Nochmal Deutschboden (eBook)

Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31994-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nochmal Deutschboden -  Moritz von Uslar
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»Wenn du nochmal in unsere Kleinstadt kommst, muss es ein politisches Buch werden.« Deutschland im Frühjahr und Sommer 2019: Die AfD wird zur Volkspartei im Osten. Merkel hat Zitteranfälle. Vor zehn Jahren stattete der Reporter Moritz von Uslar der Kleinstadt Zehdenick im Landkreis Oberhavel in der brandenburgischen Provinz einen Besuch ab. Nun kehrt er zurück, er bleibt vier Monate und - wie schon in seinem damaligen Buch »Deutschboden« - lässt er die Geschichte und die Einwohner des Städtchens auf sich zukommen. Er sitzt in illegalen Kneipen, in Wohnzimmern und in Getränkemärkten. Er notiert mit oder lässt das Aufnahmegerät laufen. Das Urgestein Blocky, der Kneipenmann Heiko Schröder und die tätowierten Punks Raul und Eric tauchen wieder auf, neues Personal tritt nach vorne: die Bäckersfrau Katharina, das Barmädchen Pretty Baby, ein linker Skinhead, der in den 1990er-Jahren vor den rechten Glatzen fliehen musste. Anders als vor zehn Jahren ist der Reporter in der Kleinstadt aber kein Fremder mehr, und sehr schnell wird klar: Das ist hier nicht mehr das Deutschland, das es vor zehn Jahren war. Der Ton zwischen den Bewohnern hat sich verschärft. »Wenn du noch mal in unsere Stadt kommst, dann musst du ein politisches Buch schreiben«, hatte Raul, einer der Protagonisten, dem Reporter erklärt. Wer dieses Land im Umbruch - 30 Jahre nach dem Mauerfall - verstehen möchte, der sollte Moritz von Uslar, dem großen Geschichtenerzähler, dem Menschenfreund und wachen politischen Geist, auf seine Reise folgen. Haut rein. Wird nicht nur lustig dieses Mal.

Moritz von Uslar, geboren 1970 in Köln, war Redakteur beim Süddeutsche-Zeitung-Magazin und beim SPIEGEL und arbeitet heute als Reporter und Interviewer bei der Zeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theaterstücke »Freunde« (2000), »Freunde II« (2001), »Lulu« (2004), gesammelte Interviews »100 Fragen an ...« (KiWi 829, 2004) und »99 Fragen an ...« (KiWi 1381, 2014), Roman »Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005« (2006, Kiepenheuer & Witsch), gesammelte Kolumnen »Auf ein Frühstücksei mit ...« (KiWi 1579, 2017). Der Reportageroman »Deutschboden. Eine Teilnehmende Beobachtung« (2010, Kiepenheuer & Witsch) wurde mit dem Fontane-Preis der Stadt Neuruppin ausgezeichnet und von André Schäfer fürs Kino verfilmt (2014).

Moritz von Uslar, geboren 1970 in Köln, war Redakteur beim Süddeutsche-Zeitung-Magazin und beim SPIEGEL und arbeitet heute als Reporter und Interviewer bei der Zeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theaterstücke »Freunde« (2000), »Freunde II« (2001), »Lulu« (2004), gesammelte Interviews »100 Fragen an …« (KiWi 829, 2004) und »99 Fragen an …« (KiWi 1381, 2014), Roman »Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005« (2006, Kiepenheuer & Witsch), gesammelte Kolumnen »Auf ein Frühstücksei mit …« (KiWi 1579, 2017). Der Reportageroman »Deutschboden. Eine Teilnehmende Beobachtung« (2010, Kiepenheuer & Witsch) wurde mit dem Fontane-Preis der Stadt Neuruppin ausgezeichnet und von André Schäfer fürs Kino verfilmt (2014).

Inhaltsverzeichnis

Teil zwei


Deutschland, östlicher Teil des Landes, Anfang März 2019. Es war das Jahr, in dem der Mensch in diesem Land, auch wenn er sie nicht wählen wollte, sich mit der durch und durch dummen, der ganz und gar ärgerlichen Partei AfD beschäftigen musste. Konnte es nicht etwas Schönes, Leichtes, etwas angenehm Egales geben, mit dem man sich ablenken und stattdessen beschäftigen konnte? Das gab es natürlich auch noch, aber es war nicht gerade leichter geworden.

 

Im September hatte sich der größte anzunehmende Unfall knapp doch nicht ereignet, aber eben doch ein starkes Beben: Mit 23,5 Prozent in Brandenburg und mit 27,5 Prozent in Sachsen war die Partei von Björn Höcke, von Andreas Kalbitz und von Alexander Gauland nicht als Nummer eins, aber doch als großer Sieger der Landtagswahlen ins Ziel gegangen (in Brandenburg konnte die AfD ihre Ergebnisse von 2014 knapp verdoppeln, in Sachsen verdreifachen). Bei den Europawahlen und den Kommunalwahlen in Brandenburg war die AfD stärkste Partei geworden. Seit jenem September 2019 waren Koalitionen allein mit dem Zweck gebildet worden, die AfD zu verhindern. Nicht nur dort, aber eben auch exakt auf dieser Linie verlief der Rechtsruck.

 

Kleine Chronik der Ereignisse. Im Januar hatte eine ostdeutsche Nationalikone, der ehemalige Handballnationalspieler Stefan Kretzschmar, seinen Satz über die Meinungsfreiheit verkündet (sinngemäß: In Deutschland dürfe man keine gesellschafts- und regierungskritische Meinung mehr äußern). Beim Deutschland-Serbien-Spiel der U 21 am 21. März beschimpften Zuschauer auf der Fan-Tribüne der Wolfsburger Arena den Nationalspieler Leroy Sané als »Neger« (wie man den denn bitte sonst nennen solle, hatte der Fan entgegnet, als ihn ein Sportreporter auf den Zuschauerrängen zur Rede stellte). In einer Umfrage gaben 35 Prozent der Ostdeutschen an, sich als Deutsche zweiter Klasse zu fühlen, nur eine Minderheit (42 Prozent) der Ostdeutschen hielt die Demokratie für die beste Staatsform (in Westdeutschland waren es 77 Prozent).

 

Ende April dann, als CDU und SPD in Umfragen erstmals hinter die AfD zurückfielen, war Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg – 1,94 Meter groß, Bauernsohn aus der Lausitz –, für politisch tot erklärt worden. Die Zeitungen mussten sich – wieder einmal – die Frage gefallen lassen, ob sie sich in den vergangenen Jahren vielleicht nicht zu selten, sondern zu oft mit der dummen Partei AfD beschäftigt hatten, und ob es klug und hilfreich war, das, was da im Osten gleich nach 1989 und nach der Friedlichen Revolution entstanden war – Abstiegsängste, Gefühle von Ohnmacht und Zweitklassigkeit, mangelnde Erfahrung mit der Demokratie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – und sich bis heute zur gesellschaftlichen Normalität ausgewachsen hatte, Faschismus oder Nationalsozialismus zu nennen.

 

Und der Reporter stand, wieder wie so ein richtig cooler Reporter-Darsteller, dieses Mal nicht mit Hut, sondern mit einer Lesebrille aus dem dm-Drogeriemarkt (7,99 Euro), die an einer Metallkette vor seiner Brust baumelte, und wieder mit dem Olympus-Aufnahmestift in der Hand, auf der Hauptstraße der Kleinstadt, da irgendwo zwischen den zusammengedrückten, viel zu bunt angestrichenen brandenburgischen Häuslein, dem Friseur Kamm Inn, dem Kramladen mit der wunderbaren Fensterladenaufschrift »Textilien / Geschenkartikel / Haushaltswaren / Schneiderarbeiten (Änderungen)« und der von ihm so heiß, ja wirklich innig geliebten Kneipe Schröder, und ließ die Leute und ließ die Geschichte – soweit das nach all den Jahren möglich war – noch einmal auf sich zukommen.

 

Vor neun Jahren, im Herbst 2010, war mein Reportage-Buch Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung erschienen. Exakt vor zehn Jahren, auch in den Frühlings- und Sommermonaten April, Mai, Juni und Juli, hatte sich meine Geschichte in der brandenburgischen Kleinstadt ereignet. Mein journalistisches Ethos, ja mein Verantwortungsgefühl hatten mich nun erneut in den Ort, gut eine Autostunde nördlich von Berlin, getrieben. Mein, bitte, was?

 

Eine andere Erklärung lag näher: Ich hatte einfach schon zu lange nicht mehr in meiner kleinen Havelstadt gelebt – ich wollte zurück in mein dirty Hardrockhausen, zurück zu den Leuten, die »in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen« (Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung). Wie schon vor zehn Jahren trieben mich ein Forschergeist und eine merkwürdige Ungeduld, mit ganz anderen Menschen zu sein als denen, mit denen ich qua Arbeit (Journalismus) und sozialem Umfeld (Galerien und drei, vier Lokale in Mitte und Kreuzberg) angeblich bestimmt war, meinen Alltag zu verbringen.

 

Ja, ich wollte wieder einmal nicht mit den netten Menschen sein, nicht mit den Guten, Fairen und Geschmackvollen, nicht mit den Verantwortungsvollen und Reflektierten, die in der Kleinstadt natürlich auch die ganz überwiegende Mehrheit stellten – sondern mit den Arschgeigen, den Hässlichen, Kaputten, denen mit den hässlichen Turnschuhen, den hässlichen Brillengestellen, den Augenbrauenpiercings und den hässlichen Tunneln in den Ohrläppchen. Ich wollte mit denen sein, wie Raul es später ausdrückte – zur Halbzeit der Recherche, als der Reporter am Bierwagen vor Bernie’s Café eine Hand ins Gesicht gelangt bekam –, die »anders fertig« waren. Anders fertig. Gut.

 

Was war der Unterschied meiner Recherchehaltung zur vor neun Jahren veröffentlichten Reportage? Na ja, ich hatte schon verstanden, dass die Feier und romantische Verklärung des Kleinstadt-Prolls, die im ersten Buch so exzessiv Thema und der Schmäh gewesen waren, als eine demonstrative Gedankenlosigkeit oder Denk-Verweigerung, man konnte auch sagen, als Feier eines Anti-Intellektualismus gelesen werden konnten. Darum war es mir natürlich nie gegangen, im Gegenteil (ich war ja Intellektuellen-Fan).

 

Wer aber 2019 den Proll feierte, der musste auch sehen, dass die böse und asoziale Sprache längst von der politischen Rechten vereinnahmt worden war und dass diese Rechte, spätestens seit der Bundestagswahl 2017, erheblich an Macht dazugewonnen hatte. Mit dem Blick von heute: Bei meinen Recherchen vor zehn Jahren hatte mir schlicht die Fantasie gefehlt, um zu erkennen, dass der Flirt mit rechts kein abklingendes Phänomen der Nachwendezeit und der jüngeren Vergangenheit gewesen war, sondern dass Rassismus, Menschenverachtung und Demokratie-Feindlichkeit noch einmal deutlich zulegen und erheblich an politischer Relevanz gewinnen sollten (rückblickend konnte man vielleicht sagen: Ich war nicht der Einzige gewesen, dem in dieser Hinsicht eine gewisse Fantasielosigkeit attestiert werden musste). Und natürlich war es eine ganz andere Sache gewesen, mit den Asis und bösen Jungs in Kneipen und auf der Tankstelle herumzuhängen, als diese noch die Fraktion der Hoffnungslosen, der Randsteher, Außenseiter und Underdogs gestellt hatten und nicht wie heute von einer Partei repräsentiert wurden, die bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen die höchsten Zugewinne verzeichnete.

 

Noch eine Wahrheit, wieder nicht ganz unwichtig: Tätowierungen waren im Jahr 2019, nachdem mittlerweile praktisch die ganze Bundesrepublik tätowiert war (nicht nur Fußballer, sondern auch Ex-Bundespräsidenten-Gattinnen), schlicht nicht mehr der großen Rede und Beschreibung wert.

 

Und noch ein herrlich brenzliger Punkt: In den letzten zehn Jahren, besonders im Frauenjahr 2017 (Weinstein-Skandal, #MeToo), hatte sich die Art, wie im Schriftlichen über Frauen gesprochen werden konnte beziehungsweise wie Frauen in einer von Männern dominierten Mikrowelt und Öffentlichkeit (Kneipen in Zehdenick) praktisch mit keinem Wort erwähnt wurden, doch erheblich geändert. Der erste Teil der Reportage las sich in dieser Hinsicht heute, so viel Selbstkritik war möglich, wie ein Buch aus einem anderen Jahrzehnt. Ich war selber gespannt, wie sich das neue »Geht nicht mehr« oder, schlimmer noch, »Geht gar nicht mehr« in meiner Geschichte niederschlagen würde.

 

Und – ja –, die Idee war noch einmal, dass es die Alltäglichkeit und die Normalität als Reportagestoff natürlich total brachten (normal war das, was sich durch einfache Teilnahme, Nicht-Nachfragen, Nicht-Einmischen, Nicht-Nachbohren zeigte, alle großartigen Reporterpreis-Reportagetechniken waren weiter zu vernachlässigen). Die Idee war ja einmal mehr, dass in der Kleinstadt ein genaues Studium der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse möglich war, eine präzise Diagnose, ein gerader Blick auf die Kaputtheiten und in die Abgründe unserer Zeit, der in der Großstadt längst verstellt war. Hier in der Kleinstadt glaubte ich – der Mann, der auf die fünfzig zuging –, eine unverfälschte und ungeschminkte (schreckliches Wort!) Prognose der Möglichkeiten zu erhalten, die das Leben noch bereithielt.

 

Hatte der Reporter vielleicht eine Krise? War es vielleicht doch eine, haha, verkappte Depression? Gab es eine dunkle Geschichte zu erzählen, gar eine romanhafte Verstrickung, etwas mit Liebe und Frauen, das die Flucht aus der Großstadt unvermeidlich gemacht hatte?

 

In der Fortsetzungs-Hölle. Die Bedingungen für eine...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Auf ein Frühstücksei • Brandenburg • Deutschboden 2 • Gesellschaftsporträt • Mauerfall • Ostdeutschland • Provinz • Rechtspopulismus • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-462-31994-9 / 3462319949
ISBN-13 978-3-462-31994-1 / 9783462319941
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