Sturmnomaden (eBook)

Wie der Klimawandel uns Menschen die Heimat raubt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44660-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sturmnomaden -  Kira Vinke
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Klimaflucht: Wenn die Heimat nicht mehr bewohnbar ist Die Klimakrise wird Millionen die Lebensgrundlage entziehen. Schon heute versuchen Menschen sich durch Migration anzupassen und neue Existenzen aufzubauen. Die meisten Klimamigranten finden in ihren eigenen Ländern Zuflucht, doch auch der Druck auf europäische Grenzen wird steigen, wenn die Klimaschutzbemühungen zu kurz greifen. Kira Vinke gibt in ihrem bahnbrechenden, von Forschung und weltweiten Recherchen getragenen Buch den bedrohten Menschen Gesicht und Stimme. Sie macht deutlich, welche Veränderungen schon heute unumkehrbar sind - und welche Möglichkeiten wir noch haben, dem Klimawandel zu begegnen und den Betroffenen ein Bleiben oder eine Abwanderung in Sicherheit und Würde zu ermöglichen.

Dr. Kira Vinke, Jahrgang 1988, ist Leiterin des Zentrums für Klima und Außenpolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Wissenschaftlerin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Co-Vorsitzende des Beirats der Bundesregierung 'Zivile Krisenprävention und Friedensförderung'. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den menschlichen Dimensionen des Klimawandels, mit den Auswirkungen auf Migrationsbewegungen und menschliche Sicherheit.

Dr. Kira Vinke, Jahrgang 1988, ist Leiterin des Zentrums für Klima und Außenpolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Wissenschaftlerin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Co-Vorsitzende des Beirats der Bundesregierung "Zivile Krisenprävention und Friedensförderung". In ihrer Forschung befasst sie sich mit den menschlichen Dimensionen des Klimawandels, mit den Auswirkungen auf Migrationsbewegungen und menschliche Sicherheit.

Europas Außengrenzen in der Wüste


Die Flucht aus einem Land im Sahel nach Europa kann sich über Monate, manchmal sogar auch Jahre hinziehen und birgt extrem hohe Risiken. Niemand fällt eine solche Entscheidung – die vertraute Heimat gegen eine ungewisse Zukunft einzutauschen – leichtfertig, auch wenn vielen Migrant:innen das Ausmaß der damit verbundenen Gefahr gar nicht bewusst ist. Der Streit innerhalb der Europäischen Union um die Verteilung von Geflüchteten führte dazu, dass sie einen Teil ihres Grenzschutzes mittlerweile tief in die Sahelzone verlagert hat. Um Migrationsrouten nach Europa schon vor dem Mittelmeer zu durchbrechen, wurden Kooperationen mit Staaten wie Niger intensiviert. Die Folge ist eine zunehmende Kriminalisierung von Migration, die zuvor toleriert wurde.

Die nigrische Karawanenstadt Agadez beispielsweise war ein Drehkreuz für Migration aus Nigeria und anderen Sahelländern nach Libyen und weiter nach Europa. Inzwischen greift die Nationalregierung hart durch und schränkt seit 2016 die Bewegungsfreiheit auf den Routen von Agadez Richtung Sahara drastisch ein. Das treibt Schmuggler dazu, noch gefährlichere Routen zu wählen, mit der Folge, dass wahrscheinlich mehr Menschen in der Sahara als im Mittelmeer sterben. Menschen drängen sich auf überladenen LKW, die nicht anhalten, wenn eine Person von der Ladefläche fällt, auch weil die Fahrzeuge bei einem Stopp im Sand steckenzubleiben drohen. Genaue Zahlen, wie viele Menschen tatsächlich auf der Flucht ihr Leben lassen, gibt es allerdings nicht – viele Familien bleiben über das Schicksal ihrer Angehörigen im Ungewissen. Das Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration (IOM) versucht zu dokumentieren, wo Menschen während ihrer Migration umkamen – eine fast unmögliche Aufgabe. Dabei werden sowohl die oft unzuverlässigen Daten der Nationalregierungen genutzt als auch eigens durchgeführte Interviews mit Migrant:innen, die die Flucht überlebten, ferner Reports von Nichtregierungsorganisationen und lokalen Medien.[83] Diese mühsame und zutiefst bedrückende Recherche soll zugleich bewusst machen, dass jedes einzelne Menschenleben zählt. Doch belastbar sind die Zahlen, die durch die kleinteilige Nachforschung ermittelt werden, nicht. Fraglos ist die Dunkelziffer noch viel höher.

Die Grenzen zwischen Migration, Menschenschmuggel und der Gewalt extremistischer Gruppierungen verschwimmen in der öffentlichen Diskussion über die Lage im Sahel. Das hat auch mit der Realität vor Ort zu tun. Auch in der Praxis ist es schwierig, die Trennlinien zu identifizieren. Entwicklungshilfe und Migrationsabkommen sollen transnationale Fluchtbewegungen unterdrücken, selbst wenn zwischen einzelnen Staaten eigentlich Freizügigkeit herrscht. Mobile Grenzschutzeinheiten in Niger etwa werden durch deutsche und niederländische Steuergelder mitfinanziert. Die Kontrolle darüber, ob diese Einheiten menschenrechtskonform agieren, obliegt letztlich jedoch der Nationalregierung. Die EU sagte Niger Entwicklungshilfegelder von mehr als einer Milliarde Euro im Zeitraum von 2014 bis 2021 zu. Diese Mittel sollten eigentlich für Sozialprogramme und als Impuls zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt werden. Aber auch die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen an Klimafolgen spielt eine Rolle. Gleichzeitig soll Niger irreguläre Migration verhindern.

Aber es gibt noch weitere länderübergreifende Aktivitäten: Eine gemeinsame Einsatztruppe von fünf Sahelstaaten (die sogenannten G5 Sahel: Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger und Tschad) wird von der EU gefördert. Die Bundeswehr ist in den Sahelstaaten im Rahmen der European Union Training Mission (EUTM) und der UN-Friedensmission MINUSMA aktiv und beteiligt sich an Training und Ausbildung malischer und sogenannter Joint-Force-Truppen der G5-Sahelstaaten. Darüber hinaus gibt es eine European Union Capacity Building Mission in Niger und Mali, bei der Polizisten von der deutschen Polizei ausgebildet werden. Ziel des deutschen und europäischen Engagements ist es, terroristische Gruppierungen in der Region zu bekämpfen und irreguläre Migration zu stoppen.

Der zweite Militärputsch innerhalb von neun Monaten in Mali im Mai 2021 und der Militärputsch in Burkina Faso im Januar 2022 zeigen, wie problematisch die von Deutschland unterstützte Ertüchtigung in Gebieten sein kann, in denen demokratische Werte nicht gelten oder nicht gefestigt sind und Teile des Militärs Menschenrechtsverletzungen begehen. Führende Putschisten in Mali hatten selbst an Ausbildungsprogrammen in Deutschland teilgenommen. Russische Söldner unterstützen die Militärjunta und kämpfen für sie gegen Terrormilizen in Mali. Korrupte und gewaltbereite Regierungen werden Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die im Kampf gegen den islamistischen Terror und nicht zuletzt auch gegen irreguläre Migration Richtung Europa vereint ist. Die Nachhaltigkeit solcher Einsätze wiederum ist durch den Kollaps der afghanischen Regierung nach dem Abzug der internationalen Truppen 2021 in Frage gestellt. Angesichts der jüngsten Entwicklungen kündigte Frankreich an, seine Truppen aus Mali abzuziehen. Deutschland entschied sich im Mai 2022 für eine einjährige Mandatsverlängerung. Während die Ausbildungsmission EUTM in Mali zurückgefahren und auf Niger fokussiert wird, bleibt Deutschland über die MINUSMA-Mission der Vereinten Nationen in Mali präsent. Eine politische Implosion wie in Afghanistan nach Abzug der internationalen Truppen soll in Mali verhindert werden.

Die Interessen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union lassen sich in der Migrationsfrage nur schwer in Einklang bringen. So streben viele afrikanische Staaten eine größere Freizügigkeit, also freien Personen- und Güterverkehr, an, wie sie etwa innerhalb der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS eigentlich schon möglich ist. In dem ECOWAS-Regionalverbund gab es freien Personen- und Güterverkehr, zumindest bis die Europäische Union darauf drängte, strengere Kontrollen einzuführen, um die Migration nach Europa abzuwehren. Die EU praktiziert Freizügigkeit für Menschen und Waren, möchte dies aber wegen der drohenden Migration nach Europa in afrikanischen Staaten unterbinden. Migration kann ein Motor für Entwicklung und Fortschritt sein – ein Motor, der nun ins Stottern gerät.

Die Probleme in der Region sind in jeder Hinsicht gewaltig. Armut, Korruption und ein hohes Bevölkerungswachstum stehen einer nachhaltigen Entwicklung im Wege. In Niger zum Beispiel wird sich die Bevölkerung bis 2025 im Vergleich zu 1950 verzehnfacht haben. Laut UN-Department of Economic and Social Affairs könnte sich die Einwohnerzahl bis 2100 nochmals versiebenfachen – in einem Land, das zur Hälfte aus Wüste besteht. Zwölf der vierzehn Staaten, die im oder am Sahel liegen, gehören zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Dies liegt nicht zuletzt an den extremen klimatischen Bedingungen, mit denen die Menschen dort zu kämpfen haben. Wenig Regen und hohe Temperaturen erfordern eine hohe Anpassungsfähigkeit. So entstanden im Sahelgürtel besondere Lebens- und Wirtschaftsformen wie die Transhumanz, die das gesamte Gebiet prägt. Die Transhumanz ist eine Art der Wanderweidewirtschaft, bei der Viehhirten mit ihren Tieren oft weite Distanzen überwinden, um durch die Nutzung verschiedener Flächen eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Oft folgen sie bestimmten Regenfallmustern und bewegen sich über nationale Grenzen hinweg. Die Transhumanz war ursprünglich ein fein austariertes Migrationssystem, das es Menschen ermöglichte, unter widrigen Bedingungen Viehzucht zu betreiben. Dabei war der nachhaltige Umgang mit der Natur besonders wichtig, damit zwischen den Phasen der Beweidung durch unterschiedliche Nutztiere wie Rinder, Kamele und Ziegen sich die Natur erholen konnte und Routen langfristig nutzbar blieben. Auch in unseren Breitengraden gibt es übrigens ähnliche Formen der Weidewirtschaft, zum Beispiel in den Alpen, wo Viehherden den Winter in Tälern verbringen und zu Beginn des Sommers die Berge hochgetrieben werden auf eine Alp.

Das jahrhundertealte System ist jedoch im Laufe der Zeit immer mehr zum Zankapfel der modernen Sahelstaaten geworden. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen nomadischen Viehhirten (Pastoralisten) und sesshaften Bauern häufen sich. Die Gründe dafür sind vielfältig: extreme Armut, sich verändernde Landnutzungspraktiken, islamistischer Extremismus, Bevölkerungswachstum und politische Trennlinien. Darüber hinaus haben in den vergangenen Jahren Verschiebungen bei den Niederschlägen zu Ernteausfällen geführt. Aufgrund der besonderen geografischen und klimatischen Gegebenheiten in einem ariden beziehungsweise semiariden Gebiet wie der Sahelzone ist die Land- und Wasserwirtschaft eine Herausforderung. Der fortschreitende Klimawandel birgt umso größere Risiken für die Bevölkerung. Der Entzug der Lebensgrundlagen von Bauern und Pastoralisten bedroht mittlerweile massiv das einst friedliche Zusammenleben der Menschen im Sahel. Gleichzeitig begünstigt diese Entwicklung die Ausbreitung von Terrornetzwerken und organisierter Kriminalität.

Wie sich der Klimawandel in der Sahelzone regional auswirken wird, ist noch von Unsicherheiten geprägt. Dies liegt unter anderem an der schlechten Datenlage, die in vielen afrikanischen Ländern ein Problem...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1 • 5 Grad • 5 Grad Ziel • Auswirkungen Klimaveränderung • buch flüchtlinge • Buch Klima • Buch Migration • co2 neutral • Debattenbuch • East Africa Peru India Climate Capacity Projects • Flucht • Flüchtlingskrise • Flüchtlingswelle • folgen klimawandel • Globaler Süden • Hochwasser • Hungersnot • Klimaflüchtlinge • Klimakatastrophe • Klimakrise • Klimamigration • Klima Migration • Klimapolitik • Klimawandel • Maja Göpel • Menschenrechte • Politisches Sachbuch • Sahel-Zone • Sven Plöger • Völkerwanderung • Wanderungsströme
ISBN-10 3-423-44660-9 / 3423446609
ISBN-13 978-3-423-44660-0 / 9783423446600
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