Die Reise ins Reich (eBook)

Unter Rechtsextremisten, Reichsbürgern und anderen Verschwörungstheoretikern
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00810-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Reise ins Reich -  Tobias Ginsburg
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Acht Monate lang tauchte Tobias Ginsburg inkognito in die Szene der «Reichsbürger» und rechten Verschwörungstheoretiker ein. Er baute sich eine Scheinidentität im Netz auf und bewegte sich unter AfD-Politikern, gewaltbereiten Neonazis und friedensbewegten Esoterikern in Braun, Sektierern und Systemumstürzlern. Sein Buch ist ein ebenso erschütternder wie komischer Streifzug durch eine Welt böser Verführer und verführter Irregeleiteter, das zugleich einen neuen, literarischen Ton in die investigative Reportage einführt. Ein ungewöhnliches Enthüllungsbuch. Es erscheint hier in einer aktualisierten, überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten Fassung. «Ginsburg begegnet - und das ist eine große Leistung - den Menschen auf seiner Reise eher mit Neugier denn mit Abneigung.» Süddeutsche Zeitung «Ein irrwitzig-wahnsinnig-komisches Buch. Tobias Ginsburg erzählt als Literat und Aufklärer von dieser wahrhaft bedrohlichen Szene.» Günter Wallraff

Tobias Ginsburg, Jahrgang 1986, ist Autor und Regisseur. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie. 2016 war er Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs, 2020 erhielt er das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung. 

Tobias Ginsburg, Jahrgang 1986, ist Autor und Regisseur. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie. 2016 war er Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs, 2020 erhielt er das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung. 

Eins Die Reise an den Rand des Wahnsinns


Von Königen, Faschisten und der Esoterik

Das Königreich und die Krankheit


Das Versprechen


Wir sitzen um ein hoch in den Himmel fackelndes Lagerfeuer herum. Wenn das Wetter es zulässt, hocken die Bewohner des Königreichs Deutschland hier jeden Abend. Die Feuerstelle liegt hinter dem Hauptgebäude, zwischen Parkplatz und lichtem Birkenwäldchen, inmitten des neun Hektar großen Staatsgebietes, einem ehemaligen Krankenhausgelände, umgeben von Maschendrahtzaun, umschlossen von der Bundesrepublik Deutschland.

Feindesland.

Betäubende Harmlosigkeit sickert aus jedem milden Lächeln, albernen Witz und verständnisvollen Nicken der knapp dreißigköpfigen Abendgesellschaft. Drei Männer umkreisen mit sachkennerischem Gesichtsausdruck das Feuer und legen übertrieben große Holzscheite nach, die Mädchen piksen sich gegenseitig ihre Finger in die Rippen und lachen quietschend auf, und der Österreicher verteilt ein paar Bierflaschen aus seinem Privatbesitz. Das sind die aufregenden Geschehnisse. Die anderen sitzen in gemäßigter Lustigkeit um das Feuer herum, und Elrond der Hund jagt eine Heuschrecke oder etwas Vergleichbares durch das hohe Gras.

Selbst wenn ich nicht wüsste, was hinter diesem einträchtigen Beisammensein steckt (und ich weiß es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur so halb), selbst dann wäre mir der hart harmonische Umgangston fürchterlich nervig vorgekommen. Aber dann beginnt Johannes neben mir auf der Bank zu erzählen, und mir wird immer schlechter.

Johannes und ich sind beide Wochenendgäste des Königreichs. Wir haben uns beim Rauchen am Zollhäuschen kennengelernt, denn das Königreich ist ein strenges Nichtraucherreich, und qualmend sind wir dann die deutsch-deutsche Grenze entlangspaziert, haben uns die Vorgärten auf der BRD-Seite angesehen, über unsere Zukunftsängste geredet und über einen ganz abscheulichen Gartenzwerg gelacht. Irgendwie war das sehr nett. Johannes ist zwar völlig irre, aber ich kann ihn gut leiden. Er ist Anfang vierzig, wirkt beim Lachen wie ein kleiner Junge und führt ein normales Leben in Deutschland. Er hat einen guten Job bei einem großen Industriekonzern, verdient sein Geld, zahlt seine Steuern, fährt sein Auto, geht in den Supermarkt, ins Kino und zum Elektrogroßhandel, schaut Fußball, streichelt Hunde, reserviert Tische, leckt an Briefmarken, frühstückt belegte Vollkornbrötchen, wartet an roten Ampeln, geht bei Grün, atmet Sauerstoff ein und Kohlenstoffdioxid aus. Aber dann ist er eben auch aus tiefster Seele davon überzeugt, dass der Staat eine von finsteren Kräften geführte Firma und Foltermaschinerie ist, die ihn und das deutsche Volk bestrafen soll.

Gerne würde er sich wehren, sagt Johannes, eigentlich müsste er sich wehren, sagt er, irgendwas müsse man ja tun, müsse man doch, und er schaut suchend in die Runde und dann auch flehentlich zu mir. Glutfunken sausen durch den dunkelblauen Abend, und Johannes berichtet vom Albtraum, als den er seinen Alltag in der BRD wahrnimmt. Seine Familie, seine Freunde und Bekannten sind alle hirngewaschen und kaputt, völlig kaputt, sagt er, machen sich über ihn lustig, nennen ihn einen Verschwörungstheoretiker. Vor ein paar Monaten hat ihn schließlich seine Frau verlassen. Sie hat ihn und seine Wahrheiten nicht mehr ertragen. Er hatte kurz zuvor beinahe seine gesamten Ersparnisse abgehoben und dafür Gold und Silber gekauft. Der Edelmetallhändler hatte amüsiert den Kopf geschüttelt, seine Frau ihn als dummen Idioten beschimpft. Aber die werden sich noch wundern, sagt Johannes, sobald der große Knall kommt. Die milden Gesichter der Anwesenden trösten ihn, aber Johannes ist einsam. Er ist verzweifelt. Aufrichtig verzweifelt. Alles Gute, Wahre und Schöne ist ihm von bösen, nein, von dämonischen, nein, satanischen Mächten genommen worden, und er weiß nicht mehr weiter.

Die milden Gesichter nicken, und Elrond der Hund schnüffelt an einem Blümchen.

Vieles an dieser Situation kann einem Angst einjagen. Zum Beispiel, dass Menschen so einen albtraumfarbenen Mist denken können und dass andere Menschen solche Gedanken teilen – oder, schlimmer noch, solche Gedanken hinnehmen, ohne sie selbst zu glauben. Es kann einem Angst machen, dass Menschen, die so was denken, so normal aussehen. Und dass die Menschen, die zuhören, dabei so brutal milde rumglotzen können.

Aber am erschreckendsten ist die Verworrenheit, die entsetzliche Ununterscheidbarkeit in diesem Moment. Ich kann nicht zwischen gefährlich und verschroben unterscheiden, zwischen Überzeugung und Psychose, zwischen Wahnsinn und Kalkül.

Wenn ich mit Sicherheit sagen könnte, dass ich hier im Königreich von Spinnern und Geisteskranken umrundet wäre, dann würde es mir bessergehen. Dann wäre es leicht, das alles auszuhalten. Dann könnte man nach Hause fahren. Aber auch wenn die wirren Gedanken im Reich wie Fieberschübe wirken – dahinter steckt System.

Ach, Johannes: Man kann zwar nur mutmaßen, wie es klinisch gesehen um seinen Kopf bestellt ist, aber seine seelischen Schmerzen sind offensichtlich. Das Königreich Deutschland verspricht ihm Linderung: Es ist nicht weniger als die Utopie eines wahren und besseren Landes, in dem all das empfundene Übel dieser Welt keinen Platz mehr hat. In diesem Deutschland wird Johannes’ Goldschatz Millionen wert sein und seine Frau zu ihm zurückkommen. Ganz sicher.

Dieses Heilsversprechen wird ihm überbracht vom Freiherrn Benjamin von Michaelis.

Der Adelstitel hat es verraten: Freiherr Benjamin ist eine große Nummer in dem kleinen Land. Seit der König im Juni 2016 in Untersuchungshaft kam, steht von Michaelis gemeinsam mit Vizekönig Martin an der Spitze des neun Hektar großen Staates. Freiherr Benjamin ist jung, drahtig und geschniegelt. Er trägt Gel im dünnen Haar, ein Henri-Quatre-Bärtchen im Gesicht und ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. Er hat sich zu uns gesetzt und aufmerksam Johannes’ Wehklagen gelauscht.

Die übrigen Untertanen widmen sich ihren eigenen Gesprächen, während Benjamin auf Johannes einredet. Mit weichgespülter Sprache und öligem Timbre präsentiert er dem verwirrten Johannes Antworten: Man müsse nur an das Königreich glauben. Egal wie schlimm die Welt jenseits des Maschendrahtzauns auch sein mag: Das Böse könne besiegt werden, allein mit Liebe und mit Glaube an das wahre Deutschland. Das wiederum könne niemand niemals nie vernichten.

Das sagt der Freiherr mit furchtbar vielen Worten. Mit langsamen und präzise gesetzten Bewegungen spiegelt er dabei sein Gegenüber. Er fixiert Johannes mit intensivem Blick und blinzelt nur an Satzenden oder wenn er einen Punkt ganz besonders hervorheben will. Von Zeit zu Zeit berührt er Johannes’ Schulter und nickt ein ungeheuer langsames Nicken. Ich kenne solche suggestiven Kommunikationspraktiken in erster Linie von Weiterbildungsseminaren, die gerne überambitionierten BWL-Studenten und Unternehmensberatern angeboten werden. Aber für den Anwendungsbereich Psychosekte eignen sie sich offensichtlich auch hervorragend.

Und warum leidet Johannes so? Der Freiherr gibt die Antwort: Weil Johannes nicht genug an die gemeinsame Vision glaube und nicht genug dafür tue, so spricht der junge Aristokrat, und Johannes schrumpft vor ihm zusammen. «Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin … Ich bin so wütend», murmelt er mit verblüffend leerem Gesichtsausdruck. Benjamin wirkt im flackernden Licht des Feuers mit seinen weit aufgerissenen Augen wie ein regelrechter Bösewicht. Er, der Phantasieadelige, hat den verzweifelten Mann jetzt fest in der Hand, und ich bin begeistert, gleich an meinem ersten Tag hier einen skrupellosen Demagogen kennenzulernen.

Irgendwann später wird Benjamin mir erzählen, dass seine Mutter von Anfang an eine glühende Verehrerin des Königs war und ihn bald hinzuholte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dazuzugehören. Täter und Opfer: noch so eine Kategorie, die sich hier auflöst … Oder es fällt mir bloß schwer, die Existenz skrupelloser Demagogen zu akzeptieren. Besonders wenn man mit ihnen zusammen am Lagerfeuer sitzt und die Grillen so nett zirpen.

Johannes und der Freiherr sprechen noch lange miteinander. Über die Unmöglichkeit, da draußen zu leben, über die Schwierigkeiten, es hier drinnen zu tun, über die Notwendigkeit, es dennoch zu versuchen und sich nicht von der ganzen Anti-Reichsbürger-Propaganda fertigmachen zu lassen. Manchmal bricht die Wut aus Johannes, und die Worte zischen zwischen seinen Zähnen hervor: «Wir sind doch die Friedlichen», schäumt er dann etwa, «die suchen doch den Kampf! Da muss man doch …» Aber der Freiherr Benjamin beruhigt ihn gleich wieder mit kontrolliert-sanfter Körpersprache und geradezu postkoitalem Tonfall. Er bestätigt Johannes in allen seinen Ängsten und bietet ihm Hoffnung. Im Austausch für Hingabe. Und finanzielle Unterstützung, versteht sich.

«Aber wir können ja nicht alle im Königreich leben», traue ich mich irgendwann zu sagen. «Wie soll man denn friedlich bleiben, wenn man da draußen im Feindesland...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Birgit Malsack-Winkemann • Corona-Gegner • Dokumentarbericht • Dokumentation • Einwanderung • Geheimbünde • Gesellschaft • Heinrich XIII Prinz Reiß • Identität • Ideologien • Maximilian Eder • Migration • Nationalismus • Nazis • Neonazis • Neue Rechte • NSU • NWO • Qanon • Querdenker • Radikalisierung • Rechtsextremismus • Reichsbürger • Reichsbürgerbewegung • report • Reportage • Souveränität • Staatenlos • umsturzpläne • undercover • Verfassung • Verfassungsschutz • Verschwörungstheoretiker • Verschwörungstheorien • Völkischer Nationalismus • Zuwanderung
ISBN-10 3-644-00810-8 / 3644008108
ISBN-13 978-3-644-00810-6 / 9783644008106
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