Heldendämmerung (eBook)

Wie moderne Gesellschaften mit umstrittenen Denkmälern umgehen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29067-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heldendämmerung -  Alex von Tunzelmann
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Stürzen oder stehenlassen? Spätestens seit im Zuge der Black Lives Matter-Proteste in den USA und England Porträtstatuen von Kolonialherren und Sklavenhändlern niedergerissen wurden, wird auch hierzulande darüber debattiert, wie wir uns zu unserer kolonialen Vergangenheit und ihren in Stein gemeißelten Manifestationen verhalten sollten. Davon zeugt beispielsweise die Diskussion um den Umgang mit den zahlreichen im öffentlichen Raum errichteten Denkmälern Otto von Bismarcks - für die einen ein Held, für die anderen Wegbereiter des deutschen Imperialismus mit all seinen Grausamkeiten.
Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann leistet mit Heldendämmerung einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte: Vom ersten US-Präsidenten und Sklavenhalter George Washington über den belgischen König und Kolonialverbrecher Leopold II. bis hin zu schillernden Diktatorenfiguren wie Josef Stalin und Rafael Trujillo schreibt sie über zwölf umstrittene Helden und deren Denkmäler, die im Laufe der vergangenen 250 Jahre im Zuge von Protestbewegungen weltweit zu Fall gebracht wurden. Die Beschäftigung mit diesen Monumenten - wofür sie stehen, in welchem Kontext sie errichtet und später gestürzt wurden - berührt Fragen, die wir uns als aufgeklärte Gesellschaft stellen müssen: Wer oder was definiert uns? Wie und von wem wird Geschichte geschrieben? Welche historischen Narrative bedürfen einer Umdeutung - und wie kann diese erfolgen?

Ein hochaktuelles Buch - weniger Aufruf zum Denkmalsturz, als ein Appell zur kritischen Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit.

Alex von Tunzelmann ist eine britische Historikerin, Drehbuchautorin und Publizistin. Sie ist Autorin mehrerer historischer Sachbücher und schreibt unter anderem für The Guardian, The New York Times und The Daily Telegraph. Sie lebt und arbeitet in London.

EINLEITUNG

Wie Geschichte geschrieben wird


In diesem Buch geht es um die Frage, wie wir Geschichte schreiben. Wir gedenken der Vergangenheit auf unterschiedlichste Weise – in Liedern und Versen, in Filmen, Serien und Fernsehsendungen, durch Kunst und Artefakte, durch Ausstellungen und auf Festivals. Wir packen unsere Geschichten in Belletristik und Sachbücher, in Propaganda, Anekdoten und Witze. Dieses Buch konzentriert sich auf eine besonders umstrittene Form des historischen Geschichtenerzählens: auf Statuen. Statuen sollen die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes in Stein meißeln – was, wie wir sehen werden, nicht immer gelingt.

Im Jahr 2020 wurden in einer nie dagewesenen Welle des Ikonoklasmus überall auf der Welt Statuen vom Sockel gestürzt. Solche Wellen hatte es auch früher schon gegeben – etwa während der englischen Reformation, der Französischen Revolution oder des Zerfalls der Sowjetunion –, doch der Bildersturm von 2020 umfasste erstmals die ganze Welt. Überall in den Ländern der ehemaligen Kolonialmächte und deren ehemaligen kolonialen Besitzungen verunstalteten Black-Lives-Matter-Demonstrantinnen und -Demonstranten die Statuen von Sklavenhaltern, Konföderierten und Imperialisten und rissen sie nieder – von den USA und dem Vereinigten Königreich über Kanada, Südafrika und die Karibik bis nach Indien, Bangladesch und Neuseeland. Edward Colston wurde im englischen Bristol im Hafen versenkt. Robert E. Lee wurde im US-amerikanischen Richmond, Virginia, mit Graffiti beschmiert. Christoph Kolumbus wurde in Minnesota vom Sockel gestürzt, in Massachusetts geköpft und in Virginia in einen See geworfen. König Leopold II. von Belgien wurde in Antwerpen in Brand gesetzt und in Gent mit roter Farbe übergossen. Und Winston Churchill pinselte jemand in London den Titel »Rassist« auf den Sockel.

Es gab Befürchtungen, dass ein wahrer Rausch der Zerstörung losbrechen würde. In den USA standen Konföderiertenstatuen zwar schon länger im Fokus öffentlicher Proteste; nun aber ging man auch auf die Statuen nationaler Ikonen und progressiver Persönlichkeiten los. In Madison, Wisconsin, rissen Demonstrierende die Statue eines Mannes nieder, der sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hatte, genauso wie die Forward Statue, ein Symbol der Frauenrechte. In Rochester, New York, wurde die Statue eines anderen Abolitionisten – Frederick Douglass – vom Sockel gestürzt; dabei war unklar, ob es sich bei den Tätern um verwirrte Antifaschisten handelte oder um Faschisten, die sich für die Beseitigung der Statuen von Konföderierten und Sklavenhaltern rächen wollten. Und im dänischen Kopenhagen wurde die Statue der Kleinen Meerjungfrau mit den Worten »Rassistenfisch« beschmiert – das allerdings sollte wohl ein Scherz sein.1

An vorderster Front der Gegenreaktion stand Donald Trump. Er unterzeichnete ein präsidiales Dekret (Executive Order), in dem es hieß: »Viele der Randalierer, Brandstifter und Linksextremisten, die diese Taten verübt und unterstützt haben, haben sich ausdrücklich zu Ideologien wie dem Marxismus bekannt, die zur Zerstörung der Staatsordnung der Vereinigten Staaten aufrufen.« Wer staatliches Eigentum beschädige, dem drohe eine zehnjährige Haftstrafe, wurde bekräftigend hinzugefügt. »Einzelpersonen und Organisationen haben zwar das Recht, sich friedlich für die Beseitigung oder den Bau von Denkmälern einzusetzen«, hieß es abschließend. »Aber keine Einzelperson und keine Gruppe hat das Recht, ein Denkmal unter Anwendung von Gewalt zu beschädigen, zu verunstalten oder zu entfernen.«2

Als Trump das Denkmal am Mount Rushmore besuchte, erzählte er Kristi Noem, der Gouverneurin von South Dakota, dass es sein Wunschtraum sei, sein eigenes Gesicht in den Berg gemeißelt zu sehen, neben denen von Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln. »Ich musste lachen«, erzählte sie dem Sender CNN, »aber er blieb todernst und verzog keine Miene.«3 Trump twitterte prompt ein Dementi seiner Aussage, nur um sie im selben Satz erneut zu bekräftigen: »Das sind Fake News von Versager-@nytimes & Miese-Quoten-@CNN. Ich habe das nie gesagt, obwohl es angesichts der vielen Erfolge in meinen ersten dreieinhalb Jahren – wahrscheinlich mehr als in jeder anderen Präsidentschaft – eigentlich eine gute Idee wäre!«4

Auch der britische Premierminister Boris Johnson meldete sich über Twitter zu Wort: »Diese Statuen lehren uns etwas über unsere Vergangenheit, mit all ihren Fehlern. Sie zu zerstören käme einer Verfälschung unserer Geschichte gleich und würde die Bildung kommender Generationen ärmer machen.« Dann kündigte die konservative Regierung eine Änderung des Gesetzes über die Beschädigung von Kriegsdenkmälern an, der zufolge jeder, der in Großbritannien ein Kriegsdenkmal beschädigt, ebenfalls mit zehn Jahren Gefängnis rechnen müsse.5

Auch Museen und städtische Behörden reagierten schnell, wenn auch sehr unterschiedlich. So entfernte das Museum of London Docklands nur einen Tag nach dem Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston die Statue von Robert Milligan, ebenfalls ein Sklavenhändler. Und das American Museum of Natural History in New York kündigte an, die Reiterstatue von Theodore Roosevelt vor dem Eingang zu beseitigen. Die Statue, die neben dem berittenen Roosevelt einen amerikanischen Ureinwohner und einen Afrikaner zeigte – beide in untergeordneten Positionen –, hatte schon seit Jahrzehnten für Ärger gesorgt. Und im neuseeländischen Hamilton wurde die Statue des Namensgebers der Stadt, Captain John Hamilton, entfernt, nachdem ein Maori-Ältester daran erinnert hatte, dass Hamilton ein »mörderisches Arschloch« gewesen sei.6

Die rechtsgerichtete republikanische Regierung in den Vereinigten Staaten und die Konservativen in Großbritannien indes nahmen den Bildersturm zum Anlass, einen regelrechten Kulturkrieg anzuzetteln, in dem sie sich selbst als die Krönung der amerikanischen beziehungsweise britischen Zivilisation inszenierten: als letztes Bollwerk gegen Barbarei und »politische Korrektheit« – oder Wokeness, wie es damals zunehmend hieß, also politisch-soziale Sensibilität. So drohte der britische Kulturminister Oliver Dowden im September 2020 den Museen im Falle von »aktivistisch oder politisch motivierten« Aktionen mit einer Kürzung der Mittel.7 Präsident Trump ging noch einen Schritt weiter: »Wie ich schon vor zwei Monaten am Mount Rushmore gesagt habe – den sie ja zu gerne auch abreißen würden, und das am liebsten sofort, aber daraus wird nichts –, zielt die linke Kulturrevolution darauf ab, die amerikanische Revolution zu beseitigen«, sagte er. Dann kündigte er an, eine Kommission mit dem Namen »1776« ins Leben zu rufen – der Jahreszahl der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten –, die sich um die »patriotische Bildung« der Amerikanerinnen und Amerikaner kümmern sollte. Außerdem versprach er einen neuen Statuenpark für die Helden Amerikas, den »National Garden of American Heroes«.8

Sind Statuen wirklich so ein Riesenthema? Die meisten Städterinnen und Städter laufen vermutlich täglich mehrmals an irgendwelchen Stein- oder Metallgebilden vorbei, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, wen sie da eigentlich vor sich haben oder wofür diese Figuren stehen. Über manche Exemplare, wie beispielsweise die Nilpferdstatue im taiwanesischen Taipeh, die halb im Pflaster versunken den Gehweg entlangzuschwimmen scheint, kann man sich einfach amüsieren. Aber fragen Sie mal zwanzig Passanten, um wen es sich bei der Standardstatue des älteren Herrn auf Pferd, den sie da gerade vor sich haben, eigentlich handelt – die Chancen stehen gut, dass kein einziger es weiß. Wie der österreichische Schriftsteller Robert Musil schon bemerkte: »Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.«9

Und doch sind manche Statuen ganz offensichtlich von großer Bedeutung, sonst würden die Staats- und Regierungschefs nicht derart drakonische Schutzmaßnahmen verhängen. Unter bestimmten Umständen – wenn auch vielleicht nicht gerade im Fall der Nilpferde – sind Statuen eben deutlich mehr als nur irgendwelche Gebilde aus Stein oder Metall. Sie sind Ikonen von Persönlichkeiten, deren Symbolkraft die Grenze zwischen weltlich und religiös überschreitet. Außerdem stehen sie nicht nur für die jeweils repräsentierte Person, sondern zugleich für die nationale oder kulturelle Identität oder die Identität einer bestimmten Community. Der kritische Blick auf die Fehltritte der dargestellten Person beleuchtet daher automatisch zugleich die Fehltritte der Nation selbst. Nicht umsonst hat Präsident Trump wiederholt betont, dass die Entfernung von Statuen letztlich zur Zerstörung der Vereinigten Staaten führen könnte.

Seit den 1990er-Jahren wird im Zusammenhang mit polarisierenden Themen, die einen Keil zwischen die Vertreter traditioneller Werte und die Verfechter progressiverer Anschauungen treiben, häufig der Begriff des »Kulturkampfes«* verwendet. Auf den ersten Blick folgten auch die Angriffe auf die Statuen 2020 diesem Muster: Tendenziell unterstützten eher jüngere und gesellschaftlich liberalere Menschen die Demonstrierenden, während die Älteren und Konservativeren sich eher bestürzt über die Zerstörung zeigten.

Bei näherer Betrachtung ist die Sache jedoch weitaus komplizierter. Als 2014...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2022
Übersetzer Kristin Lohmann
Zusatzinfo mit 8 S. vierfarbigem Bildteil
Sprache deutsch
Original-Titel Fallen Idols. Twelve Statues That Made History -
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • BLM • Denkmal • Denkmalsturz • eBooks • Geschichte • Imperialismus • Kolonialismus • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Protest • Umgang mit Geschichte • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-641-29067-8 / 3641290678
ISBN-13 978-3-641-29067-2 / 9783641290672
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