Die große Angst (eBook)

Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Mosaik bei Goldmann (Verlag)
978-3-641-27807-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die große Angst -  Roland Paulsen
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Warum fühlen wir uns schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Was macht unser Leben heute komplizierter? Und warum sind Angststörungen und Depressionen gerade jetzt auf einem Höchststand? Dem geht der schwedische Soziologe Roland Paulsen in seiner klugen Analyse der Angst auf den Grund. Er zeigt, dass das Vermeiden jeglicher Risiken und die moderne Unfähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten, zu einem weit verbreiteten Angstgefühl führen. So erhöht die schiere Menge an Möglichkeiten, die uns in jedem Lebensbereich offensteht, die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen und damit die Angst davor. Überinformation führt nicht zu Beruhigung, sondern zu Verunsicherung und Gedankenspiralen: Was, wenn ... Mit seinem intelligenten Porträt unseres »Zeitalters der Angst« trägt Paulsen dazu bei, dass wir die Welt und uns selbst besser verstehen. Und vielleicht etwas weniger ängstlich auf unser Leben blicken.

Dr. Roland Paulsen, geboren 1981, ist außerordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Lund, Schweden, und ein vielfach ausgezeichneter Autor. Außerdem schreibt er für die schwedische Tageszeitung »Dagens Nyheter«.

Wie es uns geht


Ich bat um ein Zeichen, es nicht zu tun.
Es kam keins.
1

Suizid war das Thema einer der ersten soziologischen Studien überhaupt. Und es war auch das Thema, durch das ich zur Soziologie zurückgekehrt bin, dem Fach, in dem ich einst promoviert wurde. Ich stieß auf eine akademische Studie mit den typischen eng beschriebenen Seiten, die sonst nur eine Handvoll Wissenschaftler liest, in der Hunderte Abschiedsbriefe wiedergegeben wurden. Beim Lesen fühlte ich mich, als hätte sich das berüchtigte Fenster zur Brust des Menschen geöffnet und als wäre ich eingeladen worden hindurchzuschauen.

Eigentlich wäre es angemessen, wenn die Suizidologie (eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung des Suizids und der Suizidprävention beschäftigt) so viel Raum in der täglichen Berichterstattung einnähme wie derzeit die Volkswirtschaft.

Als der französische Soziologe Émile Durkheim vor etwas mehr als einem Jahrhundert den Weg für die Suizidologie bereitete, vertrat er die These, das Motiv des Einzelnen für den Suizid sei irrelevant. Die Wissenschaft verstünde besser als die Person selbst, was in ihr vorging. Diese Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert hielt sich hartnäckig. Mit der Zeit kleidete man sie sogar in ein medizinisches Gewand: Menschen, die sich das Leben nehmen, seien psychisch krank und hätten daher keine Vorstellung von ihren Motiven.

Forschung, die von dieser Prämisse ausgeht, ist problematisch – ihr fehlt das Fenster zu dem, was in einem Menschen vorgeht. Die naheliegende Frage: Was denken und fühlen Menschen, die sich das Leben nehmen?, beantwortet sie nicht.

»Im September 2007 kam ich zu dem Schluss, dass es sich nicht mehr lohnt weiterzuleben. Ich wandelte all mein Vermögen in Bargeld um und beschloss, mein Leben zu beenden, wenn mir das Geld ausging. Und nun ist es mir ausgegangen.«2

Die Motive sind vielschichtig. Für jede Antwort, die sie liefern, kommt eine neue Frage auf. Sehen Sie sich das Zitat an. Was kann diesen Mann, geboren in einem der reichsten Länder der Welt und wohlhabend, zu diesem Schritt getrieben haben? Kann es überhaupt rationale Gründe geben, oder handelt es sich immer um frei erfundene Erklärungen, die lediglich an der Oberfläche des darunter liegenden Morasts kratzen?

Wir wissen, dass wir es bei Suizid nicht nur mit einer individuellen Abweichung zu tun haben. Es ist kein Zufall, dass die Suizidrate in Russland seit Jahrzehnten 20- bis 60-mal höher ist als auf Barbados. Irgendetwas in Russland wirkt sich negativ auf den Lebenswillen aus. Aber was? Welcher gesellschaftliche Aspekt könnte die Verzweiflung erklären, die mit einer Entscheidung zur Selbsttötung einhergeht?3

Eine schwierige Frage, besonders vor dem Hintergrund der gern postulierten allgemeinen Haltung, die Menschen hätten es nie besser gehabt als heute. Dass ein durchschnittlicher europäischer Mensch im 13. Jahrhundert mit den damals herrschenden Lebensbedingungen haderte, verstehen wir. Wir wissen, dass die Pest für 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung tödlich war. Es schaudert uns bei dem Gedanken an vergangene Zeiten mit Missernten und daraus entstehenden Epidemien: Tuberkulose, Pocken, Ruhr und Mumps. Wir können uns kaum vorstellen, wie das Leben gewesen sein muss, wenn 20 bis 30 Prozent aller Kinder, arme wie reiche, nach nur ein paar Lebensjahren starben.4

Angesichts der Tatsache, dass es heute erheblich weniger Leid dieser Art gibt, erscheint es unbegreiflich, warum jemand Grund zu klagen haben sollte. Die Mordrate in Europa ist im Vergleich zum Mittelalter 40-mal geringer. Unserer Lebensmittelproduktion können selbst Wetterbedingungen nichts anhaben, die vor nur ein paar Jahrhunderten noch eine Hungersnot zur Folge gehabt hätten. Laut des Welternährungsberichts leiden weltweit mehr Menschen an Übergewicht als an Hunger. Die Pocken haben die Menschheit über Jahrtausende verfolgt, heute sind sie weltweit besiegt. Auch Polio ist fast ausgerottet. Und bei einer fünfmal geringeren Kindersterblichkeit sollte das Kinderkriegen uns nicht mehr annähernd so großes Kopfzerbrechen bereiten wie früher.5

Das kann gar nicht genug betont werden: Die Menschheit surft derzeit auf einer Welle wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung nie gekannter Art. Im Hinblick auf Ernährung, technische Ausstattung, Wohntemperatur und Gesundheitsversorgung leben selbst Menschen mit niedrigem Einkommen in der Regel besser als ein König im Mittelalter. Das Smartphone, das wir mit uns herumtragen, ist ein Wunderwerk mit einem gut sieben Millionen Mal größeren Speicher und der hunderttausendfachen Prozessorleistung des Computers, der sich an Bord der Apollo 11 auf ihrem Weg zum Mond befand.6

Warum sollte es uns also schlecht gehen?

Die Launen des Glücks


Viele Menschen gehen davon aus, dass auch das Wohlbefinden dem Prinzip des ewigen Fortschritts folgt. Sie neigen dazu, ihr eigenes Glück, oder ihre sogenannte Lebenszufriedenheit, in Korrelation zum Wirtschaftswachstum zu sehen. Da alle Länder immer mehr produzieren und konsumieren, sind das gute Neuigkeiten. Denn dann müssten wir nur dafür sorgen, dass sich die Räder der Wirtschaft immer schneller drehen, und könnten uns darauf verlassen, dass das Glück insgesamt weiter zunimmt. Das wäre eine beruhigende Nachricht, wir müssten uns keine Sorgen machen, das Wichtigste wäre, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Wenn wir uns eingehender mit der Glücksforschung beschäftigen, finden wir mehrere Gründe, dieses Weltbild zu hinterfragen. Ab einem bestimmten Niveau (vergleichbar mit dem, das wir in den 1950er-Jahren erreicht haben) wird der Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum eines Landes und der Anzahl der Menschen mit einer hohen Lebenszufriedenheit immer schwächer. Oberhalb dieses Niveaus lässt sich kaum noch ein Muster erkennen. Ein steinreiches Land wie Singapur weist beispielsweise keine höhere Anzahl an glücklichen Menschen auf als ein erheblich ärmeres Land wie Panama. Und ein mittelreiches Land wie Finnland übertrifft erheblich reichere Länder wie Luxemburg und Kuwait mühelos.7

Historisch betrachtet zeigt sich diese Entwicklung in den reichsten Ländern am deutlichsten. In Japan, den USA und Großbritannien hat sich das Wirtschaftswachstum im Betrachtungszeitraum verdoppelt, während die Entwicklung des Glücksniveaus stagnierte. Die amerikanischen Umfrageergebnisse seit den frühen 1970er-Jahren bis heute zeigen sogar, dass die Bevölkerung dort mit ihrem Leben etwas weniger zufrieden ist, obwohl die USA inzwischen doppelt so reich sind.8

Glücksmessungen bieten mit anderen Worten Raum für verschiedene Interpretationen. Auch die Art und Weise, wie Glück überhaupt gemessen wird, ist eine viel diskutierte Problemstellung. Normalerweise verwendet man eine zehnstufige Skala (Cantril-Leiter genannt), auf der die Befragten zwischen 0 für »das schlechteste Leben, das Sie sich vorstellen können« und 10 für »das beste Leben, das Sie sich vorstellen können« wählen sollen. Aber was bedeutet diese Einschätzung? Wie interpretieren wir beispielsweise Begriffe wie »vorstellen«?

Die Meinungen gehen hier stark auseinander. Mehrere Studien kommen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass in den meisten Ländern Eltern ihr Glück geringer einschätzen als Personen ohne Kinder. Sie scheinen mit ihrem Leben weniger zufrieden zu sein – besonders in der Zeit, in der sie sich um ihre Kinder kümmern.9

Aber wenn wir etwas genauer hinschauen, ergibt sich ein anderes Bild der Elternschaft: Auf die Frage, inwiefern sie das Gefühl haben, dass ihr Leben einen wichtigen Sinn hat, also »sinnvoll« ist, antworten Eltern viel häufiger mit Ja als Kinderlose.10

Die Unterscheidung zwischen »Glück« und »Sinn« zeigt in vielerlei Hinsicht, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, dem es »gut geht«. Ein Teil von uns ist zufrieden oder unzufrieden, froh oder traurig, glücklich oder unglücklich. Aber es gibt auch etwas in uns, das Fragen stellt: ob das Leben einen Sinn hat, ob es in einem größeren Zusammenhang steht, ob wir auf ethisch vertretbare Weise leben, ob wir dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Wenn wir diese Fragen berücksichtigen, lässt sich an der Vorstellung, die Welt würde immer besser werden, kaum noch festhalten.

Obwohl in den letzten 200 Jahren eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung nie gekannten Ausmaßes stattgefunden hat, behaupten die jüngeren Generationen heute: Dies ist der Wendepunkt. Wer heute aufwächst, wird es schlechter haben. Vor allem im Hinblick auf materiellen Wohlstand hat der Zukunftsglaube nachgelassen. In Hoch- und Niedrigeinkommensländern antwortet die Mehrheit der Befragten, dass heute aufwachsende Kinder es finanziell schwerer haben werden als ihre Eltern. In einigen Ländern wie Frankreich und Japan glauben nur 15 Prozent, dass es den Kindern einmal besser gehen wird. Selbst wenn man jüngere (nach 1982 geborene) Personen befragt, geht die Mehrheit in den meisten untersuchten Ländern nicht nur davon aus, dass sie es finanziell schlechter haben wird, sondern auch, dass sie weniger glücklich sein wird als die Generation ihrer Eltern.11

Was diese Kehrtwende im Vertrauen auf die Zukunft bedeutet, ist derzeit noch nicht abzusehen. Es war einmal umgekehrt, jüngere Generationen erklärten: Wir wollen nicht so leben wie...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2021
Übersetzer Ulrike Brauns, Ricarda Essrich
Sprache deutsch
Original-Titel TÄNK OM
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Angst • Angststörung • Corona • Depression • eBooks • Existenzangst • Gesundheit • Klimakrise • Krise • Psychologie • Ratgeber • Sorgen • Soziologie • Unsicherheit • Zukunftsangst • Zwangsstörung
ISBN-10 3-641-27807-4 / 3641278074
ISBN-13 978-3-641-27807-6 / 9783641278076
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