Ground Zero (eBook)

9/11 und die Geburt der Gegenwart

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27010-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ground Zero - Stefan Weidner
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Terrorismus, Bürgerkriege und Migration: 9/11 bestimmt noch immer unsere Gegenwart. Ein Plädoyer dafür, die Welt neu zu denken.
Die Gegenwart beginnt am 11. September 2001: das Ende der USA als alleinige Weltmacht, Guantanamo und die Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt, die Flucht vor den Kriegen im Nahen Osten, der Aufstieg von Populismus und Nationalismus. Hat Bin Laden also tatsächlich gewonnen und die Selbstgewissheiten des Westens entzaubert? Für Stefan Weidner, Experte für den arabischen Raum und kenntnisreicher Beobachter der Weltpolitik, ist die Geschichte von 9/11 erst zu Ende, wenn wir uns von den Feindbildern der vergangenen 20 Jahre verabschieden. Dann könnten die existenziellen Probleme der Menschheit - etwa der Klimawandel - an die Spitze der weltpolitischen Agenda rücken.

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn. 2001-2016 Chefredakteur der Kulturzeitschrift Art & Thought/Fikrun wa Fann. Für seine Arbeit hat er u. a. den Clemens-Brentano-Preis, den Johann-Heinrich-Voß-Preis, und den Sheikh Hamad Award for Translation and International Understanding erhalten. Stefan Weidner lebt in Köln. Bei Hanser erschien 2018 Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken.

Das Programm


Die drei Teile dieses Buchs sind eng aufeinander bezogen. Das erste Kapitel erzählt die Vorgeschichte und die unmittelbaren Nachwirkungen von 9/11. Es erklärt, wie in der islamischen Welt im Lauf des Kalten Krieges die explosive Mixtur zustande gekommen ist, die sich in den kaltblütigen Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon entladen hat.

Der zweite Teil ist der Nachgeschichte des 11. September 2001 gewidmet, vom Beginn des Afghanistankrieges bis zum Friedensprozess mit den Taliban 2020. Ich rekapituliere die Schlüsselmomente dieser Epoche und zeige, wie stark die politischen Entwicklungen, die uns bis heute in Atem halten, mit 9/11 zusammenhängen. Dabei geht es nicht bloß um eine Nacherzählung der Geschichte, sondern auch darum, sich kritisch mit den dahinterstehenden Denkmustern auseinanderzusetzen und die richtigen Lehren aus den Ereignissen zu ziehen.

Im letzten Kapitel kontrastiere ich schließlich die Mentalität der Zeit nach 9/11 mit den Herausforderungen, die sich seit der Corona-Krise stellen. Wir stehen vor der Wahl, ob wir die 9/11-Politik weiter betreiben, so wie es die globale Wirtschaftsordnung und ein autoritärer Neoliberalismus im populistischen Schafspelz vorgeben; oder ob wir die Probleme erkennen, die von dieser Politik und Wirtschaftsweise verursacht werden. Tun wir das, lässt sich die Krise als Chance für eine andere, fairere und lebensfreundlichere Politik begreifen.

Das Buch versteht sich als Einladung zum Durchdenken, Mitdenken, Nachdenken. Es ist ein politischer Essay, der Versuch, neue Denkhorizonte zu erschließen, die geistige Situation der Zeit zu ermitteln und die Prüfungen, die sie bereithält, gut zu bestehen, das heißt, geistige, moralische und seelische Widerstandskraft gegen ihre Zumutungen zu entwickeln. Gewiss, die Welt wird auch nach der Lektüre keine andere sein. Aber wie in einem Kipp- oder Umkehrbild, das plötzlich etwas Ungesehenes zeigt, könnte sie sich danach als eine Welt zu erkennen geben, die offener ist für neue Möglichkeiten, kreative Lösungen, für alternative Zugänge und Umgangsweisen.

Bei allen meinen Überlegungen lasse ich mich von folgenden drei Ausgangsthesen und Grundannahmen leiten:

1. 9/11 ist der Urknall unserer Welt. Die Voraussetzung dafür war, wie ich im ersten Teil erkläre, die explosive Mixtur, die sich in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte. Ohne das richtige Verständnis dieser Zeit sind die meisten gegenwärtigen Konflikte nicht zu erklären, nicht zu verstehen, nicht zu lösen.

2. Die weit überwiegende Zahl der Menschen überall auf der Welt lehnt den Terror ab. Aus diesem Konsens über alle Kulturen hinweg lässt sich argumentatives Kapital schlagen, lassen sich Erkenntnisse und Handlungsanweisungen für den zukünftigen Umgang miteinander ableiten. Auch in diesem Sinn markiert 9/11 einen Nullpunkt, eine gemeinsame Grundlage, von der aus wir unsere Überlegungen starten können: Ground Zero als Chance und Gelegenheit für einen Neuanfang, für einen Reset.

3. Von heute aus gesehen hat der arabische Terroristenführer Bin Laden fast alle seine Ziele erreicht. Diese Erkenntnis tut weh, aber wir müssen uns ihr stellen. Zwar ist er 2011 getötet worden, aber den von ihm angezettelten Krieg gegen »den Westen« hat er gewonnen. Dieser »Westen« ist nicht wiederzuerkennen. Er taugt in seinem gegenwärtigen Zustand nicht mehr als glaubwürdiges globales Orientierungsmodell, als das er sich vor 9/11 aus nachvollziehbaren Gründen verstanden hat. Diese Feststellung spiegelt keineswegs nur meine persönliche Sichtweise wider, sondern entspricht dem, was auch konservative, liberale und herkömmlicherweise prowestliche Kräfte mittlerweile eingestehen. Das Motto der Münchener Sicherheitskonferenz von 2020 lautete bezeichnenderweise »Westlessness« — »Entwestlichung« oder vielleicht treffender noch »Entzauberung des Westens«.5

Die Einsicht, dass der von Bin Laden angezettelte globale Bürgerkrieg bislang in weiten Teilen nach seinen Wünschen verlaufen sein dürfte, ist niederschmetternd, und es wundert nicht, dass bisher niemand gewagt hat, das auszusprechen. Aber wer seine Niederlage nicht eingesteht, kann nichts aus ihr lernen und sie nicht überwinden. Unsere Weigerung, dieser Realität in die Augen zu schauen, macht die Niederlage komplett. Zählen nicht Realitätssinn, Selbsterkenntnis und Selbstkritik zu jenen Eigenschaften, die moderne, aufgeklärte Gesellschaften in ganz besonderem Maß aufweisen sollten?

Mit der Niederlage (ob eingestanden oder nicht) und Abdankung des »Westens« fällt ein wesentliches Element der bisherigen Orientierung in der Welt fort, nämlich die Idee, dass sich die Geschichte in eine Richtung entwickelt, die der »Westen« vorgibt. Dieser Wegfall einer Zukunftsperspektive ist beunruhigend, wie ich gern zugebe. Andererseits entsteht dadurch jedoch eine neue Freiheit. Die »westliche« Perspektive war ziemlich einseitig, worauf uns auf kriegerische Weise der Terrorismus, auf zivilere Weise die antirassistischen »Black Lives Matter«-Proteste und die globale Umweltbewegung gestoßen haben. Freilich ist die Rede vom »Westen« immer schon problematisch gewesen, weswegen ich sie hier nach Möglichkeit meide oder den Begriff in Anführungszeichen setze. Die Gründe für die Problematik des Begriffs sind vielfältig.6 Auf zwei möchte ich ausdrücklich hinweisen:

Wie der britische Kulturgeograph Alastair Bonnett feststellt, ist der Begriff des »Westens« historisch und praktisch zutiefst mit der Vorstellung der Überlegenheit von weißen, aus Europa stammenden Menschen verknüpft. Benutzen wir ihn, so setzen wir diese Vorstellung einer weißen und europäischen Überlegenheit fort, ob wir wollen oder nicht. Bonnett schreibt: »Der Begriff ›westlich‹ hatte und hat eine rassistische Kodierung und geht mit der Erwartung einher, dass die Welt nie wirklich ›frei‹, ›offen‹ und ›demokratisch‹ sein wird, solange sie nicht europäisiert ist.«7

Der zweite Einwand betrifft die Perspektive, die wir jedes Mal unbewusst voraussetzen, wenn wir vom »Westen« reden. Nur wenn man in Europa auf die Weltkarte schaut, ist »der Westen« wirklich westlich, das heißt links auf der Karte, dort, wo man (West-)Europa und Amerika sieht. Die Mitte, der Fluchtpunkt, liegt ziemlich genau dort, wo im Kalten Krieg der Eiserne Vorhang verlief, und bis heute tun sich viele im »Westen« schwer damit, Osteuropa dazuzuzählen, insbesondere das orthodox geprägte Osteuropa, selbst wenn große Teile davon inzwischen Mitglied der EU sind.8

Schaut man hingegen außerhalb von Europa auf die Weltkarte, liegt der politische »Westen« nicht mehr im Westen, das heißt nicht mehr links auf der Karte. Redet man dort, sei es in den USA oder in Japan und China, dennoch vom »Westen«, übernimmt man, ohne dass man es merkt, die eurozentrische, zentraleuropäische Perspektive. Man verortet im Rahmen einer imaginären Landkarte Europa in der Mitte und macht es somit zum Zentrum der Welt.

So schmeichelhaft das für Europäer ist, es nährt ihren Dünkel, und es entspricht nicht den Tatsachen: Europa ist diese Mitte schon lange nicht mehr. Auch den USA, der einstigen europäischen Kolonie, tut es nicht gut, sich als »Westen« zu begreifen, dessen Zentrum und Perspektive damit unweigerlich europäisch eingefärbt ist: Denn das führt dazu, diejenigen Bürger, die nicht aus Europa stammen und die sich der eurozentrischen Perspektive verweigern, als nicht eigentlich amerikanisch abzuwerten: asiatische, muslimische, indigene, schwarze Amerikaner zum Beispiel. Auch aus Sicht der USA, gleichsam dem »Westen des Westens«, ist also eine Form von Rassismus und von Abwertung nichtwestlicher Perspektiven wirksam, sobald sich das Land als »westlich« betrachtet.

Abschließend ein Wort zu mir. Als Islam- und Literaturwissenschaftler habe ich ursprünglich meine Berufung darin gesehen, arabische Gedichte zu übersetzen. Später habe ich viele Jahre journalistisch gearbeitet. Was die Zukunft der islamischen Welt betraf, hielten sich in den neunziger Jahren Hoffnung und Skepsis die Waage. Ich glaubte damals, mit meinem Wissen und meiner Stimme zu einer positiven Entwicklung beitragen zu können. Aber seit 9/11 war ich vor allem mit Feuerlöschen beschäftigt. 2011 flackerte mit den arabischen Revolutionen kurzzeitig Hoffnung auf. Danach wurde die Situation von Jahr zu Jahr schlimmer. Wo ich früher relativ problemlos arbeiten, reisen und leben konnte, herrschte nun Bürgerkrieg, Terror, Gewalt oder maßlose Frustration. All das hatte es in dieser Region zwar seit jeher gegeben und war der Grund gewesen, weswegen ich mich schon als Schüler für sie interessierte. Aber mit 9/11 hatten die negativen Entwicklungen die...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Ägypten • Bagdad • Bin Laden • Corona • Covid 19 • Europa • Gegenwart • Geopolitik • George W. Bush • Ground Zero • Irak • Iran • Islam • Islamismus • Israel • Krieg • New York • Politik • Syrien • Terror • Transformation • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-446-27010-8 / 3446270108
ISBN-13 978-3-446-27010-7 / 9783446270107
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