Sekunden der Gnade (eBook)

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2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61398-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sekunden der Gnade -  Dennis Lehane
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Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen - und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.

Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, hat bisher 14 Romane veröffentlicht, vier davon wurden verfilmt, darunter die Weltbestseller ?Shutter Island? und ?Mystic River?. Lehane unterrichtete Kreatives Schreiben unter anderem an der Harvard University und ist erfolgreicher Produzent und Drehbuchautor, zuletzt für die Apple-TV+-Serie ?In with the Devil?. Dennis Lehane lebt in Südkalifornien.

Dennis Lehane, irischer Abstammung, geboren 1965 in Dorchester, Massachusetts, schrieb für ›The Wire‹ und war Creative Consultant für ›Boardwalk Empire‹. Er unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard. Seine erfolgreich verfilmten Bücher ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ sind Weltbestseller. Dennis Lehane lebt in Kalifornien und Boston.

Irgendwann vor Tagesanbruch fällt der Strom aus, und ganz Commonwealth erwacht von der Hitze. Die Fensterventilatoren der Fennessys haben mitten im Drehen den Geist aufgegeben, und der Kühlschrank schwitzt Kondenswasser. Als Mary Pat den Kopf bei Jules reinsteckt, liegt ihre Tochter mit fest geschlossenen Augen und halb offenem Mund auf der Bettdecke und pustet kurze Atemstöße in ein feuchtes Kissen. Mary Pat geht durch den Flur in die Küche und zündet sich die erste Zigarette des Tages an. Sie schaut aus dem Fenster über der Spüle und riecht die aufgeheizten Backsteine der Fensterlaibung.

Dass sie keinen Kaffee kochen kann, wird ihr erst klar, als sie es tun will. Sie würde welchen auf dem Herd kochen – es ist ein Gasherd –, aber das Gasunternehmen war ihre Ausreden leid und hat ihnen letzte Woche den Hahn zugedreht. Um die Schulden zu bezahlen, hat Mary Pat zwei Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik übernommen, in dem sie ihren Zweitjob hat, aber sie ist trotzdem noch drei Schichten und einen Gang zu Boston Gas davon entfernt, Wasser zu kochen oder ein Hähnchen zu braten.

Sie trägt den Mülleimer ins Wohnzimmer und fegt die Bierdosen hinein. Leert die Aschenbecher auf dem Beistelltisch und dem Couchtisch und entdeckt noch einen auf dem Fernseher. Ihr Blick fällt auf den Bildschirm und ihr Spiegelbild darin, und sie sieht ein Geschöpf, das sie beim besten Willen nicht mit dem Bild von sich in ihrem Kopf zusammenbringen kann, zu wenig Ähnlichkeit damit hat dieser verschwitzte Trampel in Tanktop und Shorts, mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn, der da vor ihr steht. Selbst im matten Grau des Bildschirms erkennt sie die blaue Äderung außen an den Oberschenkeln, was irgendwie doch gar nicht sein kann. Noch nicht. Sie ist erst zweiundvierzig, was ihr vielleicht mit zwölf vorkam wie mit einem Fuß in Gottes Wartezimmer, aber jetzt, wo sie selbst so alt ist, fühlt sie sich wie immer. Sie ist zwölf, sie ist einundzwanzig, sie ist dreiunddreißig, sie ist alle Lebensalter gleichzeitig. Aber sie altert nicht. Nicht im Herzen. Nicht in ihrer Vorstellung.

Sie betrachtet ihr Gesicht im Fernseher und wischt sich die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn, da klingelt es an der Tür.

Nach einer Serie von Hausfriedensbrüchen zwei Jahre zuvor, im Sommer ’72, hat das Wohnungsamt Türspione spendiert. Mary Pat schaut jetzt durch ihren und sieht Brian Shea draußen im minzgrünen Hausflur, die Arme voller Holzlatten. Wie die meisten Leute, die für Marty Butler arbeiten, kleidet sich Brian ordentlicher als ein Diakon. Keine langen Haare, kein Schnäuzer bei den Butler-Leuten. Weder Koteletten noch Schlaghosen noch Plateauschuhe. Schon gar kein Paisley oder Batik. Brian Shea zog sich an wie jemand aus dem vorherigen Jahrzehnt – weißes T-Shirt unter einer dunkelblauen Baracuta-Jacke (Baracuta-Blousons, dunkelblau, hellbraun, gelegentlich auch dunkelbraun, sind das Markenzeichen der Butler-Jungs, sogar an Tagen wie heute, wenn das Thermometer um neun Uhr morgens schon sechsundzwanzig Grad anzeigt. Im Winter steigen sie auf Mäntel oder dick wollgefütterte Autocoats aus Leder um, doch im nächsten Frühjahr holen alle am selben Tag die Baracutas wieder aus dem Schrank). Brians Wangen sind glatt rasiert, die blonden Haare zu einem Bürstenschnitt gestutzt, und zur cremefarbenen Chino trägt er abgewetzte schwarze Stiefeletten mit seitlichem Reißverschluss. Brians Augen sind blau wie Glasreiniger. Die funkeln und glitzern sie ein wenig dreist an, als wüsste er über alles Bescheid, was sie zu verbergen glaubt. Und das Verborgene amüsiert ihn.

»Mary Pat«, sagt er. »Wie geht’s?«

Sie stellt sich ihre Haare wie pappige Spaghetti auf dem Kopf vor. Spürt jeden Fleck auf ihrer Haut. »Wir haben keinen Strom, Brian. Und bei dir so?«

»Marty kümmert sich darum. Er hat schon telefoniert.«

Sie sieht auf die dünnen Holzlatten in seinen Armen. »Soll ich dir die abnehmen?«

»Das wär klasse.« Er dreht sie in den Armen und stellt den Stapel senkrecht neben ihre Tür. »Für die Schilder sind die.«

Ihr fällt ein, dass sie am Abend Bier auf ihr Tanktop verschüttet hat, und sie fragt sich, ob Brian Shea das schale Miller High Life riechen kann. »Was für Schilder?«

»Für die Demo. Tim G bringt sie noch vorbei.«

Sie stellt die Latten in den Schirmständer an der Tür. Sie teilen sich den Platz mit dem einsamen Regenschirm mit der kaputten Speiche. »Die Demo findet also statt?«

»Am Freitag. Wir ziehen zur City Hall. Machen ein bisschen Radau, Mary Pat. Wie versprochen. Dafür brauchen wir das ganze Viertel.«

»Klar«, sagt sie. »Ich bin dabei.«

Er hält ihr einen Stoß Flugblätter hin. »Die sollen bis heute Mittag verteilt werden. Du weißt schon, bevor es hier heiß wie im Backofen wird.« Er wischt sich mit der Handkante den Schweiß von der glatten Wange. »Auch wenn’s dafür wohl schon zu spät ist.«

Sie nimmt die Flugblätter. Wirft einen Blick auf das oberste:

BOSTON WIRD BELAGERT!!!!!!!!

BEENDET GEMEINSAM MIT DEN BESORGTEN ELTERN

UND STOLZEN BÜRGERN VON SOUTH BOSTON

DIE JUSTIZDIKTATUR:

DEMO AM FREITAG, 30. AUGUST, AUF DER CITY HALL PLAZA

PUNKT 12 UHR!

KEINE UMVERTEILUNG PER BUS! NIEMALS!

WEHRT EUCH!

WIDERSETZT EUCH!

»Jeder übernimmt bestimmte Straßen. Für dich hätten wir …« Brian langt in die Brusttasche seiner Baracuta, zieht eine Liste heraus, sucht sie mit dem Finger ab. »Ah ja. Für dich die Mercer zwischen Eighth und Dorchester Street. Plus Telegraph bis zum Park. Und dann, na ja, alle Häuser rings um den Park.«

»Das sind ne Menge Türen.«

»Es geht um die Sache, Mary Pat.«

Immer wenn jemand von der Butler-Crew auf‌taucht und die Hand aufhält, geht es um Schutzgeld. Nur dass sie es nie so nennen. Sie verpacken es in ein edles Motiv: die IRA, die hungernden Kinder in Weiß-der-Geier-wo, Veteranenfamilien. Ein Teil des Geldes kommt vielleicht sogar da an. Aber die Sache mit dem Widerstand gegen die Busbeförderung wirkt, bisher zumindest, völlig legitim. Die gute Sache schlechthin. Und sei es nur, weil sie bisher keinen Cent von den Leuten in Commonwealth verlangt haben. Lediglich Laufarbeit.

»Ich helfe gern«, sagt Mary Pat zu Brian. »Hab dich nur verarscht.«

Darauf verdreht Brian müde die Augen. »Hier verarscht einen jeder. Wenn ich das hinter mir hab, bin ich am Arsch.« Er tippt sich an eine unsichtbare Mütze, ehe er den Flur runtergeht. »War schön, dich zu sehen, Mary Pat. Hoffe, ihr habt bald wieder Strom.«

»Warte mal«, ruft sie. »Brian!«

Er dreht sich zu ihr um.

»Was passiert nach der Demo? Was ist, wenn sich, was weiß ich, gar nichts ändert?«

Er breitet die Hände aus. »Das sehen wir dann.«

Warum knallt ihr diesen verfluchten Richter nicht einfach ab?, denkt sie. Ihr seid die gottverdammte Butler-Crew. Wir zahlen euch ›Schutzgeld‹. Jetzt schützt uns gefälligst. Schützt unsere Kinder. Setzt dem ein Ende.

Aber sie sagt nur: »Danke, Brian. Grüß Donna.«

»Mach ich.« Noch ein Tippen an die unsichtbare Mütze. »Grüß Kenny.« Sein glattes Gesicht erstarrt für einen Moment, als ihm vermutlich der neueste Nachbarschaftsklatsch einfällt. Er sieht sie mit Rehaugen an. »Ich meine, ich wollte –«

Sie erlöst ihn mit einem schlichten »Mach ich«.

Er lächelt schmal und geht.

Sie schließt die Tür und geht in die Küche, wo ihre Tochter am Tisch sitzt und eine ihrer Zigaretten raucht.

»Der Scheißstrom ist weg«, sagt Jules.

»Wie wär’s mit ›guten Morgen‹«, sagt Mary Pat. »›Guten Morgen‹ tut’s auch.«

»Guten Morgen.« Jules wirft ihr ein strahlendes Lächeln zu, das kühl wie der Mond ist. »Ich muss duschen, Ma.«

»Dann dusch doch.«

»Das Wasser ist kalt.«

»Und draußen ist es brühwarm.« Mary Pat zieht das Päckchen Slims vom Ellbogen ihrer Tochter zu sich rüber.

Jules verdreht die Augen, nimmt einen Zug, bläst den Rauch langsam und gleichmäßig Richtung Decke. »Was wollte er?«

»Brian?«

»Ja.«

»Woher kennst du denn Brian Shea?« Mary Pat zündet sich ihre Zweite an diesem Tag an.

»Ma«, sagt Jules mit großen Augen: »Ich kenne Brian Shea nicht. Ich weiß, wer Brian Shea ist, so wie alle im Viertel wissen, wer er ist. Was wollte er?«

»Es soll eine Demo geben«, sagt Mary Pat. »Einen Protestmarsch. Am Freitag.«

»Ändert eh nix.« Ihre Tochter klingt betont beiläufig, doch Mary Pat sieht, wie die Angst, die in ihren Augen schwimmt, die Ringe darunter noch dunkler macht. Dabei war Jules immer so ein hübsches Mädchen gewesen. So hübsch. Und jetzt altert sie. Mit siebzehn. Von was nicht alles – weil sie in Commonwealth aufgewachsen ist (kein Ort, der Schönheitsköniginnen und Models hervorbringt, mögen sie anfangs auch noch so hübsch sein); weil sie einen Bruder verloren hat und ihr Stiefvater gegangen ist, als sie endlich daran geglaubt hat, dass er bleibt; weil sie per Bundeserlass in ihrem Abschlussjahr in eine neue Schule in einem fremden Viertel wechseln soll, in dem weiße Jugendliche besser nicht nach Sonnenuntergang herumlaufen, ganz abgesehen davon, was sie mit gerade mal siebzehn mit ihren schwachköpfigen Freunden so treibt. Gras und Acid gibt’s an jeder...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2023
Übersetzer Malte Krutzsch
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Amok • biden • Drogen • Harris • Joe • Khamala • Mafia • Mord • Rache • Rassismus • Schule • Siebziger Jahre • Thriller
ISBN-10 3-257-61398-9 / 3257613989
ISBN-13 978-3-257-61398-8 / 9783257613988
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