicht alles. Oder stehen Huren irgendwo auf euren Fragebögen?«

»Weder noch. Er hat sich von seiner dritten Frau scheiden lassen, das hat er mir erzählt. Zu einer Zeit, in der man eigentlich den größtmöglichen Beistand bräuchte.«

Viv lehnt sich an den Stuhl. »Er hat sie gehen lassen. Wie unmännlich.«

»Weißt du noch, wie du den Sternen gedankt hast, dass du keinen Ehemann hattest, den du wegen deiner Diagnose trösten oder dem du vorspielen müsstest, du seist gesund?«

Kurzzeitig sieht sie ein wenig überrascht aus, als könnte sie kaum glauben, dass sie das wirklich gesagt hat. »Interessant.«

»Was denkst du über meinen Patienten?«

»Er hat nach dir verlangt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Meine Meinung ist nicht relevant. Es ist doch schon alles gesagt. Er brauchte die Frau nicht. Brauchte die Krankheit nicht. Habs kapiert. Ob er nun krank war oder nicht, er wollte sich nicht mehr auf andere Menschen verlassen müssen. Ehefrauen und Pfleger können dich nur einen Teil des Weges begleiten. Hier hast du deine Moral von der Geschicht.« Ihre Finger klopfen ein paar Mal auf den Rand des Stuhls. Eine gute Moral. »Ich frag mich, was du über mich erzählst.«

»Gar nichts.«

»Lüg nicht. Stell dich da drüben hin.« Sie deutet auf einen umfunktionierten Schalter, vor dessen Fenster nun ein Kaffeeautomat steht. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich dich brauche.« Sie hält die Wartemarke hoch. »Noch sechs.«

Ich füge mich und sehe ihr dabei zu, wie sie sämtliche Schalter mit der Intensität eines Erdmännchens überwacht, sodass sie bereits auf den verfügbaren Mitarbeiter zugeht, bevor ihre Nummer aufgerufen wird. Einen Augenblick später winkt sie mich heran.

Der Bankangestellte, der mit Mitte zwanzig ernsthaft Manschettenknöpfe trägt, erklärt mir die Situation. Viv möchte unser gemeinsames Konto auflösen. Er benötigt lediglich meinen Ausweis und unsere beiden Unterschriften, um das verbliebene Guthaben und Vivs letzte Gewinne auf ein neues Konto zu überweisen, das nur auf ihren...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2018
Übersetzer Marianne Bohn
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Australien • Dignitas • Exit • Gesundheit • Homosexualität • Krankenhaus • Krankenpflege • Liebe • Medizin • Parkinson • Sterbehilfe
ISBN-10 3-293-30996-8 / 3293309968
ISBN-13 978-3-293-30996-8 / 9783293309968
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