Exportweltmeister (eBook)

Geschichte einer deutschen Obsession | Von der verspäteten Nation zur wirtschaftlichen Weltmacht - eine deutsche Geschichte
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2023 | 1. Auflage
446 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77737-4 (ISBN)

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Exportweltmeister -  Jan-Otmar Hesse
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Im WM-Finale 1986 musste sich die DFB-Elf der argentinischen Auswahl um Diego Maradona mit 2:3 geschlagen geben. Trotzdem durften sich die Westdeutschen als Weltmeister fühlen, denn in diesem Jahr exportierte die Bundesrepublik erstmals mehr Güter als jeder andere Staat. Das Land war »Exportweltmeister« - Champion in einer Disziplin, die nicht nur das Fundament für unseren Wohlstand bildet: Die deutsche Exportstärke ist Bestandteil des Nationalstolzes und Hinweis auf den exzellenten Ruf der Waren »Made in Germany«.
Der Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesse begibt sich auf die Spuren dieses Erfolgs, der sich einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit deutscher Unternehmen und einer exportfreundlichen Politik verdankt. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden wichtige Weichen gestellt. Die Weimarer Republik schuf die ersten Instrumente zur Unterstützung der Exportwirtschaft. Die Geldpolitik der Nachkriegszeit stärkte ihre globale Wettbewerbsfähigkeit. Fesselnd und mit vielen bislang unbekannten Details berichtet Exportweltmeister davon, wie aus Werkstätten und Manufakturen Global Player und aus einem rohstoffarmen Land die ökonomische Supermacht wurde, die es heute ist.


Jan-Otmar Hesse, geboren 1968, ist Professor f&uuml;r Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universit&auml;t Bayreuth. Von ihm erschien zuletzt <em>Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft</em> (2019, gemeinsam mit Sebastian Teupe).

7Einleitung

Die deutsche Exportobsession


In der 84. Minute macht Jorge Burruchaga die Hoffnungen der Deutschen zunichte. Vor 115000 Zuschauern im ausverkauften Aztekenstadion in Mexiko-Stadt will die DFB-Elf nach 1954 und 1974 ihren dritten Weltmeistertitel holen. Kurz vor Schluss sieht es noch vielversprechend aus. In der 81. Minute erzielt Rudi Völler den 2:2-Ausgleich. Doch dann wird die deutsche Mannschaft eiskalt ausgekontert. Diego Maradona spielt einen brillanten Steilpass von der Mittellinie in die gegnerische Hälfte, Hans-Peter Briegel kommt nicht mehr an Burruchaga heran. Vergeblich beschwört der Kommentator Rolf Kramer den deutschen Keeper: »Toni! Halt den Ball!« Doch der Argentinier schiebt die Kugel eiskalt an Toni Schumacher vorbei ins Netz.

Die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko ist sowohl in sportlicher als auch in politischer Hinsicht unvergessen. Gerade einmal vier Jahre nach dem blutigen Falklandkrieg trafen im Viertelfinale Argentinien und England aufeinander. In Deutschland hatte das Turnier anfangs nur wenig Begeisterung ausgelöst. Einige Monate zuvor war im sowjetischen Tschernobyl ein Atomkraftwerk explodiert und hatte eine riesige radioaktive Wolke über Europa geschickt. Die Menschen trieben andere Dinge um. Dann erspielte sich die deutsche Fußballnationalmannschaft zuhause jedoch immer größere Sympathien, musste sich aber schließlich im Finale dem Team um Diego Maradona und seiner »Hand Gottes« mit 2:3 geschlagen geben. Vier weitere Jahre vergingen bis zum dritten WM-Titel der DFB-Elf. Und doch durften sich die Bürger der Bundesrepublik im Jahr 1986 als Weltmeister fühlen: In diesem Jahr exportierte die BRD erstmals mehr Güter als jedes andere Land der Welt. Die Westdeutschen waren zum ersten Mal »Exportweltmeister«.

8Wer den Begriff ursprünglich geprägt hat, lässt sich kaum mehr nachvollziehen. Womöglich ist er Ende des Jahres 1986 aus einer Laune heraus entstanden, als saloppe Formulierung sprachgewandter Journalisten im Vorfeld der Bundestagswahl im Januar des folgenden Jahres. Pressearchive nennen einen Artikel aus dem Magazin Der Spiegel vom Februar 1987 als erste Erwähnung. Im Frühjahr jenes Jahres war der Ausdruck dann schon so geläufig, dass die Süddeutsche Zeitung schreiben konnte, die »deutsche Textilindustrie« sei »bekanntlich Exportweltmeister«, auch wenn sich das Ausland noch in Ignoranz übe: »[B]is Japan hat sich das noch nicht herumgesprochen. Wenn eine modebewußte Japanerin ein Kleid kauft, muß es ›natürlich‹ aus Italien oder Frankreich sein.«1 

Die Spitzenposition hat Deutschland inzwischen eingebüßt, im Export insgesamt und in der Textilindustrie ohnehin. Im Jahr 2009, kurz nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers und der darauf folgenden Krise des Weltfinanzsystems, übernahm China die Führung in der Rangliste der Exportnationen. Die Volksrepublik spielt seither in einer eigenen Liga. Die Bundesrepublik konkurriert mit den USA nur noch um Platz zwei. Als Exportweltmeister fühlt sie sich aber noch immer. Die Stärke im Außenhandel ist für die deutsche Gesellschaft eine Herzensangelegenheit. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gehörte Deutschland zu den großen Exportnationen, und auch der Stolz der geistigen Elite war schon da, der Stolz darüber, dass das Deutsche Reich hinter Großbritannien die zweitstärkste Exportnation der Welt war.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Westdeutschland das Vereinigte Königreich schnell hinter sich. Die Bundesrepublik rückte unaufhörlich an den neuen Spitzenreiter USA heran, um 1986 erstmals auch an diesem vorbeizuziehen (siehe Grafik 1).

9Grafik 1: Gesamtwert der Exporte der sechs exportstärksten Länder (in US-Dollar), 1980-2022

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach von den Vereinten Nationen (Comtrade) zur Verfügung gestellten Daten: {https://wits.worldbank.org/}.

Wie ist dieser Aufstieg zu erklären? Es wäre zu einfach, ihn allein auf die unbändige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zurückzuführen, schon weil er hierdurch etwas Zwangsläufiges erhielte. Er verdankt sich wesentlich einem eigentümlichen Willen deutscher Unternehmer und Politiker,[1]  vor allem im Auslandsgeschäft erfolgreich zu sein. »Allein die Leistungsfähigkeit unserer Kaufleute und die Wirksamkeit einer Handelspolitik, die […] gegen Diskriminierung schützt, sichern unseren Außenhandel und damit unsere Existenz«, schrieb Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard 1953 in seinem Buch Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt.3 Noch zehn Jahre später gab er sich in einer Sitzung des Außenhandelsbeirats überzeugt: »Ohne den Außenhandel sei die deutsche Volkswirtschaft zum Absterben verurteilt«, so ist es im Protokoll zu lesen.4

Über die unterschiedlichsten Regierungsformen, politischen Weltbilder und Krisen der Weltwirtschaft hinweg verfolgten Politiker und Unternehmer das Ziel, das Land bzw. ihre Konzerne 10zu den größten Exporteuren der Welt zu machen und nach Möglichkeit auch hohe Handelsbilanzüberschüsse zu erwirtschaften. Und in der Regel erreichten die Deutschen dieses Ziel, obwohl die ökonomischen Voraussetzungen eher ungünstig waren. Deutschland ist – abgesehen von großen Kohle- und Kalivorkommen – ein rohstoffarmes Land. Die Exporterfolge wurden in der Fertigwarenindustrie erzielt, wobei die Branchen im Verlauf des 20. Jahrhunderts wechselten: von der Chemie- und Elektroindustrie zum Maschinenbau zum Fahrzeugbau zum Anlagenbau und zurück. Nicht die industrielle Kontinuität sicherte also die Dominanz der deutschen Wirtschaft im Außenhandel, nicht die »deutsche Wertarbeit« oder gar ein besonderes nationales Arbeitsethos, nicht Erfindungsreichtum oder die über Jahrzehnte kultivierte besondere Organisation der Produktion, sondern die permanente Anpassung von Produktion und Politik an die Erfordernisse des Weltmarktes. Diese Anpassungsfähigkeit ist historisch gesehen vielleicht die große Stärke der deutschen Wirtschaft.

Daher rücken Akteure in Wirtschaft und Politik, die durch ihre Ideen und ihr Handeln zu dieser Flexibilität beigetragen haben, unweigerlich in den Mittelpunkt des Interesses, wenn nach den Gründen für den Aufstieg Deutschlands zu einer Handelsmacht gefragt wird, zu einer »trading power« (William Glenn Gray).5 Aus Exportunternehmern und Außenwirtschaftspolitikern bildete sich eine Interessengemeinschaft, die zu einem der wichtigsten Meinungsführer bei der wirtschaftlichen Steuerung des Landes aufstieg. Sehr häufig führte diese Verbindung zu Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum; gelegentlich verstellte ihre strikte Exportorientierung aber auch den Blick auf andere gesellschaftspolitische Ziele. Wie entstand die Exportorientierung als übergeordnete und parteiübergreifende wirtschaftspolitische Strategie, und warum ist die Exportweltmeisterschaft den Deutschen bis heute so ungemein wichtig? Auf welche Weise und mit welchen Mitteln versuchten Politiker, die deutschen Unternehmen zur Vergrößerung der Exportanstrengungen zu bewegen, und wie gelang es umgekehrt den 11Unternehmen, für ihre Exportinteressen die Unterstützung der Außenwirtschaftspolitik zu gewinnen?

Die Exportorientierung ist über einen sehr langen historischen Zeitraum tief im wirtschaftlich-politischen System Deutschlands verankert worden und bestimmt bis heute das politische Handeln. Nicht zuletzt angesichts der jüngsten globalen Krisen, der Klimakrise, den Folgen der Pandemie und der Rückkehr von Kriegsgeschehen und Rüstungsindustrie nach Europa kann nur eine gründliche historische Rekonstruktion der deutschen »Exportobsession« dabei helfen, ihre unvernünftigen Folgen in der deutschen Wirtschaftsgeschichte offenzulegen.

Der Begriff »Exportweltmeister« stellt eine ebenso gelungene wie doch auch entlarvende Verbindung der wirtschaftlichen Sphäre mit der kollektiven nationalen Identität her, zu der ganz offensichtlich nicht nur der Fußball gehört, sondern auch so etwas Abstraktes und Kompliziertes wie der Exporterfolg. Er ist der sprachliche...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Zusatzinfo Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Adam Tooze • aktuelles Buch • BMW • bücher neuerscheinungen • Deindustrialisierung • Exportweltmeister • Exportwirtschaft • Haushalt • Made in Germany • Mercedes • Neuerscheinungen • neues Buch • Robert Habeck • Schuldenbremse • Sommermärchen • Volkswagen • Wärmepumpe • Welthandel • Weltmeister • Wir sind Papst • Wirtschaftswunder
ISBN-10 3-518-77737-8 / 3518777378
ISBN-13 978-3-518-77737-4 / 9783518777374
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