Der doppelte Erich (eBook)

Kästner im Dritten Reich | Biographie
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01312-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der doppelte Erich -  Tobias Lehmkuhl
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Berlin, Anfang der Dreißigerjahre. Erich Kästner befindet sich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs: «Pünktchen und Anton» und «Das fliegende Klassenzimmer» begeistern international, «Emil und die Detektive» wird 1931 verfilmt (Drehbuch Billy Wilder). Dann die Zäsur: Als die Nazis die Macht übernehmen, entscheidet sich Kästner, in Deutschland zu bleiben. Er, der kurz zuvor noch ein Spottgedicht auf Hitler verfasst hat, muss vor Ort mitverfolgen, wie seine Bücher verbrannt werden; bald darauf erhält er Publikationsverbot. Und doch gelingt es ihm, über die Runden zu kommen, und das nicht einmal schlecht. Er schreibt unter Pseudonymen, übernimmt Auftragsarbeiten, zuletzt auch für die Ufa, die längst von Goebbels politisch instrumentalisiert wird. All das wirft Fragen auf: Wie weit passte Kästner sich im Dritten Reich an, wo bekannte er Farbe? Wie schmal war der Grat, auf dem er wandelte? Tobias Lehmkuhl beleuchtet dieses Kapitel im Leben des großen deutschen Erfolgsautors. Wir begleiten Kästner bei seinen Streifzügen durch die Stadt, folgen seinem publizistischen Maskenspiel - und lernen dabei den Moralisten, Verseschmied und Schöpfer zeitlos-populärer Kinderbücher und Romane noch einmal neu und anders kennen.

Tobias Lehmkuhl, geboren 1976, studierte in Bonn, Barcelona und Berlin. Seit 2002 arbeitet er als freier Journalist, u. a. für «Die Zeit», Deutschlandfunk und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». 2018 erschien seine viel gelobte Nico-Biografie, zu der die «Berliner Zeitung» schrieb: «Lehmkuhls gründlich recherchiertes und faktensattes Buch schafft Raum, um sich eine eigene Vorstellung zu machen.» 2017 erhielt Tobias Lehmkuhl den Berliner Preis für Literaturkritik.

Tobias Lehmkuhl, geboren 1976, studierte in Bonn, Barcelona und Berlin. Seit 2002 arbeitet er als freier Journalist, u. a. für «Die Zeit», Deutschlandfunk und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». 2018 erschien seine viel gelobte Nico-Biografie, zu der die «Berliner Zeitung» schrieb: «Lehmkuhls gründlich recherchiertes und faktensattes Buch schafft Raum, um sich eine eigene Vorstellung zu machen.» 2017 erhielt Tobias Lehmkuhl den Berliner Preis für Literaturkritik.

2. Das Leben, ein Maskenball


Die vielen Gesichter des Erich Kästner

«Dieser mittelgroße Sachse aus Dresden mit seinem merkwürdigen Gesicht, das immer anders aussieht und doch immer Kästners Gesicht bleibt – dieser Lyriker hat es fertig gebracht, Lyrik in Deutschland wieder populär zu machen»[9], schreibt Hans Fallada 1931 in seinem überschwänglichen Lob des Dichters. Fallada wird Kästner persönlich gekannt haben, wie sich auch Kästner und Zuckmayer gekannt haben und wie sich überhaupt alle Schriftsteller der Weimarer Republik mindestens über den Weg gelaufen sind. Und dabei hat Fallada etwas gesehen, was sonst niemand gesehen hat und was uns auch die vielen Fotografien, die es von Kästner gibt, nicht verraten.

Auf Fotos ist Kästner sich selbst stets sehr ähnlich, man erkennt ihn sogar in Menschengruppen schnell: Meist ist er der Kleinste, sein spitz zulaufendes Kinn macht ihn ebenso unverkennbar wie die hohe Stirn, auf der sich die Haare rechts und links schon mit Ende zwanzig zu lichten beginnen. Die Augen blicken meist ohne Scheu in die Kamera, das Lächeln ist freundlich, in späteren Jahren gütig, und wenn er nicht lächelt, ist sein Gesichtsausdruck von einer gewissen Kernigkeit. Trotz seiner bescheidenen Körpergröße und Schmalbrüstigkeit ist er zweifellos ein attraktiver Mann. Aber ein Gesicht, «das immer anders aussieht»? Die Fotografien beglaubigen das nicht.

Umso mehr seine Texte. Auf keinen anderen Schriftsteller der Zeit trifft Arthur Rimbauds Diktum «Je est un autre» – «Ich ist ein Anderer» so sehr zu wie auf Kästner. Sein Werk ist ein einziges Vexierspiel. Es wimmelt darin von Doppelgängern, Masken und falschen oder verborgenen Identitäten.

Erste Spuren dieser Obsession finden sich schon vor 1933. In «Pünktchen und Anton» etwa ist der Auftritt der Fabrikantentochter Pünktchen als Bettelkind auf der Weidendammer Brücke in Berlin Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Und in «Das fliegende Klassenzimmer», das im Jahr der Machtübergabe erschien, beschäftigt sich ein Handlungsstrang mit der Frage, was es mit dem geheimnisvollen «Nichtraucher» auf sich hat, jenem Mann ohne Namen und Geschichte, der inmitten des Ortes und doch ganz und gar im Abseits lebt.

Schon 1931 erschien Kästners langes Gedicht «Der Traum vom Gesichtertausch» (zuerst in der «Vossischen Zeitung» abgedruckt, dann in den Band «Gesang zwischen den Stühlen» aufgenommen). Es handelt auf für ihn ungewöhnlich unheimliche Weise von der Frage «Wer bin ich?»:

Als ich träumte, was ich jetzt erzähle,

drängten Tausende durch jenes Haus.

Und als ob es irgendwer befehle

und das eigne Antlitz jeden quäle,

zogen alle die Gesichter aus.

 

Wie beim Umzug Bilder von den Wänden

nahmen wir uns die Gesichter fort.

Und dann hielten wir sie in den Händen,

wie man Masken hält, wenn Feste enden.

Aber festlich war er nicht, der Ort.[10]

Hätte Kästner dieses Gedicht (es folgen noch sechs weitere Strophen) 1935 oder 1940 und nicht bereits 1931 geschrieben, würde man es augenblicks als Allegorie auf das Leben in der Nazi-Diktatur auffassen: Die Massen, die durch ein «Haus», ein Land drängen und auf autoritäre Weisung hin gesichtslos werden, eine schaurige Vision. Aber das Gefühl, sich selbst fremd zu sein, unsicher zu sein, wer man ist, war Kästner schon lange und wahrscheinlich von Kindheit an vertraut. Mit der Machtübergabe und der zunehmend existenziellen Bedrohung der eigenen Lebens- und Schreibsituation aber verschärft sich dieses Gefühl noch einmal. Kästner schreibt nun kein einziges Werk mehr, in dem es nicht darum geht, dass einer sich das ‹Gesicht auszieht›.

 

Das Motiv des Doppelgängers hat freilich eine lange Tradition. Man denke an die Erzählungen von Edgar Allan Poe, Fjodor Dostojewski und E.T.A. Hoffmann, an Oscar Wildes «Dorian Gray» oder Robert Louis Stevensons «Dr. Jekyll und Mr. Hyde». Anders als in diesen klassischen Geschichten und Kästners Gesichtertausch-Gedicht aber hat das zweite Gesicht in Kästners Prosa – und mit Beginn des Dritten Reichs wird er fast nur noch Prosa schreiben – erst einmal nichts Bedrohliches an sich. Im Gegenteil, der Identitätswechsel ist in vielen Fällen spielerisch und befreiend, fast eine Utopie.

Ein glanzvolles Bild am Vorabend dunkler Zeit: Der Autor als Star, der Autogramme gibt. Porträt von Umbo, November 1932.

Da wäre der Großindustrielle in «Drei Männer im Schnee», der sich einen Spaß daraus macht, sich als armer Schlucker auszugeben. Da wäre der Versicherungsangestellte in «Die verschwundene Miniatur», der damit kokettiert, ein Kunstdieb zu sein. Und da wäre schließlich die Comtesse in «Der kleine Grenzverkehr», die sich als Dienstmädchen verkleidet und genau wie der Rest der Familie, einem Drehbuch ihres Vaters, des Grafen folgend, so tut, als würde sie zum Hauspersonal gehören.

Auch in den Lustspielen, die Kästner mit anderen Autoren zusammen verfasst hat, geben sich die Figuren selten als die aus, die sie sind. Das ist freilich dem Genre geschuldet: Komödien sind, gerade in den Dreißigerjahren, häufig Verwechslungskomödien und folgen damit einer langen, bis zu Shakespeare zurückreichenden Tradition.

Auch Kästners letztes während des Kriegs abgeschlossenes Werk, das Drehbuch zum «Münchhausen»-Film von 1943 mit Hans Albers in der Hauptrolle, liebt Maskeraden. Gleich das erste Abenteuer Münchhausens, seine Film-Affäre mit Katharina der Großen, beginnt mit des Helden Verblüffung darüber, dass das lustige Bauernmädel, mit dem er an seinem ersten Tag in St. Petersburg anbändelt, sich am nächsten Abend als russische Zarin herausstellt.

 

Aber dann gibt es von Kästner noch drei Texte, die in den Dreißigerjahren entstanden, in denen das Spiel mit den Identitäten alles andere als lustig ist: «Der Doppelgänger» setzt damit ein, dass die Hauptfigur namens Karl sich umbringen möchte, worauf aber ein Engel Karl vom Selbstmord abhält und ihm von Gott ausrichtet, er möge sich «unverzüglich aufmachen und sich selber suchen».

Was in heutigen Ohren sehr therapeutisch klingt, wird zumindest von Karl ganz unmetaphorisch aufgefasst: «‹Ich werde mir begegnen?› fragte der junge Mann betroffen.»[11] Karl scheint darüber erschrocken, dass es ihn auf irgendeine rätselhafte, aber doch konkrete Weise ein zweites Mal geben soll, und tatsächlich endet das kurze Fragment damit, dass sich ein namenloser Mann in einem Café erschießt, ganz als würde er Karls geplanten Selbstmord nun vollenden.

Das andere Selbst ist also eine Bedrohung, ist die Schattenseite des Lebens, der unsichtbare Abgrund, vor dem sich Karl wähnt und der auch Kästner nicht unbekannt ist.

Ein zweiter Versuch, das Doppelgänger-Motiv zum eigentlichen Thema eines Romans zu machen (und es nicht bloß dazu zu benutzen, die Handlung humoristisch voranzutreiben), ist Kästner etwas länger geraten; am Ende wird er allerdings auch ihn abbrechen. «Der Zauberlehrling» heißt das Fragment, die Hauptfigur trägt den ganz unheldenhaften Namen Alfons Mintzlaff, und dieser Mintzlaff bekommt – es ist ganz so, als wäre «Der Zauberlehrling» der Doppelgänger von «Der Doppelgänger» – Besuch von höherer Instanz. Aber nicht von einem Engel, wie Karl, sondern gleich von einem Gott, dem Hauptgott der alten Griechen: Zeus. Der nennt sich zu Tarnungszwecken Baron Lamotte und führt Mintzlaff nach Davos, wo, wie Lamotte ihm sagt, Mintzlaffs Doppelgänger sein Unwesen treibt: «Ich bin gespannt, wie ich aussehe»[12], sagt Mintzlaff halb scherzend.

Tatsächlich gibt es keine äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen dem echten und dem falschen Mintzlaff; beim falschen handelt es sich schlicht und einfach um einen Hochstapler. Dafür aber offenbart sich in Davos ein anderes zweites Ich, jenes gespaltene Selbst, wie es zuerst im «Traum vom Gesichtertausch» aufblitzte. Denn zufällig – oder weil Zeus es so eingefädelt hat – taucht in Davos auch Mintzlaffs einstige Geliebte Sumatra Hoops, kurz Hallo genannt, auf; selbst im Hotel steht auf ihrem Nachttisch immer noch Mintzlaffs Porträt. Auch er weiß, dass er keine bessere Partnerin finden kann, aber irgendetwas steht dem Glück im Weg. Natürlich er selbst. Oder besser gesagt: jenes Selbst, das nicht immer tut, was das Ich will. Er hätte sie heiraten sollen, meint Zeus, aber Mintzlaff kann nur antworten: «Ich wollte nicht.» Worauf Zeus enigmatisch, fast im Kafkaton erwidert:

«Die gläserne Mauer war wieder einmal im Wege! Das Glück, das Ihnen bevorstand, hätte Sie zu sehr abgelenkt!»

In dieser Szene sehen wir nicht nur Mintzlaff und seinen inneren Doppelgänger auf der anderen Seite der gläsernen, inneren Mauer. Ein weiteres Doppelgängerpaar steht gleich daneben: Erich Kästner und Baron Lamotte, der als Stellvertreter des Autors zugleich dessen eigene Bindungsunfähigkeit in der Figur Mintzlaff analysiert. Alter Egos, wohin man blickt. Man könnte Kästners Werke der Dreißigerjahre insgesamt als Literatur der Uneigentlichkeit bezeichnen, denn kaum jemand und kaum etwas tritt als das auf, was er oder es eigentlich ist: Selbst das titelgebende Kunstwerk in «Die verschwundene Miniatur» hat einen Doppelgänger, es gibt ein...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2023
Zusatzinfo Mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 125. Geburtstag • Berlin • Biographie • Bücherverbrennung • «Das Blaue Buch» • «Das doppelte Lottchen» • Dichter • Drittes Reich • «Emil und die Detektive» • Erich Kästner • Inneres Exil • Journalist • Kinderbücher • Lyriker • Moralist • Nationalsozialismus • NS-Zeit • Pseudonym • «Pünktchen und Anton» • Schriftsteller • verbotener Autor • Widerstand • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-01312-8 / 3644013128
ISBN-13 978-3-644-01312-4 / 9783644013124
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