Ressourcenorientierte Suchttherapie -  Michael Musalek

Ressourcenorientierte Suchttherapie (eBook)

Grundlagen und Methoden des Orpheus-Programms
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
154 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-033730-5 (ISBN)
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Mit der Entwicklung ressourcenorientierter Behandlungsprogramme wurde auch in der Suchttherapie ein Paradigmenwechsel eingeleitet: Es steht nicht mehr nur die Abhängigkeit im Mittelpunkt, sondern der suchtkranke Mensch selbst mit all seinen Schwächen, aber auch Stärken und Potenzialen. Dieses Buch bietet einen Überblick über die theoretischen Grundlagen und die Anwendung des 'Orpheus-Programms', das als Prototyp individualisierter ressourcenorientierter Suchtbehandlung seinen Schwerpunkt auf die Anreicherung des Lebens mit so viel Freudvollem und Schönem wie möglich setzt. Auf diese Weise sollen die ersten Schritte in ein neues, selbstbestimmtes und erfülltes Leben gelingen, dessen Freuden die 'Sirenenrufe' der Suchtmittel übertönen, damit ein nachhaltiger Suchtmittelverzicht gelingen kann.

Prof. Dr. med. Michael Musalek, Psychiater und Psychotherapeut, ist Ordinarius für Allgemeine Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien sowie Direktor der Institute für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und Berlin.

3 Das Orpheus-Programm


3.1 Ausgangssituation und Grundlagen


3.1.1 Hauptprobleme in der herkömmlichen Suchtbehandlung


Suchterkrankung ist ein komplexes leidbringendes Geschehen und macht daher nicht zuletzt auch aufgrund des Facettenreichtums des Krankheitsgeschehens ein hochkomplexes Behandlungsangebot erforderlich (▸ Abb. 1). Dabei wird in der Regel zwischen einer Entzugsbehandlung und Entwöhnungsbehandlung bzw. einer Akutbehandlung und Rehabilitation sowie Nachsorge von Suchtkranken unterschieden (Kiefer und Mann 2007; Lindenmeyer 2018). Die Akutbehandlung von Suchtkranken reicht von einer einfachen Akutbehandlung, die sich vorzugsweise auf körperliche Entgiftungs- und Entzugsbehandlungsmaßnahmen beschränkt, bis zur »qualifizierten Entzugsbehandlung«, die in dafür eingerichteten psychiatrischen Spezialabteilungen angeboten wird. Sie umfasst über rein körperliche Akutinterventionen hinausreichend auch eine umfassende psychiatrisch-psychotherapeutische, somatische und soziale Diagnostik, nicht nur der Suchterkrankungen und ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Folgeerscheinungen selbst, sondern vor allem auch jene von Komorbiditäten der Sucht (Mann et al. 2006). Diese Komorbiditäten der Sucht sind oft nicht so sehr »Begleiterkrankungen«, sondern vielmehr die eigentliche treibende Kraft des Suchtgeschehens – sei es nun in der Entstehung bzw. im Erhalt desselben – und bedürfen demnach auch besonderer Aufmerksamkeit und Beachtung (Kampfhammer 2004; Musalek 2009a, b; Walter und Gouzoulis-Mayfrank 2013). Weitere wichtige Pfeiler der qualifizierten Suchttherapie sind eine ausführliche individuelle Aufklärung der Suchtkranken hinsichtlich der Komplexität der jeweiligen Krankheitserscheinungen sowie die Bereitstellung psychiatrisch-psychotherapeutisch fundierter Therapieangebote, die einerseits die Förderung der Veränderungsbereitschaft der Patienten und anderseits eine Symptom- bzw. Leidensminimierung zum Ziel haben. Komplettiert wird eine evidenzbasierte qualifizierte Suchtbehandlung durch ergo- und bewegungstherapeutische Maßnahmen (Reymann und Erdmann 1999; Jawad und Musalek 2021) sowie weitere wissenschaftlich ausreichend belegte Therapieformen, wie z. B. Entspannungstechniken (Stetter und Mann 1991), kognitives Training (Horak und Soyka 1999; Mann et al. 1999) und Bio-Feedback (Scheibenbogen 2017).

Abb. 1:Siebensäulen-Behandlungsmodell des Anton Proksch Instituts (siehe auch Musalek 2009a, 2010a)

Manche der Maßnahmen der qualifizierten Entzugsbehandlung, vor allem jene in der Subakutphase gesetzten, wären in früherer Nomenklatur bereits der Entwöhnungsbehandlung zugerechnet worden. Die Übergänge zwischen akuter Detoxifizierungsphase und Entwöhnungsphase sind in der Tat auch fließend. Der Großteil der therapeutischen Handlungen in der Entwöhnungsphase wird heute der Rehabilitation zugerechnet. Das hat vor allem seinen Grund in der Finanzierungssituation von Suchtbehandlung in Deutschland, wo die einfache sowie auch qualifizierte Entzugsbehandlung von den Krankenkassen finanziert wird, während die Kosten der Entwöhnungsbehandlung als rehabilitative Maßnahmen bewertet und von der Rentenversicherung übernommen werden. Das Hauptziel der Entwöhnungsbehandlung, alias Rehabilitation, ist es neben dem Erreichen einer hohen langfristig bestehenden Abstinenzmotivation, mit Hilfe von multimodalen, interdisziplinären, primär psychotherapeutisch ausgerichteten, aber auch medizinisch-psychiatrischen sowie sozial unterstützenden Behandlungsmaßnahmen, die zugrunde liegenden Ursachen der Abhängigkeitsentwicklung und deren Fortbestand zu erörtern, um damit eine zielführende Pathogenese-orientierte Langzeittherapie sowie eine effektive Rückfallsprophylaxe zu ermöglichen.

Aufgrund der besonderen Krankenversicherungssituation in Österreich – sowohl die akuttherapeutischen wie auch die langzeitrehabilitativen Suchtbehandlungsmaßnahmen werden im Wesentlichen von den Krankenkassen finanziert – ist es hier möglich die gesamte Suchttherapie, Entzugs- sowie auch Entwöhnungsbehandlung, in ein und derselben Institution durchzuführen. Diese Besonderheit im Finanzierungssystem versetzt österreichische Suchtkliniken in die Lage, stationäre, teilstationäre sowie auch ambulante Behandlungsangebote, die sowohl akute Entzugsbehandlung wie auch multiprofessionelle, Pathogenese-orientierte Therapien der Suchterkrankung mit all ihren körperlichen und psychischen »Komorbiditäten« sowie psychosozialen Folgeerscheinungen bis hin zur Langzeitentwöhnungsbehandlung und ambulanten Nachsorge beinhalten, in ein und derselben Institution zur Verfügung stellen zu können. Im Wiener Anton Proksch Institut, einer der größten Suchtkliniken Europas, in der alle Formen der Suchtkrankheiten – substanzgebundene wie auch substanzungebundene Abhängigkeitserkrankungen – behandelt werden, wurde bereits in den Sechziger- bzw. Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein 4-Phasen-Behandlungsmodell entwickelt, das alle Behandlungsphasen umfasst und unter der Bezeichnung »geschlossene Behandlungskette« Eingang in die Fachwelt fand (Lentner 1994).

Die Hauptaufgaben in der ersten Phase sind Detoxifizierung, Entzugsbehandlung sowie die medizinisch-psychiatrische Diagnostik und Therapie des akuten Krankheitsgeschehens. In der zweiten Phase gilt es, in einem mehrdimensionalen differentialdiagnostischen Prozess die Ursachenkonstellationen für die Entstehung und den Erhalt des Suchtgeschehens bzw. dessen Komorbiditäten und körperlichen bzw. psychosozialen Folgeerscheinungen abzuklären und mit einer mehrdimensionalen, multiprofessionellen Behandlung derselben zu beginnen. In der dritten Phase, der sogenannten »Aktivierungsphase«, geht es vor allem darum, den Suchtkranken mittels ergotherapeutischer, physiotherapeutischer, arbeits- und kunsttherapeutischer Maßnahmen aus seiner in der Regel bestehenden passiv-konsumierenden Lebensgrundhaltung zu einer aktiven Teilnahme am Leben zu bewegen. Die vierte Phase ist dann der Langzeitrehabilitation bzw. der ambulanten Nachsorge zur Rückfallprophylaxe gewidmet (Lesch et al. 1994; Lentner 1994).

Später wurde dieses ursprüngliche Behandlungskonzept des Anton Proksch Instituts zu einem fünf Phasen umfassenden Behandlungsprogramm weiterentwickelt. Der Akutbehandlungsphase wurde eine Motivationsphase vorangestellt. Bis dahin war die Behandlungsmotivation, vor allem in Bezug auf eine stationäre Suchtbehandlung, vorzugsweise eine Bringschuld der Patienten. Wer zu einer stationären Behandlung motiviert war, wurde zu einer solchen zugelassen, wer es nicht war, blieb (noch) davon ausgeschlossen. Motivation zur Abstinenz bzw. auch zu einer markanten Lebensstiländerung kann aber nicht alleinige Angelegenheit des Patienten sein. Die Suchttherapeuten sind hier als Experten aufgerufen, einen wesentlichen Anteil an der Motivationsarbeit zu übernehmen. Neben der Schaffung dieser zusätzlichen Phase im Behandlungskonzept wurde auch die Aktivierungsphase zur Lebensneugestaltungsphase erweitert – zu der Phase, in der verortet das Orpheus-Programm zur Anwendung kommt (Musalek 2009a, 2010a).

Bis dahin bot das vierte Stadium des herkömmlichen Behandlungskonzepts des Anton Proksch Instituts als »Aktivierungsprogramm« vor allem Hilfestellungen, um Patienten aus der Passivität ihres Daseins herauszuführen und ihnen damit die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Leben »in den Griff zu bekommen« und die anfallenden Probleme selbst meistern zu können, im Sinne einer Hilfe zur Eigenhilfe. Die Gestaltung eines neuen Lebens wurde dabei in der Regel aber noch nicht ins Visier genommen. Es ging auch nicht so sehr darum, aktiv ein schöneres Leben zu gestalten (viele meinten, allein die Suchtmittelkarenz würde schon ausreichen, dass das Leben der Suchtkranken nun auch schon ein schöneres wäre), der Hauptfokus lag vielmehr auf einem besseren Funktionieren im Leben, auf einem »besser mit dem Leben fertig werden«.

Die Erweiterung der Aktivierungs- zu einer Lebensneugestaltungsphase erfolgte aufgrund der klinischen Erfahrung, dass das bloße Sich-Vornehmen, abstinent zu bleiben – selbst dann, wenn es sich um einen aufrichtigen Vorsatz handelt –, ohne aber das Leben neu zu konfigurieren, nur ein geringes Maß an Nachhaltigkeit aufweist. Dort aber, wo es gelingt, im Leben neue Schwerpunkte zu setzen, vor allem dann, wenn dieses »neue Leben« ein attraktives, weil auf freudvolles Erleben ausgerichtetes und mit Freuden angereichertes Leben ist, die Chance, nicht wieder in alte Suchtmittelkonsummuster zurückzufallen, signifikant geringer ist, als wenn man, wie es so oft heißt, »alles beim Alten belässt«. Die Ausrichtung auf ein neugestaltetes Leben heißt aber auch einen Paradigmenwechsel in der Suchtbehandlung zu vollziehen. Nicht mehr die Suchtkrankheit steht dann im Mittelpunkt des therapeutischen Interesses, sondern der jeweilige suchtkranke Mensch mit allen seinen individuellen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Denn nur wer seine Stärken und Schwächen kennt, kann auch sein Leben aktiv so verändern und gestalten, wie er es möchte...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
ISBN-10 3-17-033730-0 / 3170337300
ISBN-13 978-3-17-033730-5 / 9783170337305
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