Paarbeziehung im 21. Jahrhundert -

Paarbeziehung im 21. Jahrhundert (eBook)

Psychosoziale Entwicklungen und Spannungsfelder
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
273 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041466-2 (ISBN)
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Wie gestaltet sich Paarbeziehung heute angesichts hoher Scheidungsraten, abnehmender Bindungsfähigkeit, technologischer Entwicklungen (Online-Dating, Sexroboter) und neuer Beziehungsformen? Der Band diskutiert Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in der Psychologie und Soziologie von Paarbeziehungen und untersucht die Auswirkungen gesellschaftlicher Diskurse sowie technologischer Neuerungen auf die Erscheinungsformen und gelebte Praxis von Paarbeziehung. Es zeigen sich zahlreiche Spannungsfelder, für die die AutorInnen sowohl auf Gewinne als auch auf Risiken hinweisen und Lösungsvorschläge entwickeln.

Prof. Dr. Christian Roesler, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, lehrt Klinische Psychologie an der Katholischen Hochschule Freiburg i. Br. sowie Analytische Psychologie an der Universität Basel. Er ist darüber hinaus Dozent an den C.G. Jung-Instituten Zürich und Stuttgart sowie Lehranalytiker am Aus- und Weiterbildungsinstitut für Psychoanalytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg (DGPT). Prof. Dr. Sonja Bröning, Systemische Therapeutin (DGSF) und Mediatorin (BM), ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Medical School Hamburg. Sie arbeitet zudem als Paartherapeutin und Fortbildnerin in eigener Praxis.

1 Einleitung: Paarbeziehung im 21. Jahrhundert: Vielfalt – und Verunsicherung?


Christian Roesler und Sonja Bröning

Dieses Buch entstand in einer Zeit erheblicher Verunsicherung, geprägt durch Corona-Pandemie, Klimawandel, Ukraine-Krieg und die sich abzeichnende Energie-Krise. Bestehende Quellen menschlichen Unglücks wie Leistungsdruck in der Arbeitswelt, soziale Ungleichheit und das Wegbrechen sozialen Zusammenhalts in familiären und religiösen Gemeinschaften werden hierdurch verschärft. Diese und weitere global relevante Entwicklungen werfen Fragen auf. Worauf ist in der Gegenwart Verlass? Wohin soll die Zukunft gerichtet werden? Und: Wie soll der Mensch so glücklich werden? In unserer individualistischen Gesellschaft ist jeder seines Glückes Schmied. Und nach wie vor zählt Paarbeziehung für die meisten Menschen in unserer Kultur zu der wichtigsten Quelle von Zufriedenheit und Lebensglück. Für junge Menschen ist Familie auch 2019 noch die mit Abstand wichtigste Wertorientierung (18. Shell-Jugendstudie; Albert et al., 2019). Und nicht nur in der Wunschvorstellung, sondern auch empirisch haben gelingende Paarbeziehungen eine enorme Bedeutung für die psychische und körperliche Gesundheit der Partner sowie, wenn Kinder vorhanden sind, für deren Entwicklung. Daher erscheint es nicht verwunderlich, dass Liebe und Partnerschaft keineswegs am Ende sind, wie von manchen angesichts sinkender Heiratsneigung und hoher Scheidungsraten befürchtet (Mortelmans, 2020). Auch wenn der Anteil der nicht-ehelichen Partnerschaften gegenüber den Ehen in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen hat, lebt praktisch jeder zweite in einer Partnerschaft im gemeinsamen Haushalt (Horn, 2021). Seit 2015 lässt sich sogar ein kontinuierlicher Anstieg der Eheschließungszahl feststellen, während gleichzeitig die Zahl der Scheidungen sinkt (ebenda). Auch die Ehe für Alle hat zu dieser Entwicklung beigetragen, die von manchen als Renaissance von Heirat und Ehe betrachtet wird. Allerdings sind die Trennungsraten nicht-verheirateter Paare nicht erfasst, so dass diese Aussage mit Vorsicht zu betrachten ist. Auf europäischer Ebene lässt sich jedenfalls feststellen, dass die Beziehungsstabilität abgenommen hat und weiter abnimmt (Mortelmans, 2020).

In Spannung zueinander stehen bei Trennungsüberlegungen bei Paaren mit Kindern häufig die Bedürfnisse betroffener Kinder nach Stabilität und Kontinuität mit dem Diktat der Individualisierung, d. h., den Bedürfnissen der Erwachsenen nach Neuanfang und Weiterentwicklung, danach, ihr persönliches (Liebes-)‌Glück zu finden und ihrer Wege zu ziehen. Doch auch die Belastungen für Erwachsene, die aus einer Trennung entstehen, sind – je nach familiären Ressourcen – häufig weitreichend, was im Vorwege einer solchen Entscheidung nicht immer bedacht wird. Vieles spricht für eine Aufwertung von Langzeitbeziehungen und die Überwindung partnerschaftlicher Schwierigkeiten. Dies steht jedoch im Kontrast zur schlechten Versorgungslage im Bereich Paarprävention und -therapie in Deutschland. Der Ausbau schulischer und außerschulischer präventiver Förderung von Beziehungskompetenzen erscheint ebenfalls dringend geboten. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie verschärfen diesen Bedarf noch. Familien mit geringen Ressourcen waren von den Einschränkungen im Bereich Beruf, Kinderbetreuung und Schule besonders betroffen (Bröning & Clüver, 2022), und es gibt Hinweise auf erhöhte Partnerschaftskonflikte und -gewalt in dieser Zeit. Die psychische Mehrbelastung von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie ist bereits evident (Ravens-Sieberer et al., 2021), was nicht nur die Gefahr von Kindeswohlgefährdung im häuslichen Setting erhöht, sondern auch für die beginnenden Liebesbeziehungen dieser Generation ein Gefährdungspotenzial darstellen dürfte.

Während durch alle Gesellschaftsschichten hindurch auch weiterhin geliebt, geheiratet und getrennt wird, verändern sich kulturelle Vorstellungen darüber, wie Paarbeziehung gestaltet sein sollte, und auch die gelebte Praxis aktuell in teilweise rasantem Tempo. Ein Grund hierfür ist die Technologisierung. So kommt ein erheblicher Prozentsatz der Paarbeziehungen auch in Deutschland mittlerweile über digitale Kontaktplattformen zustande. Online Dating ist mittlerweile nicht nur quantitativ ein Massenphänomen geworden, sondern darüber hinaus eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Kontaktanbahnung (Aretz et al., 2017). Allerdings wird dies von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, z. B. unterschiedlichen Altersgruppen, sehr unterschiedlich genutzt, und mit einigen Nutzungsformen scheinen auch Gefahrenpotenziale verbunden. Auch etablierte Paarbeziehungen pflegen mittlerweile ihren Kontakt über digitale Medien und virtuelle Kanäle, nicht nur in beruflich bedingten Fernbeziehungen. Sie erleben ebenfalls Gewinne, aber auch Risiken der Medien, wie die Möglichkeit, den anderen online zu stalken und zu kontrollieren. Durch technologische Weiterentwicklungen ist mittlerweile sogar virtueller Sex möglich. Künstliche Sexpuppen werden mit künstlicher Intelligenz ausgestattet und werden zu Sexrobotern, wobei die gelebte Praxis zeigt, dass zu diesen künstlichen Wesen tatsächlich auch romantische Beziehungen entstehen.

Ein weiterer Grund für den aktuellen Wandel ist die zunehmende Sichtbarkeit von Vielfalt in der Liebe und der laute Ruf nach Akzeptanz verschiedener Formen des Begehrens, der geschlechtlichen Identität und der Beziehungsgestaltung. Gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist mittlerweile in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern im Mainstream angekommen, doch nun erobern sich weitere sexuelle Identitäten gleiche Rechte und bereichern die Landschaft der Partnerschaftsformen. Was wissen klassische Paartherapeuten über Beziehungsthemen von Trans*Menschen? Daneben entstehen Beziehungsmodelle wie Polyamorie und weitere offene bzw. Mehr-Personen-Beziehungsmodelle. Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten differenzieren sich aus, zu Selbstbezeichnungen wie pansexuell, nicht-binär und asexuell kommen fast täglich weitere hinzu. Im Internet bilden sich Communities, Gemeinschaften von Menschen, die sich ganz bewusst über derartige Identitäten finden und verbinden. Nachdem zum Begriff LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans) immer mehr Buchstaben hinzukamen (I = Inter, A = Asexuell, Q = Queer, P = Poly etc.) hat man im internationalen Diskurs begonnen, diese ganze Vielfalt mit GSRD (Gender, Sexual, and Romantic Diversity) abzukürzen. Auch an wissenschaftlichen Versuchen, den Begriff Paarbeziehung zu definieren, lassen sich diese Veränderungsprozesse ablesen. Allein in den letzten 20 Jahren haben (wissenschaftliche) Definitionen von Paarbeziehung grundlegende Veränderungen durchlaufen. Diese tendieren eher weg von Exklusivität und Verbindlichkeit hin zu mehr Offenheit. Hier zunächst einige klassische Definitionen:

»Eine enge, verbindliche und auf Dauer angelegte Beziehung zweier Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechtes, die sich durch eine besondere Zuwendung auszeichnet und die Praxis sexueller Interaktion einschließt.« (Lenz, 2003, S. 16)

»Eine Paarbeziehung ist eine enge, persönliche und intime, auf Dauer angelegte, exklusive Beziehung zwischen erwachsenen Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts. Typischerweise zeichnet sich eine Paarbeziehung durch Liebe, persönliches Vertrauen und sexuelle Interaktion aus.« (Huinink & Konietzka, 2007)

»Paarbeziehungen werden als Institution einer sozialen Beziehung zweier Personen verstanden, welche auf Reziprozität sowie individueller Einzigartigkeit fußt und über ein relativ hohes Maß an Verbindlichkeit, Dauerhaftigkeit, Exklusivität und Zuwendung, Interdependenz sowie Affektivität charakterisiert ist. Dabei gehen die Partner in diese thematisch unbegrenzte diffuse Sozialbeziehung als ganze Person ein und nicht nur begrenzt auf eine soziale Rolle.« (Wutzler & Klesse, 2021, S. 23)

Und hier im Kontrast dazu eine aktuelle Definition, die versucht, den vielfältig aufgebrochenen postmodernen Diskursen um Paarbeziehung gerecht zu werden:

»Deshalb schlage ich vor, weiterhin auf Basis der konstitutiven Reziprozität der Partner und der praktischen Prozesshaftigkeit des Sozialen, Paarbeziehungen als gesellschaftliche Institution einer Beziehung zwischen zwei Personen zu verstehen, die ein hohes Potenzial dahingehend aufweist, das zwei Personen reziprok unter den Möglichkeitsbedingungen der je historischen und sozialen Titulierung – der gesellschaftlichen Ordnung der Intimität – ein hohes Maß an Intimität herausbilden und unterschiedliche Dimensionen der Intimität in verschiedenen Weisen und hinsichtlich unterschiedlicher Solidarität assoziieren. Daraus kann keine normative Überlegenheit einer Paarbeziehungsform abgeleitet werden und anstatt einer präskriptiven starren Grenzziehung sind die Übergänge und Verbindungen zu anderen Beziehungen zunächst diffus, denn sie müssen praktisch gezogen und gelebt werden. Aus der je konkreten Praxis und Potentialitätsentfaltung geht eine...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
ISBN-10 3-17-041466-6 / 3170414666
ISBN-13 978-3-17-041466-2 / 9783170414662
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