Die Heimat (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
245 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77548-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Heimat -  Andreas Maier
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Deutschland, Anfang der siebziger Jahre: ein Land voller Angst vor allem Fremden. Der einzige Italiener an der Schule wirkt wie ein außerirdisches Wesen. In den Achtzigern sind es die Türken, die zum ersten Mal die Tische vor die Wirtschaft stellen. Während die Wetterauer den ersten Döner im Landkreis als Widerstandsnahrung feiern, erobert der lange verschwundene Hitler den öffentlichen Raum in Funk und Fernsehen. In den Neunzigern träumt der Erzähler seinen großen Traum vom Wetterauer Land, verschwindet allerdings erst mal mit seiner Cousine unter einer Bettdecke am Ostrand der neuen Republik. Die Heimkunft gelingt innerfamiliär, das Haus der Großmutter wird als musealer Ort rekonstruiert, während im Ort wenigstens der Grundriss der 1938 niedergebrannten Synagoge wiederhergestellt wird. Aber noch im neuen Jahrtausend, als die ganze Republik ständig den Begriff »Heimat« diskutiert, will niemand vom früheren Leben in der konkreten Heimat wissen, als es die noch gab, die es seit ihrer Deportation nicht mehr gab.
Mit untrüglichem Gespür für alles Abgründige in der gelebten Normalität erzählt Andreas Maier von Deutschland zwischen Weltkrieg, Mauerfall und Jahrtausendwende; davon, wie es sich die Menschen gemütlich machen in vierzig Jahren Geschichte. Unbestechlich ist sein Blick auf eine Heimat, die seit jeher Fiktion ist.

<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

 
 
 
 
 

Im fünften Schuljahr lernten wir im Unterricht zum ersten Mal eine englische Familie kennen, zwei Jahre später eine französische. Die englische Familie hieß Scott (oder Smith?), die französische Leroc. Jede der beiden Familien hatte Kinder, ich glaube, immer genau zwei (mehr wären wohl unübersichtlich gewesen, eines zu langweilig), stets ein Mädchen und einen Jungen, und dazu irgendwelche Haustiere, einen Hund oder eine Katze oder einen Kanarienvogel. Die Familien verhielten sich so eingeschränkt wie unsere Fremdsprachenkenntnisse. Am Anfang waren die Familienmitglieder andauernd damit beschäftigt, sich irgendwem vorzustellen: Hello, my name is soundso. Das Gegenüber antwortete: Hello, my name is soundso. Zwar besaßen sie eine ganz normale Wohnung, und mindestens der Vater hatte Arbeit, aber sie sprachen am Anfang viel rudimentärer Englisch oder Französisch als wir Deutsch. Die Frau putzte die Wohnung und fragte, wo der und der Gegenstand sei: Wo ist der Teller? Der Teller steht auf dem Tisch. Wo ist die Lampe? Die Lampe steht auf der Kommode. Es hatte durchweg roboterhafte Züge. Wir Kinder begleiteten die Kinder auf Ausflüge, fuhren an einen See, dort lagen dann Boote (Look, a ship!), und der Himmel wurde benannt und der Strand und vielleicht auch der Leuchtturm. Überhaupt schienen Engländer und Franzosen von einem durchgängigen Benennungsfuror beherrscht.

Mindestens die Engländer waren weitaus höflicher als wir. Es gab in den Familien auch keine ernsthaften Streitereien. Immerhin wurde manchmal einer krank. Dann kam der Doktor. Jemand hatte Halsschmerzen und lag im Bett. Die Einzelteile des Betts wurden gleich alle mitbenannt: Kissen, Decke, Matratze. Die Krankheit ging glücklich aus, die betreffende Person wurde wieder gesund und war auch nicht ernsthaft krank gewesen, das hätte der Schulbuchverlag uns nicht zumuten wollen. Die Franzosen schienen insgesamt mehr zu essen als die Engländer, sie aßen auch öfter. Die Engländer dagegen fuhren häufiger mit dem Auto. Die englische Familie in der fünften Klasse bewegte sich eher als homogenes Ensemble durch die Welt, die Franzosen in der siebten zerfielen schon bald in recht eigenständige Atome, die außerhäuslich Freundschaften pflegten und dann dort die Dinge benannten, bald schon in Konditionalsätzen sprachen und hypothetische Dinge äußern konnten.

Die Engländer und die Franzosen hatten keine Geschichte und lebten in einer völlig gleichbleibenden, konstanten Welt ohne Veränderung, genau wie wir (abgesehen von der Ausstrahlung jenes Fernsehmehrteilers, der zeitgleich zu unseren ersten Englischversuchen gelaufen war). Die beiden Familien waren vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ausgenommen, übrigens wurden sie meiner Erinnerung nach auch nicht älter, obwohl vor allem die Kinder hin und wieder Geburtstag hatten und dann die Geschenke ausführlich benannten: Oh, eine Puppe! Oh, ein Buch!

Gestorben wurde sowieso nicht. In der lieblichen Modellhaftigkeit der beiden Familien war der Sprachunterricht ein geradezu pazifistischer Gegenentwurf zu Schwester Adelheids Folter-und-Mord-Kunde.

Auf die Mädchen hatte Französisch eine größere Wirkung als Englisch. Es wehte etwas elegant Kosmopolitisches in den oberhessischen Klassenraum. Und die Mädchen waren nun ja auch schon zwei Jahre älter als bei Englisch. Die neu zu lernende Sprache gab ihnen eine ganz neue Vorstellung von Unabhängigsein zwischen den heimatlichen Zuckerrübenfeldern und Schrebergärtenzonen.

Es ging vor allem um die ganz akkurate, akzentfreie Aussprache des Französischen. Kaum waren erste grammatische Grundlagen da, wurde unter den Mädchen Konversation geübt, besonders unter jenem Gesichtspunkt der möglichst »französischen« Aussprache.

So standen sie auf dem Pausenhof und führten Gespräche:

Bonjour, je m'appelle Marion.

O, quel beau nom, mon nom est Petra.

Je viens de Dorheim. Et d'où viens-tu?

Moi, je viens de Bauernheim.

Für die nicht affizierten Jungs war faszinierend zu sehen, wie die betreffenden Mädchen es tatsächlich hinkriegten, wahrscheinlich durch stundenlanges Üben täglich und eine Art Mimikry, viel besser zu artikulieren als sie.

Eines Tages kam die Französischlehrerin, Frau Zimmermann, in unseren Klassensaal, blieb vor den Versammelten stehen und hielt eine kleine Ansprache folgenden Wortlauts:

Also, jetzt, wo ihr Französisch lernt, werdet ihr natürlich auch eine neue Welt kennenlernen. Wer war denn von euch schon mal in Frankreich?

Es hob sich keinerlei Hand.

Aber vielleicht werdet ihr ja auch einmal mit euren Eltern nach Frankreich fahren. Wißt ihr, was wir tun können? Wir können uns alle einen französischen Vornamen geben. Dann heißt ihr für die Dauer des Unterrichts mit dem französischen Vornamen. Manfred etwa, du könntest dann Eric heißen, aber das ist jetzt nur ein Beispiel, Manfred, du darfst dir deinen Namen natürlich selbst wählen. Na, wie findet ihr den Vorschlag?

Die Mädchen wurden erwartungsvoll unruhig, den Jungs war es vollkommen egal.

Udo Büttner hob die Hand.

Ja, Udo? fragte die Lehrerin.

Er: Ich kenne überhaupt keine französischen Vornamen.

Die Jungs kicherten.

Mann, bist du blöd, rief ein Mädchen.

Frau Zimmermann: Ich darf doch sehr bitten. Ich war mit meinem Vorschlag ja noch gar nicht fertig. Ihr seid 24 in der Klasse, also brauchen wir 24 Vornamen. Die müssen wir erst einmal zusammenbekommen, bevor es weitergehen kann. Es sind, Moment, eins … zwei … drei … hm … vierzehn Mädchen in der Klasse und zehn Jungs. Also sammeln wir jetzt erst einmal an der Tafel vierzehn Mädchennamen und zehn für die Jungs.

Michael Markgraf: Ich schlage Helga vor!

Die Jungs kicherten erneut, die Mädchen riefen »Blödmann« und streckten Michael Markgraf die Zunge heraus.

Frau Zimmermann: Also, wenn ihr das gleich torpediert, können wir es auch sein lassen.

Darauf ging ein Entrüstungssturm bei den Mädchen los. Sie wollten alle unbedingt einen französischen Namen erhalten.

Es wurden nun zunächst zehn Männervornamen gesucht und notiert, was weitgehend diszipliniert vonstatten ging. Die meisten Vorschläge kamen von den Mädchen, uns Jungs fiel fast kein Name ein. Dann wurden die Namen an die Jungs verteilt. Jeder sollte sich einen aussuchen. Bei der Verteilung herrschte völlige Unbeteiligtheit.

Dann kamen die Mädchen dran, und schon bei der Erstellung der Liste ging es zu wie im Vogelhaus bei der Fütterung. Hände reckten sich und winkten und schnipsten, dazu machten die Mädchen die typischen Ungeduldsgeräusche.

Es kamen in kurzer Zeit die klangvollsten französischen Frauennamen an die Tafel:

Angélique

Constance

Valentine

Chloé

Amélie

Bei Chloé lachten einige Jungs derart, daß der Vorschlag wieder von der Liste gestrichen wurde. Das Mädchen, das den Vorschlag gemacht hatte, verstand das nicht und lehnte sich schmollend und mit verschränkten Armen in ihren Stuhl zurück. Ihr Blick erinnerte dabei an den meines Onkels, wenn er von meiner Mutter oder meinem Vater einen seiner Aufträge erteilt bekam (davon wird später die Rede sein).

Frau Zimmermann: So, nun haben wir vierzehn sehr schöne Namen zusammen, jetzt müssen wir sie verteilen. Dazu …

Annette Wagner: Ich will Angélique heißen!!

Marion Wiesner: Nein, ich will Angélique heißen!!

Sabine Neumann: Ich habe Angélique vorgeschlagen, also will ich auch so heißen!! Sonst hätte ich es gar nicht vorgeschlagen.

Marion: Nein, ich habe Angélique zuerst vorgeschlagen.

Annette: Das stimmt doch überhaupt nicht!

Frau Zimmermann: Also, so etwas habe ich ja noch nie erlebt! In der letzten Klasse ging das doch völlig gesittet vonstatten!

Udo Büttner (er stand an der Tafel und notierte): Kann ich jetzt Angélique ausstreichen?

Die drei Mädchen: Nein, er ist noch nicht vergeben. Ich will ihn haben.

Frau Zimmermann: Aber die anderen Namen sind doch auch schön!

Die drei: Ich will so heißen. Ich! Ich!

Frau Zimmermann klatschte das Klassenbuch auf den Tisch, stand auf und rief: So, jetzt reicht es mir aber. Was ist denn das für ein Theater! Ihr kriegt jetzt alle drei...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2023
Reihe/Serie Ortsumgehung
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adolf Hitler • aktuelles Buch • Andreas Baader • Angst • antisemitisch • Antisemitismus • Bad Nauheim • BRD • bücher neuerscheinungen • Bundesrepublik Deutschland • CDU • DDR • Deportation • Deutsche Demokratische Republik • Deutsche Geschichte • Deutscher Herbst • Drittes Reich • Einwanderung • Elvis Presley • Erinnerungskultur • Fremdenhass • Friedberg • Geschenk für Männer • Geschenk Mann • GI • GIS • Gudrun Ensslin • Hanns Martin Schleyer • Herkunft • Hessen • Holger Meins • Identität • Inklusion • Jahrtausendwende • Joachim Fest • Judentum • Jüdisch • Jürgen Habermas • Mauerfall • Michail Gorbatschow • Multikulti • multikulturell • Nationalsozialismus • Neuerscheinungen • neues Buch • NSDAP • Ortsumgehung • Ostdeutschland • Ost-West-Konflikt • Philipp Jenninger • RAF • Rote Armee Fraktion • Rudi Dutschke • Sachsen • Schoah • Shoah • Synagoge • Todesnacht von Stammheim • Ulrike Meinhof • Vergangenheitsbewältigung • Westdeutschland • Wetterau • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-518-77548-0 / 3518775480
ISBN-13 978-3-518-77548-6 / 9783518775486
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99