Annas Lied (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
528 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491899-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Annas Lied -  Benjamin Koppel
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Eine große europäisch-jüdische Familiensaga - eine schillernde Geschichte über Liebe und die befreiende Kraft der Hoffnung Kopenhagen zwischen den Weltkriegen: Die politischen Entwicklungen der späten 1930er Jahre stehen unmittelbar bevor, doch noch ist die Wohnung der Koppelmans voller Trubel, Verwandter, Gespräche und Musik. Hannah, die jüngste der vier Geschwister, möchte eines Tages selbst Musikerin werden, wie ihre Brüder. Doch für sie, das einzige Mädchen, ist ein anderer Weg vorgesehen: Es ist an ihr, den Namen der Familie zu wahren und die Eltern nicht zu enttäuschen. Krieg, Flucht und die Trennung von ihrer großen Liebe Aksel verschlagen sie nach Paris in eine arrangierte Ehe. Weit weg von zu Hause erinnern nur die Musik und Aksels Briefe Hannah - eigentlich Anna - daran, wer sie einmal werden wollte. Kann sie die Pflichten des Lebens annehmen und ihre eigenen Träume trotzdem festhalten? »Annas Lied« ist eine mitreißend und warmherzig erzählte, weltumspannende Geschichte über verbotene Liebe, Einsamkeit und Pflichtbewusstsein - und nicht zuletzt über die heilende Kraft der Musik, inspiriert vom jüdischen Erbe Benjamin Koppels und seiner Familie. »Fantastisch!« Dagbladens Bureau

Benjamin Koppel, geboren 1974, ist ein international bekannter dänischer Jazz-Musiker. Er stammt aus einer Musikerfamilie, in der das Geschichtenerzählen beim Abendessen schon immer eine große Rolle gespielt hat. Anna war die lange verschollene Schwester seines Großvaters. Ihre Geschichte fand er so faszinierend, dass er unbedingt davon erzählen wollte. Mit »Annas Sang«, das 2022 in Dänemark erschienen ist, gelang Benjamin Koppel ein Überraschungsbestseller.

Benjamin Koppel, geboren 1974, ist ein international bekannter dänischer Jazz-Musiker. Er stammt aus einer Musikerfamilie, in der das Geschichtenerzählen beim Abendessen schon immer eine große Rolle gespielt hat. Anna war die lange verschollene Schwester seines Großvaters. Ihre Geschichte fand er so faszinierend, dass er unbedingt davon erzählen wollte. Mit »Annas Sang«, das 2022 in Dänemark erschienen ist, gelang Benjamin Koppel ein Überraschungsbestseller.

Erster Teil


1929

Kopenhagen


1


In der Schneiderwerkstatt ihres Vaters leerte Hannah gedankenverloren die Schachtel mit den Stecknadeln auf dem Tisch aus, um sie gleich danach mit einem kleinen hufeisenförmigen Magneten wieder aufzusammeln. Sie streifte die Nadeln in die Schachtel und begann wieder von vorn; währenddessen summte und sang sie vor sich hin.

Heute ging ihr wieder Brahms durch den Kopf. Der dritte Satz seines großen, schwermütigen Requiems. Hannah kannte nur Bruchstücke des Textes, summte aber auch dann unbeirrbar weiter, wenn ihr die Worte fehlten, bis die Sätze aufs Neue den Weg aus ihrem Unterbewusstsein fanden.

»Lehre doch mich, dass mein Leben ein Ziel hat«, die Zeile kannte sie gut. Aber eigentlich war das Beste der Wechsel zwischen der schlichten Melodie der Solobaritonpartie und der gefühlvollen Antwort des Chores. Hannah konnte deshalb die erste Minute, ja, sogar die ersten anderthalb Minuten des Satzes wieder und wieder singen, wie eine Schleife, die von jeder willkürlich gewählten Stelle in der Melodie ständig zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Brahms war ihr Lieblingskomponist unter ihren vielen Lieblingskomponisten.

»Was summst du da, mein Kind?«, erkundigte sich Yitzhak, ohne von seiner Nähmaschine aufzublicken.

»Brahms, Vater!«

Hannah sang lauter, mit einer kräftigen Stimme: »… wes soll ich mich trösten.«

Yitzhak blickte auf und warf seiner nun durch den Raum tanzenden Tochter einen sanften, freundlichen Blick zu.

»Meine Lieblingstochter und ihre Musik!«

»Lieblingstochter? Das sagst du so … ich bin auch deine einzige Tochter!«

Yitzhak hob erneut den Kopf von seiner Näharbeit: »Aber dafür bist du auch ganz bestimmt meine Lieblingstochter.«

Hannah sang weiter, setzte sich wieder an den Tisch und versuchte nun aus den vielen durcheinander liegenden Nadeln, deren Köpfe Noten ähnelten, einen kleinen Berg zu bauen. Die Sonne schien durch die große Fensterfront, und die Sprossen der Rahmen erinnerten Hannah an die Linien von Notenpapier. Ihr Blick suchte etwas, das wie ein Notenschlüssel aussehen könnte, dann wäre sie von Musik umgeben. Sie war am liebsten von Musik umgeben.

Die Stecknadeln tanzten unter dem Magneten, es war reine Magie, so viele Nadeln in Bewegung zu bringen, ohne sie auch nur zu berühren – es faszinierte sie jedes Mal aufs Neue. Immer wieder schüttete sie die Schachtel auf dem Tisch aus und ließ den Magneten die feinen Nadeln aufsammeln – bis sie aus ihrem verträumten Zustand herausgerissen wurde, als ihr Vater rief: »Hannah, Hannah! Wir müssen uns beeilen, wir müssen los. Komm!«

 

Yitzhak fuhr schnell, er trat energisch in die Pedale des langen Lastenrads, und Hannah saß auf der Ladefläche und hielt sich mit aller Kraft am Rahmen fest. Sie waren so rasch von der Schneiderwerkstatt in der Mattæusgade zur Fiolstræde gefahren, dass Yitzhak sich erst einmal setzen und um Atem ringen musste, bevor er wieder sprechen konnte.

»Aber mein Hintele, weshalb hast du es denn so eilig?«, erkundigte sich Bruche, als sie ihm Hut und Mantel abnahm.

»Es … ist doch heute …«

Er prustete mehr, als er sprach.

»Was ist heute?« Bruche wusste nicht, was er meinte.

»Heute … kommen doch Jacob und Esther in die Stadt.«

Er hatte sich wieder hochgerappelt.

»Und ich habe versprochen … dass sie bei uns wohnen können!«

Jacob war der Letzte von Yitzhaks vier Geschwistern, der Błaszki verlassen hatte. Hannahs Onkel Alter war der Erste gewesen. Und er hatte es tatsächlich bis nach Amerika geschafft. Davon hatten sie alle geträumt: das Land der Möglichkeiten. Das Land der Freiheit. Aber Jacob und Esther kamen zu spät. Seit 1880 hatte Amerika mehr als drei Millionen jüdische Emigranten aus Europa aufgenommen, und 1924 hatte der amerikanische Kongress die Einwanderung weitgehend unterbunden.

Yitzhak und Bruche waren mit Dänemark zufrieden. Nach mehr als zwanzig Jahren in diesem Land hatte Yitzhak das Gefühl, eigentlich eher Däne als Pole zu sein. Er hatte sein neues Zuhause rasch schätzen gelernt. Er und Bruche fühlten sich wohl in Kopenhagen, so wohl, dass sie Yitzhaks übrige drei Geschwister ermuntert hatten, zu ihnen zu ziehen. Gittel hatte mit ihrem Mann Abraham den Anfang gemacht. Dann waren Store-Moishe, der große Moische, und seine Frau Moriah gekommen. Und nun hatten sich auch Jacob und Ester auf den Weg gemacht.

»Oh, Hintele, dass du mir das erst jetzt erzählst! Du Schmendrick! Du Tipesh! Idiot!«

Bruche verdrehte die Augen und war plötzlich sehr geschäftig. Sie zog ihren weiten Wollmantel an und ging in Pantoffeln ein paar Stockwerke die Treppe hinunter zur Witwe Birnbaum, die immer nur darauf wartete, dass irgendjemand etwas von ihr wollte. Jede Störung war für die Witwe ein willkommenes Abenteuer, auch wenn sie stets so tat, als sei sie gerade mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt.

»Sie können jeden Moment hier sein!«, erklärte ihr Bruche besorgt. Und dann fing sie an zu putzen.

Hannah, die eigentlich gerade ihr eigenes Zimmer bekommen und sich daran gewöhnt hatte, allein in der kleinen Kammer hinter der Küche zu schlafen, musste ihre Sachen in das Schlafzimmer der Eltern tragen.

»Du wirst in der nächsten Zeit bei uns schlafen.«

»Und wann bekomme ich mein Zimmer zurück?«, wollte sie wissen, während sie ihr Stoffkaninchen Lucy streichelte.

»Wenn Onkel Jacob und Tante Esther eine eigene Wohnung gefunden haben. Vorher nicht. So ist es nun mal, anders geht es nicht« Bruche reagierte gereizt auf Hannahs Frage.

Bisher war nur Joseph, der älteste von Hannahs vier größeren Brüdern aus der elterlichen Wohnung ausgezogen. Joseph hatte ein Stipendium bekommen und durfte während seines Studiums kostenlos ein Zimmer in einem dem Konservatorium angeschlossenen Kollegium bewohnen. Ihre drei anderen Brüder teilten sich noch immer ein Zimmer, obwohl es viel zu klein für die drei großen, jungen Männer war. Also gab es keine andere Möglichkeit, als Jacob und Esther die Kammer zu überlassen, über die Hannah sich so gefreut hatte.

»Du wirst sie schon wiederbekommen, mein kleines Bufkele«, sagte Bruche, als sie sah, welche Mühe Hannah sich gab, auszusehen wie jemand, der seines Heimes beraubt und in die Flucht getrieben worden war.

»Geh jetzt runter und spiel mit Elisabeth, damit die Witwe Birnbaum und ich die Kammer vorbereiten können.«

Hannah zog ihren Wintermantel, die Mütze und die Lederstiefel an und ging hinunter in den Hof.

 

Bis auf die Knochen drang ihr die beißende Februarkälte durch die Kleider, Hannah spürte die Kälte sogar an den Zähnen, als sie die wenigen hundert Meter die Fiolstræde hinunterlief und in die Krystalgade bog. Sie lief an der Synagoge und am Runden Turm vorbei zur Vognmagergade, wo Elisabeth mit ihren Eltern wohnte.

Die beiden Mädchen hatten sich im vergangenen Sommer kennengelernt, als Elisabeths Vater, der Polizist Mogens Knudsen, eines Tages Yitzhaks Leben gerettet hatte. So zumindest hatte es Yitzhak Bruche beschrieben, als er nach Hause kam und von dem Vorfall erzählte. Allerdings hatten bei ihnen alle Familienmitglieder einen gewissen Hang zum Drama und ließen keine Gelegenheit aus, eine Geschichte besonders auszuschmücken; immer malten sie mit einem sehr breiten Pinsel und viel zu kräftigen Farben.

 

Yitzhak erzählte gern, wie er mit seinem ganzen Stolz – dem neuen Lastenfahrrad, einem Long John Cargo – in der Stadt unterwegs gewesen war. Seit er zum ersten Mal von dieser neuen Transportsensation gelesen hatte, die perfekt zu seiner kleinen Werkstatt und den zahlreichen geschäftlichen Aktivitäten passte, hatte er Geld beiseitegelegt, schließlich musste er täglich irgendwo in der Stadt etwas abholen oder ausliefern und brauchte deshalb ein solches Fahrrad. Hannah genoss es, auf der Ladefläche zu sitzen, Prinzessin zu spielen und dem Volk majestätisch zuzuwinken, sie jubelte, wenn Yitzhak mit dem Lenker schaukelte, und sie all ihre Kräfte aufbieten musste, um nicht hinunterzufallen.

»Festhalten, jetzt kommt ein Erdbeben!«, rief er dann und schlingerte mit Hannah davon, die vor Freude aufschrie.

»Noch mal, noch mal«, juchzte sie, sobald Yitzhak das Fahrrad wieder aufrichtete. Also probierten sie es noch einmal.

Auch Bruche freute sich, als Yitzhaks Traum endlich geliefert wurde, denn er hatte davon gesprochen, seit die Firma The Smith & Co. Company aus Odense der Presse auf der Weltausstellung in London dieses Rad präsentiert hatte. Yitzhak hatte Fotos des Gefährts gesehen und sich den Namen gemerkt, weil er es komisch fand, dass eine Firma sich »Company Company« nannte.

»Vielleicht sollte ich die Schneiderwerkstatt Koppelman & Ko. Kompanie nennen? Glaubst du, dann kämen mehr Kunden, mein Ketzeleh«, fragte er Bruche und kicherte dann, als hätte er einen guten Witz gemacht.

»Dann brauchst du aber auch ein paar Angestellte«, erwiderte sie, immer bereit, die Luftschlösser anderer Menschen sofort einstürzen zu lassen.

Das Fahrrad jedenfalls war phantastisch, wenn er durch die Stadt fahren musste, um Kleider auszuliefern oder zur Reparatur...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Ulrich Sonnenberg
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1930er Jahre • Anspruchsvolle Literatur • europäisch-jüdische Familiengeschichte • Familiensaga • Flucht • Hoffnung • Kopenhagen • Krieg • Liebe • Musik • Musikerfamilie • Paris • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-491899-6 / 3104918996
ISBN-13 978-3-10-491899-0 / 9783104918990
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