Unschärfen der Liebe (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-25713-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unschärfen der Liebe -  Angelika Overath
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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Eine Zugreise von Chur bis nach Istanbul: Angelika Overath erzählt eine west-östliche Fahrt durch den Balkan. Wie viel Freiheit kann es geben zwischen drei Menschen unterschiedlicher Kulturen, die einander suchen und sich selbst finden?

Als Baran im schweizerischen Chur den Zug besteigt, ahnt er bereits, dass nichts mehr so sein kann, wie es war. Sein Lebenspartner Cla entfremdet sich ihm. Und auch er hat sich verändert. Er liebt Cla, aber nun hat er die Bündnerin Alva, Clas vorherige Partnerin und Mutter ihres gemeinsamen Kindes Florinda, kennengelernt. Was bedeutet diese unerwartete Nähe? Je länger Baran aus dem Zugfenster schaut, hinter dem die Landschaften ihr Gesicht wechseln, je vertrauter ihm die Menschen in den Abteilen werden mit ihren Geschichten, desto mehr mischen sich Erinnerungen und gegenwärtiges Erleben. Orte und Zeiten gehen ineinander über. Im Nachtzug von Sofia nach Istanbul bricht eine Entscheidung auf, die am Ende alle überraschen muss.

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane 'Nahe Tage', 'Flughafenfische', 'Sie dreht sich um' und 'Ein Winter in Istanbul' geschrieben. 'Flughafenfische' wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.

1. Chur – Sargans


Als Baran Anatol Chronas an einem Herbstmorgen in Chur einen Zweitklassewagen der Schweizerischen Bundesbahnen bestieg, wußte er, daß ihm keine gute Ankunft bevorstand. Und doch sollte er sich täuschen über das Ausmaß dessen, was ihn erwartete. Den abgenutzten Koffer, ein Erbstück seines griechischen Großvaters, schon auf Brusthöhe, zögerte er kurz und hob das Leder doch nicht in die Gepäckablage. Er setzte den Koffer wieder ab.

Durch das Fenster sah er Alva, die auf dem Bahnsteig stand und fröstelte.

In wenigen Minuten schon war er in Sargans. Von dort aus würde der Zug weiterfahren, den Walensee entlang, unter der Steilwand der Churfirsten, am Zürichsee vorbei bis Zürich. Er aber würde in Sargans umsteigen. Ab Sargans gab es eine Verbindung bis Graz. Der Zug überwand die Alpen. Die Gleise liefen wenige Kilometer durch Liechtenstein, dann querten sie Österreich, Vorarlberg, Tirol, Salzburger Land, Steiermark. Von Graz aus konnte er den direkten Anschluß über Slowenien nach Kroatien nehmen, bis Zagreb. Dann Serbien, Belgrad, Niš, weiter nach Bulgarien. Von Sofia bis Edirne, der einstigen Hauptstadt des Osmanischen Reichs an der türkisch-griechischen Grenze. Dann war er schon fast in Istanbul.

Er trat näher zum Fenster. Alva sah ihn an. Er hatte etwa 30 Stunden Reisezeit vor sich. Und als er den metallenen Hebel ergriff, mit dem sich das Fenster herunterschieben ließ, empfand er den Gedanken an die Stunden in Eisenbahnabteilen, die nun begannen und die ihn, ohne daß er viel entscheiden mußte, über Gleissysteme, eiserne Schienen, von einem Land ins nächste bringen würden, als einen besänftigenden Aufschub. Unterwegs war er noch nirgendwo und mußte niemand sein.

Das Fensterglas war schmutzig. Alva trug das Kind auf dem Arm. Wie nah sie war hier am Bahnsteig. Und schon weit weg.

Alva, hatte Cla gesagt, Alva heißt auf Rätoromanisch weiß. Aber das sei ein Zufall. Zwei Sprachen fielen in ihrem Eigensinn zusammen. Denn der Name Alva käme aus dem Schwedischen und bezeichnete dort einen Elfen oder eine Fee. Je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau Alva hießen. Und Cla hatte ihn angesehen, seinen Kopf zwischen seine Hände genommen und gesagt: Alva gilt für beide Geschlechter, wie dein Name auch. Baran, hatte er gesagt, Regen. Und er hatte ihn geküßt. Seine Lippen waren kühl gewesen, und seine Hände auch.

Cla war bereits vor einer Woche abgereist. Er war jetzt sehr gefragt. Ein Schweizer Intellektueller in Istanbul. Der Kulturmäzen eines Byzanz-Projekts hatte ihn angerufen. Es sei wichtig. Und eile. Ein Flug für ihn könne sofort gebucht werden. Man mochte Cla und schätzte ihn. Fast drei Jahre lebte er jetzt schon in Istanbul. Mit ihm, Baran, einem griechisch-türkischen Nobody mit Gastarbeiter-Hintergrund, der im Ruhrgebiet zur Schule gegangen war. Natürlich sprach er gut Deutsch. Und doch wußte er, daß ihm immer wieder Formulierungen unterliefen, die für Cla, den promovierten Akademiker, befremdlich waren. Aber Cla war um seinetwillen gekommen. Er hatte seine Existenz als Schweizer Gymnasiallehrer mit ordentlichem Rentenanspruch aufgegeben und war aus dem Engadin zu ihm gezogen. Zu ihm, dem ersten Mann, den er liebte. An den Bosporus. Als er Cla gegenüber einmal aufgezählt hatte, was er alles so unternahm, um Geld zu verdienen, oder was er sich erlaubte, auch wenn es nicht viel einbrachte, hatte ihn der Gedanke erschreckt, daß Cla den Eindruck gewinnen könne, er lebe unsicher. Und daß er vielleicht in den Augen des Engadiner Lehrers ein Versager war. Denn schließlich tat er alles und nichts. Er dolmetschte bei Behörden, schrieb für andere, die es nicht so gut konnten, weil sie kaum in der Schule gewesen waren. Er verfaßte Liebesbriefe und Nachrufe, füllte Rentenpapiere aus und Versicherungspolicen. Er konnte Griechisch, Türkisch, wenn es sein mußte auch Englisch. Und eben Deutsch. Ein Deutsch aus den Düsseldorfer Gastarbeiterjahren seiner Eltern; dann das Deutsch aus Berlin, einige Semester hatte er Psychologie an der Humboldt-Universität studiert. Er kellnerte, hütete Kinder in einer Diplomatenfamilie in Bebek und kochte für sie, wenn das philippinische Mädchen einmal nicht da war. Er hatte seine Lyrik-Projekte am Theater in Cihangir, übersetzte den berühmten Konstantinos Kavafis und den außerhalb Griechenlands kaum bekannten Dinos Christianopoulos ins Türkische. Er fuhr Taxi. Aber Cla, der solide Schweizer Lehrer, antwortete nur: Du kannst so vieles! So verschiedenes, Sachen, von denen ich keine Ahnung habe. Und dann hatte er hinzugefügt: Du traust dich, freier zu leben. Und er hatte seine Stirn gegen sein Schlüsselbein gelegt und kaum hörbar noch gesagt: Ich bewundere dich.

Als sie sich kennenlernten, damals in jenem Winter in Istanbul, schrieb Cla über Nikolaus von Kues, Cusanus. Der spekulative Universalgelehrte von der Mosel hatte im Winter 1437/38 den byzantinischen Kaiser und den Patriarchen auf Galeeren von Konstantinopel nach Italien begleitet. Zunächst nach Venedig, dann nach Ferrara auf ein Konzil, bei dem sich die Ostkirche und die Westkirche wieder vereinigen sollten. Um was hatten sie sich gestritten? Er begriff es immer noch nicht – filioque: und aus dem Sohn! Ging der Heilige Geist aus Gottvater hervor oder auch aus dem Sohn? Und Cla hatte von den Männern auf den Galeeren erzählt, von ihren Gesprächen, ihren Freundschaften, von den weißen Falken des Kaisers und von der Angst des Patriarchen, der immer fror. Und von der Schiffskatze. So eine Reise über die Meere war lang und gefährlich. Sie gerieten in Stürme, Piraten griffen sie an. Und Cla hatte ihm den Gedanken der coincidentia oppositorum erklärt. Das hatte ihm gefallen. Wenn Gott, so Cusanus, allmächtig war, dann mußte er alles sein können. Das Größte und das Kleinste zugleich. In Gott fielen die Gegensätze zusammen. Sie hatten viel miteinander gesprochen, damals.

Und als Cla sich entschlossen hatte, ganz zu ihm nach Istanbul zu kommen, da hatte er ihm geholfen, in Istanbul zu beginnen. Mühsame Anfänge. Lähmende Tage in Schluchten von Gängen, die nach Linoleum und Wachs rochen. Stufen um Stufen in Treppenhäusern, die immer weiter stiegen, um Stempel für Papiere zu bekommen, die sie dann doch nicht brauchten. Sie bestachen. Sie zitierten Onkel und Cousins und Cousins von Onkeln. Sie telephonierten mit der Schweizer Botschaft. Endlosschleifen. Und schließlich hatte Cla eine Aufenthaltsgenehmigung und den Zettel, der es ihm erlaubte, Arbeit anzunehmen.

Heute war Cla in Istanbul der Schweizer, der im Goethe-Institut ein- und ausging, den man auf den einschlägigen Empfängen der Stadt sah. Und strahlend stand er mit einem Glas Wein in der Hand im Prunksaal des Deutschen Generalkonsulats unter dem lebensgroßen Ölbild von Wilhelm II., auf dem der Kaiser einen Fez trug und seine Freundschaft mit dem Schlächter Abdülhamid II. bekundete; zusammen tüftelten sie an der Idee der Bagdadbahn. Man war froh über Cla, den höflichen Theologen, der mit griechischen und lateinischen Quellen umgehen konnte, diesen Rätoromanen, der aussah wie ein Türke. Der rätoromanische Redewendungen zitierte und auch türkische. Diese zwar nur mit Mühe und kaum verständlich. Aber man mochte selbst das. Seinen tapferen, seinen aussichtslosen Willen zur Integration. Ich kenne das, hatte Cla gesagt, ich komme aus dem Engadin. Wenn da einer aus einem Dorf ins nächste heiratet, wird er dort niemals ganz dazugehören. Und er, Baran, war auf den Gedanken gekommen, daß er es aufgegeben hatte, sich irgendwo ganz integrieren zu wollen. Seine Heimat war das Fremdsein. Er sah das weniger pathetisch als sportlich.

Cla sollte also wieder übersetzen, einen Stab von Kunstkuratoren unterstützen, europäischen Geist (was immer das sein sollte!) versprühen. Und so war er eine Woche früher abgereist.

Baran sah, wie Alva das Kind kurz von ihrem Arm hinunter auf den Bahnsteig stellte. Sie versuchte nun, ihm ein Wollmützchen, das sie aus ihrem Rucksack genommen hatte, aufzusetzen und dann die Kapuze seines Anoraks darüberzuziehen. Es war windig. Das Kind wollte nicht recht, und so brauchte diese kleine Handlung Zeit.

Wenn er, Baran Anatol Chronas, der Türke, der Grieche, der Sohn von Gastarbeitern, der Mann in Clas Bett, es richtig verstanden hatte, ging es bei diesem Byzanz-Projekt um die Frage, ob es erlaubt sei, Gott darzustellen. Und zwar vergleichend, in den drei abrahamitischen Religionen, mit Schwerpunkt auf der griechisch-orthodoxen Kirche und dem Islam. An Alvas Küchentisch hatte Cla, Florinda auf dem Schoß, die einen Keks auf seine Brüchigkeit hin untersuchte und Krümel mit der Fingerspitze aufstupste, davon gesprochen: Durfte man sich ein Bildnis machen? Durfte man Gott zeigen? Und wenn nicht, dann wirklich gar nicht? Oder auf bestimmte Weise doch, in besonderen Büchern? Es gebe da schon erstaunliche Spiegelbilder in Bibeln, in Heiligenlegenden: Jesus, der Zimmermann, auf dem Esel am Palmsonntag. Mohammed, der Krieger, auf dem Pferd vor der Schlacht.

Zunehmend gab es Kultur- und Bildungsinitiativen, die Aufklärungsarbeit leisten wollten in der politisch vorangetriebenen Islamisierung des Landes. Und Cla bekam Arbeit. Er verstand, daß Cla meist zusagte. Es war eine willkommene Abwechslung zu seinem Unterricht am Gymnasium. Ein privates Elite-Institut, in den grünen Hügeln vor dem Schwarzen Meer, verborgen in einer Siedlung, die ebenso viele Swimmingpools wie Villen aufwies. Er hatte sich das einmal auf Google Maps angesehen, all die blauen Rechtecke im Grün, im Grau. An vier Tagen die Woche brachte Cla hier Kindern reicher Eltern etwas Deutsch bei.

Frühmorgens holte ihn ein Schulbus ab und brachte ihn abends wieder zurück. Er...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Bisexualität • Dreiecksbeziehung • eBooks • Homosexualität • Liebe • Longlist Deutscher Buchpreis 2023 • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2023 • nominiert für den deutschen buchpreis 2023 • Österreich • Reiseroman • Roman • Romane • Schweiz • Türkei • Untreue • Zugfahrt
ISBN-10 3-641-25713-1 / 3641257131
ISBN-13 978-3-641-25713-2 / 9783641257132
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