Zum Glück geht's immer weiter (eBook)
272 Seiten
Delius Klasing Verlag
978-3-667-11879-0 (ISBN)
WHITEHORSE: PIONIER- UND GOLDGRÄBERSTADT
UND VIEL GAB ES NICHT ZU SEHEN, denn Whitehorse ist eine kleine Pionierstadt, von wo aus der Norden Kanadas erschlossen wurde. Aber es war anders als in Europa! Die Autos waren größer und die Häuser, die überwiegend aus Holz gebaut waren, ähnelten Fertighäusern im Containerstil; die Straßenzüge waren breiter und ausschließlich rasterartig angelegt. Selbst das Gras in den Vorgärten schien mir heller und weicher zu sein als in meiner Heimat. Ich war von der Baleareninsel Mallorca einen mediterranen Baustil gewöhnt, bei dem sich manche Straßen nur so breit ausnahmen, dass gerade zwei Esel aneinander vorbeikamen. Hier war alles breiter und heller, ohne schattige Straßenschluchten.
Der Taxifahrer chauffierte mich zum beez kneez, einem freundlichen Hostel, das ich mir vorab im Internet ausgeguckt hatte. Ab jetzt war low-budget angesagt, da meine Reiseersparnisse ein paar Jahre reichen mussten. Die jungen Pächter des Hostels empfingen mich wahnsinnig freundlich, und die Stimmung ähnelte eher einer studentischen WG. Ich merkte schnell, dass mein Englisch eingerostet war; erst nach und nach kam ich wieder rein und sprach etwas flüssiger. Im Hostel war ich mit meinen achtunddreißig Jahren der älteste Gast, aber keiner ließ es mich merken.
Für den Aufenthalt in Whitehorse hatte ich vier Tage eingeplant. Ich wollte mich akklimatisieren und alle notwendigen Vorbereitungen für die Panamericana treffen. Als Erstes montierte ich mein Fahrrad und überzeugte mich, dass beim Flug nichts beschädigt worden war. Nach einer kleinen Testfahrt durch die Stadt schien alles so weit okay. In der Touristeninformation von Whitehorse wurde mir nahegelegt, ein Video anzuschauen, in dem man Touristen erklärte, wie sie sich im kanadischen Bush, also den kanadischen Wäldern, zu verhalten hatten, wenn sie einem Bären über den Weg liefen – den sogenannten »Bear Encounters«. Begegnungen mit Bären?, ging es mir durch den Kopf … Also gut, ich gab mir den Schnellkurs über das kanadische Wildlife.
Außer mir war kein weiterer Mensch im Filmsaal, es war wohl noch zu früh für die alljährliche Touristensaison. Es wurde ausgiebig gezeigt, wie diese großen Prädatoren leben und Beute schlagen. So erfuhr ich, dass es schätzungsweise neunzigtausend Bären allein im Bundesstaat British Colombia gab – solch eine Information erweckte dann doch mein Interesse, und zwar auf mulmige Weise! Außerdem wurde sehr anschaulich dargestellt, dass ein Mensch im Falle einer Bärenattacke weder im Zelt noch in der Flucht sein Heil suchen sollte. Nicht einmal per Fahrrad wäre man schnell genug, denn ein Bär kann, einmal richtig in Fahrt, über fünfzig Stundenkilometer schnell werden! Ach ja … Des Weiteren sei laut Film so ein Bär in der Lage, mein Frühstück oder den Geruch meiner Zahnpasta bis auf dreißig Kilometer Entfernung weit zu riechen und zu orten! Ich überschlug alle Daten schnell im Kopf: Also hatte ich ab jetzt – im ungünstigsten Fall – jeden Morgen etwas weniger als vierzig Minuten Zeit, um zu frühstücken, mir anschließend die Zähne zu putzen, mein Zelt und all mein Gepäck aufs Bike zu schnallen, um dann mit mindestens einundfünfzig Stundenkilometer Geschwindigkeit das Weite zu suchen! Mich überkam das vage Gefühl, dass ich gewisse Details bei der Planung meiner Fahrradreise durch Nordamerika übersehen hatte!
Nach Verlassen des Filmsaals und zurück in der Realität der Kleinstadt, machte ich mich umgehend daran, ein einige zusätzliche Utensilien für die Reise zu besorgen: Pfefferspray und bearbells, laut Aufklärungsvideo zwei unabkömmliche Dinge, die in der kanadischen Wildnis absolut überlebenswichtig sind. Die kleinen »Bärenglöckchen« trägt man als Wanderer oder Radfahrer an den Fußknöcheln. Durch das permanente Klingelgeräusch soll verhindert werden, dass ein schlummernder Bär von einem nahenden Menschen überrascht wird und daraufhin angreift. Sollte es trotzdem zu einer Attacke kommen, böte sich als letzter Ausweg das Pfefferspray in sehr starker Konzentration, eben speziell für Bären, welches man dem angreifenden Bären in die Schnauze sprühen müsse. Selbstverständlich müsse man darauf achten, Rückenwind zu haben, anderenfalls sprühe man sich selbst handlungsunfähig, was dem Bären die Sache ziemlich einfach macht. Ganz ehrlich: Mir wäre die Empfehlung über den Kauf eines Gewehres lieber gewesen!
Vor dem Aufbruch aus Whitehorse packte ich testweise mein Fahrrad, doch nach drei Stunden gab ich mich geschlagen: Ich hatte einfach zu viel Ausrüstung aus Deutschland mitgebracht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuspecken, weshalb ich alle meiner Meinung nach überflüssigen Ausrüstungsgegenstände an Hostelgäste verschenkte. Nachdem ich nun meine Ausrüstung so weit reduziert hatte, dass ich alles an meinem Bike verstauen konnte (sie wog immer noch sechsundvierzig Kilogramm), wollte ich von Whitehorse per Bus ins 600 Kilometer weiter nördlich gelegene Dawson City fahren. Dort, oberhalb von Dawson, sollte meine Reise beginnen: an der Grenze zu Alaska. Ein Problem jedoch war die frühe Jahreszeit. In der Vorsaison verkehrten keine Buslinien in Richtung Norden. Also kamen nur zwei Alternativen infrage: entweder ich radelte dorthin und absolvierte die vor mir liegenden 600 Kilometer gleich zwei Mal, oder trampen, was ich bis dahin noch nie in meinem Leben gemacht hatte. Trampen ist in Kanada recht üblich, das wusste ich allerdings zum damaligen Zeitpunkt nicht.
Also stand ich da nun am Klondyke-Highway mitsamt meinem Bike, bepackt wie ein Kameltreiber auf großer Karawane. Meine Chancen erschienen mir verschwindend gering. Trotzdem, oder gerade deswegen, schrieb ich auf ein Pappschild meinen Zielort und zeichnete ein dickes Smiley darunter, um die spärlichen Autofahrer gen Norden zu animieren, mich mitzunehmen. Zu meiner Überraschung dauerte es keine fünf Minuten, als ein alter, verrosteter Pick-up an mir vorbeifuhr, bremste und den Rückwärtsgang einlegte. Auf meiner Höhe angekommen, blickte mich ein junges Mädchen grinsend an. »Do you need a ride?«, fragte mich die junge Fahrerin, und ich nickte verhalten. Dass es so schnell gegangen war, einen »Ride« zu bekommen, überraschte mich dann doch. Mit einer kurzen Kopfbewegung forderte sie mich auf, mein Bike und mein Gepäck hinten auf der Ladefläche zu deponieren. Als ich zu ihr in den Wagen stieg, meinte sie gleich, ich käme ihr gerade recht, denn die Fahrt auf der langen Strecke bis Dawson City wäre ansonsten sehr langweilig. Langsam bekam ich ein Gefühl für die Gastfreundschaft der Kanadier, die bei Weitem über dem Standard des Mitteleuropäers liegt.
Morgan war einundzwanzig Jahre alt und kam aus Whitehorse. In ihren Semesterferien arbeitete sie jedes Jahr den Sommer über als Kellnerin in Dawson City. Meine Idee, von Alaska bis Argentinien zu radeln, gefiel ihr. Sie selbst liebte alle Arten von Sport. In den acht Stunden, die wir bis Dawson City brauchten, teilten wir uns meine komplette Reiseverpflegung für den Tag (einen Apfel und ein paar Kekse) und plauderten dabei über Natur, Wildlife in Kanada, Outdooraktivitäten und vor allem übers Reisen. Nach knapp einer Stunde bot sie mir bereits an, dass ich bei ihr in Dawson City unterkommen könne. Klar, warum nicht?, dachte ich, wenigstens über das Wochenende. Aber länger wollte ich keinesfalls in Dawson bleiben, da mein Visum für Kanada nur drei Monate gültig war. Ich hatte ehrlich gesagt nicht die geringste Vorstellung davon, wie lange ich wohl für die Strecke vom Norden Kanadas bis nach Vancouver an der Grenze zur USA brauchen würde. Als wir mit Morgans klapperigen Pick-up endlich Dawson erreichten, fuhr Morgan erst einmal zu einem besonderen Ort der Stadt, der von den Einheimischen The Dome genannt wird – der höchste Punkt über der Stadt. Morgan erklärte mir, dass man von dort aus »the top of the world« sehen konnte, wie die Kanadier diese Region nennen, die den hohen Norden rund um den Yukon River umfasst. Die Stadt wurde einst während des großen Goldrauschs am Yukon River gegründet. Es müssen harte Zeiten gewesen sein, denn auf dem Friedhof von Dawson City konnte man so manche wilde Geschichte nachlesen, die sich gut für jede Art von Western eignete. Auch die Häuserfassaden glichen einer Kulisse aus einem klassischen Revolverheldenfilm. Die Häuser waren durchweg aus Holz und die Straßen nicht geteert, sondern aus Lehm, weshalb sie sich bei Regen in eine matschige Piste verwandelten. Bei den Bürgersteigen handelte es sich um Holzstege, die entlang der Häuserfronten verliefen.
Hier in Dawson gibt es bis heute noch Bars, in denen der Cancan getanzt wird. Dabei schwingen Frauen ihre plüschigen Röcke hin und her und werfen die Beine über ihren Kopf hoch in die Luft. Goldgräber und Fallensteller treffen sich heute wie damals in der Stadt, um ihre Felle oder Goldfunde zu Geld zu machen. Anschließend wird die Marie gleich an Ort und Stelle...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2019 |
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Reihe/Serie | Abenteuer & Fernweh |
Verlagsort | Bielefeld |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Natur / Technik ► Fahrzeuge / Flugzeuge / Schiffe ► Fahrrad |
Schlagworte | Abenteuerurlaub • Amerika Reise • Erlebnisurlaub • längste straße der welt • nord und südamerika • Panamericana • Reiseberichte • Reisen • Weltreise • westküste amerika |
ISBN-10 | 3-667-11879-1 / 3667118791 |
ISBN-13 | 978-3-667-11879-0 / 9783667118790 |
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