Einigt Euch! (eBook)

Warum der Kompromiss kompromisslos ist

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
192 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-26286-0 (ISBN)

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Einigt Euch! -  Sven Kuntze
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Warum Kompromisse im Leben unverzichtbar sind
In unserer gesamten Entwicklungsgeschichte bis hin zur Demokratie, vom Liebesleben bis ins Kanzleramt ist der Kompromiss unser ständiger Begleiter: eine probate und unerlässliche Sozialtechnik seit Menschengedenken, wenn es darum geht, uns im Großen wie im Kleinen durch die Wogen des Lebens und unsere vielschichtigen Beziehungen zu navigieren. Gewohnt unterhaltsam und (lebens-)klug spürt Sven Kuntze in unterschiedlichen Annäherungen den mannigfaltigen Formen des Kompromisses nach - in Geschichte und Gegenwart, in der Gesellschaft und im Leben jedes Einzelnen - und zeigt, warum er unerlässlicher ist denn je.

Sven Kuntze studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tübingen. Er berichtete als TV-Reporter für den WDR aus Bonn, New York und Washington, moderierte ab 1993 das ARD Morgenmagazin und ging mit dem Regierungsumzug nach Berlin, wo er als Hauptstadtkorrespondent arbeitete. Seit 2007 ist Sven Kuntze im Ruhestand, aber immer noch als freier Journalist und Autor tätig. Sein Buch »Altern wie ein Gentleman« (2011 bei C. Bertelsmann) war ein SPIEGEL-Bestseller. Zuletzt erschien von ihm »Alt sein wie ein Gentleman« (2019).

1   Erste Annäherung


»Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind.«

Aristide Briand

Im Marschgepäck unserer frühen Vorfahren befand sich nicht nur der Kompromiss, sondern auch das Talent zur Empathie, eine wesentliche Voraussetzung für die Befähigung zum Kompromiss, wie sich zeigen wird.

Wo aber sind die nützlichen Begabungen zu verorten? Wir entdecken sie in der Geselligkeit. Allein ist der Mensch zu schwach, und einsam hält er sich nicht aus. Die Befähigung zur Gemeinschaft ist das kostbarste Geschenk der Evolution an den Homo sapiens, wie das tragische Schicksal des Neandertalers bezeugt. Der war zwar klüger und stärker als die Migranten, die vor 50 000 Jahren aus Afrika nach Europa zugewandert waren. Ihm fehlte jedoch, im Gegensatz zu seinem Konkurrenten, die Bereitschaft zum Miteinander. Der Neandertaler blieb Einzelgänger, und diese sind »zum Niedergang verurteilt«, wie Charles Darwin später erkannte.

Für beide frühen Menschenformen, Homo sapiens wie Neandertaler, gab es noch einiges zu lernen, um sich gegen eine feindliche Natur zu behaupten. Wer jedoch gemeinsam lernt und an den Erfahrungen anderer teilhaben darf, begreift schneller und mehr. Der Homo sapiens wurde dadurch nicht stärker und intelligenter, aber er war besser gerüstet, die letzte Eiszeit, die vor etwa hunderttausend Jahren begann, in geselliger Gemeinschaft zu überleben, während der Neandertaler in seinen kalten Höhlen einsam das Zeitliche segnete.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel hielt den Kompromiss für »eine der größten Erfindungen der Menschheit« und vermutete, dass dieser eine »lange historische Entwicklung zur Voraussetzung hatte«. Ich dagegen bin überzeugt, dass er vom ersten Augenblick der Menschwerdung zur Stelle war – so wie die Luft zum Atmen und die Libido zur Fortpflanzung. Ohne ihn wäre Homo sapiens nicht sehr weit gekommen, denn der Kompromiss hielt ihm viele der Bedrohungen, die nicht lange auf sich warten ließen, vom Leib. Sein gefährlichster Feind war unmittelbar er selbst. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen war er imstande, sich auszurotten, wäre ihm der Kompromiss nicht immer wieder in den Arm gefallen.

Von der ersten Stunde an war die Not eine ständige Begleiterin der Neuankömmlinge in den weiten Savannen Ostafrikas. Es fehlte täglich an allem: Wildbret, Holz und Früchten des Feldes. Kompromisse im Vollzug gemeinsamer Praxis waren die Voraussetzung für das Überleben bei stets bedrohlich knappen Mitteln in einer feindlich gesinnten Umwelt.

Wir dürfen vermuten, dass die frühen Menschen sich freizügig an ihrer Umwelt bedienten und jeder gleichen Zugang zu den Ressourcen hatte. Niemand indes misst einer Allmende, einem Gut, das allen zur freien Verfügung steht, einen Wert bei. Im Gegenteil, durch Verschwendung und Achtlosigkeit kann Gemeindeeigentum die »Ursache allen Übels« sein, fasst der amerikanische Ökologe Garrett Hardin eine lebenslange Beschäftigung mit dem Thema zusammen. Und der kanadische Ökonom Scott Gordon ergänzt den Gedanken: »Weil jeder, der so tollkühn ist zu warten, bis er an die Reihe kommt, schließlich feststellen muss, dass andere seinen Teil bereits weggenommen haben.« Unter dieser Voraussetzung drohen Vorräte rasch zur Neige zu gehen. Ohne den Kompromiss als geeignetem Werkzeug, die gefährliche Selbstbedienung einzuhegen, wären unsere Vorfahren unversehens in eine überlebensbedrohliche Situation geraten und hätten die Allmende der frühen Tage kaum überstanden.

Seither gehört der Kompromiss zu uns wie der Sonnenaufgang zum Tagesanfang. Über die Zeiten wurden zahlreiche, verbindliche Regeln entwickelt und diese beständig verfeinert. Homo sapiens lernte, auf soziale Entwicklungen zu reagieren und sich geschmeidig kulturellen Eigenarten anzupassen. Bis der Kompromiss schließlich zum »Anfang aller kultivierten Wirtschaft und des höheren Güterverkehrs« wurde, wie Simmel beeindruckt notiert.

Freilich, die Geschichte lässt ihre Mitarbeiter selten allein ziehen und ungestört ihren Bestimmungen nachgehen, sondern stellt ihnen in der Regel einen Widerpart als Korrektiv zur Seite. Die »zwei Seelen in einer Brust« sind die Ursache jener Zwiespältigkeit, die dem Menschen im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen eigen ist: Liebe und Hass, Jubel und Verzweiflung, Fleiß und Faulheit. Die Spannungen und Gefahren, die aus diesen Gegensätzen entstehen, sind die Ursache der unerschöpflichen Vielfalt und Dynamik menschlichen Handelns. Ohne sie hätte es ein baldiges Ende mit dem Zuzug aus Ostafrika genommen. Der Homo sapiens hat jedoch überlebt – und mehr als das.

Gegenspielerin zum Kompromiss sollte die »Tat« werden, die entschlossene Entscheidung zu handeln. Ihr ist eigen, was ihm fehlt: Tempo, Mumm und Kühnheit.

Ihren wohl nachhaltigsten Auftritt hatte die Tat im Jahre 333 vor Christi Geburt, als Alexander der Große den gordischen Knoten kurzerhand mit dem Schwert durchschlug, um sich anschließend siegreich auf den Weg nach Persien zu machen. Die Botschaft war unmissverständlich: Entschlossenheit lohnt, Fäden entknoten indes weniger.

Seitdem hat die Tat den fabelhaften Ruf, vertrackte Probleme schnell und ohne Federlesen zu lösen. Während der Kompromiss sich seinen beschwerlichen Weg durch das Gestrüpp von Fakten und feindseligen Interessen sucht, ist der Tat der verführerische Elan des Augenblicks zu eigen. Sie erspart dem Publikum die Zumutungen der Vielfalt und beschränkt diese auf die Wahl zwischen zwei Alternativen. Entweder man zieht das Schwert, oder man lässt es in der Scheide.

Zudem fehlt dem Kompromiss jene Zutat, die dem entschlossenen Zugriff Glanz verleiht: die Leidenschaft. Man mag einen Kompromiss »leidenschaftlich« herbeisehnen, er bleibt trotzdem die trockene Krume im Brotkorb der Entscheidungen. Er zielt seiner Natur nach auf Verlässlichkeit und Ausgleich. Tatkraft dagegen ernährt sich von Umtrieb und Gefahren.

Ist ein mutiger Streich indes erfolglos oder verlustreich gewesen, erinnert man sich gerne des glanzlosen Gegensatzes und fordert den Kompromiss auf, den Abraum des Tatendrangs wieder beiseitezuräumen. Jetzt wird er für begrenzte Zeit auf die Bühne gebeten und darf seine Beständigkeit und Robustheit beweisen, um sich nach erledigter Arbeit wieder in den Hintergrund zurückzuziehen. Sein Metier, die tägliche Arbeit am Überleben, dient Historikern selten als Stoff, der Bibliotheken füllt, und taugt ebenso wenig als Vorlage für Mythen oder Märchen vom glücklichen Ausgang einer Geschichte.

Eine ergiebige Quelle für den sozialen Status eines Begriffs und seiner Bedeutung für den Alltag ist der Volksmund mit seinen über lange Zeit angesammelten und bewährten Verdichtungen komplexer Sachverhalte. Wer dem »Volk aufs Maul« schaut, findet dort zuweilen mehr Weisheit, als »ein Philosoph in einem ganzen Leben zustande bringt«. Da der Kompromiss weltweit verbreitet ist, dürfen wir vermuten, dass der Volksmund sich seiner unzählige Male angenommen hat. Aber das Volk, häufig von anregender Geschwätzigkeit, verhält sich verdächtig still zum Thema. Man muss sich weit umschauen, um passgenauen Weitblick und kluge Einlassungen zu entdecken.

»Spinnen und Fliegen können keine Kompromisse schließen«, heißt es in Jamaika. Die pragmatischen Briten sind überzeugt: »Der Kompromiss ist stets nur ein vorläufiger Erfolg«, während ein altes deutsches Sprichwort fordert: »Laß dich in keinen Kompromiss, du verlierst die Sach’, das ist gewiss!« Aus der Feder weltläufiger Zeitgenossen stammen ähnliche Ansichten: Ein Kompromiss sei »zwei Niederlagen auf einmal«, behauptet der Würzburger Stadtphilosoph Elmar Kupke. Weiter östlich in Moskau bemerkt Fjodor Dostojewski streng: »Gehen Sie geraden Weges ohne Kompromisse durch Ihr Leben.« Ein Vorschlag, der, würde er befolgt, geradewegs ins Verderben führen muss. Das ist, weltweit gesehen, eine klägliche Ausbeute an Einwürfen zu einem Thema, das unverzichtbarer Bestandteil jeder Form von Gesellung ist.

Unter denjenigen, die als Politiker oder Interessensvertreter beruflich über den Kompromiss nachdenken, hat er häufig schlechten Leumund. Er wird nicht als Sieger über verworrene Umstände, sondern in unmittelbarem Zusammenhang mit Niederlagen und Hasenfüßen betrachtet. Eine der wichtigsten kollektiven Sozialtechniken erfreut sich unverkennbar geringer Wertschätzung. Wir werden noch sehen, was das für unsere Gegenwart und Zukunft bedeutet.

Man möchte nach den vorausgegangenen Bemerkungen vermuten, dass der allgegenwärtige Kompromiss als Objekt beruflicher Neugierde auf der Themenliste der Sozialwissenschaften an vorderster Stelle steht. Tut er aber nicht! Im Gegenteil, er spielt als Begriff und Bestandteil von Theorien oder Spezialgebieten kaum eine Rolle. Recht besehen, kommt er in den Veröffentlichungen oder laufenden Forschungsprojekten kaum vor. Er sei in der »Literatur stiefmütterlich behandelt«[3] worden, gesteht Veronique Zanetti ein, die an der Universität Bielefeld Philosophie lehrt. Wissenschaftliche Einzeluntersuchungen liegen denn auch – bis auf eine Handvoll älterer, die zudem wenig hilfreich sind – kaum vor.

Zwei schmale Texte zum Thema sind jüngst erschienen. Sie werden schwerlich Spuren hinterlassen. Das erleichterte mir zwar die Arbeit, weil ich die trockene Luft von öffentlichen Bibliotheken meiden durfte, ließ mich jedoch befürchten, ein brotloses Thema gewählt zu haben. Ein zweiter und dem folgend dritter Blick bezeugten indes, wie ergiebig das Sujet sein kann, wenn man es kompromisslos angeht.

Trotzdem meiden die...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Alltagsphilosophie • Anleitung • Besser leben • Beziehungen • Demokratie • Die Kunst des klaren Denkens • Diplomatie • eBooks • Erziehung • Ethik • fauler Kompromiss • Gelassenheit • Geschichte • Interessenkonflikt • Kompromiss • Kompromissfähigkeit • Kompromissfindung • kompromisslosigkeit • Konflikt • Konsens • Lebensklugheit • Lebenskunst • Lösung • Neuerscheinung • Partnerschaft • Politik • Ralf Dobelli • soziales Miteinander • Streit • Toleranz • übereinkunft • Verhandeln • vermitteln • Versöhnung • wilder Friede • Wilhelm Schmid • Wirtschaft • Zugeständnis
ISBN-10 3-641-26286-0 / 3641262860
ISBN-13 978-3-641-26286-0 / 9783641262860
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