Führung und Verantwortung (eBook)

Spiegel-Bestseller
Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-30327-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Führung und Verantwortung -  Christoph Heusgen
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Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz über Deutschlands neue Rolle in der Welt
Christoph Heusgen, seit Februar 2022 Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, zeigt in seinem Buch, was geschehen muss, damit Deutschland eine neue, aktive Rolle in der Welt spielen kann. Der ehemalige Sicherheitsberater von Angela Merkel und UNO-Botschafter von 2017 bis 2021 hat die deutsche Außenpolitik der letzten fünfzehn Jahre begleitet wie kaum ein anderer - angesichts der Zeitenwende durch den Ukraine-Krieg plädiert er nun für einen neuen deutschen Kurs in der Außenpolitik. Sehr persönlich und dabei intellektuell stets anregend beschreibt er die Herausforderungen und Weichenstellungen unter Angela Merkels Kanzlerschaft - und skizziert zugleich das Bild einer zukünftigen aktiven Politik. Wir müssen unser außenpolitisches Denken verändern: Denn der Systemwettbewerb findet nicht mehr zwischen West und Ost statt, sondern zwischen Gewalt und Recht. Und Deutschland muss in diesem Ringen eine selbstbewusste Führungsrolle übernehmen.

Christoph Heusgen, geboren 1955, ist seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften und seiner Promotion trat Heusgen 1980 in den Auswärtigen Dienst ein und arbeitete im deutschen Konsulat in Chicago, in der deutschen Botschaft in Paris sowie im Büro von Außenminister Klaus Kinkel. Von 1999 bis 2005 leitete Christoph Heusgen den Politischen Stab des Hohen Vertreters für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Javier Solana. Ab 2005 war er der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen.

2. Kapitel


Frankreich, unser wichtigster Partner in Europa


Am frühen Morgen des 23. November 2005 hob die Regierungsmaschine vom Flughafen Tegel zur ersten Auslandsreise der neuen Bundeskanzlerin ab. Im Laufe der nächsten sechzehn Jahre wurden Hunderte, ja an die tausend solcher Flugreisen akribisch vorbereitet, Zeiten, Abläufe, Teilnehmer und Sitzordnungen im Vorfeld genau festgelegt. Die wissenschaftliche Präzision Angela Merkels drückte sich auch in den Reiseplanungen aus. Sie hasste Unpünktlichkeit. Ein Traum für das Protokoll, der sich aber auch als Albtraum entpuppen kann: Was, wenn der Gast oder der Gastgeber nicht die gleiche Disziplin an den Tag legt? Chronisch zu spät war zum Beispiel Wladimir Putin, in erster Linie aber wohl, um seine Gesprächspartner zu provozieren. Nach einer Weile preiste die Kanzlerin das bei ihm von vornherein ein. »Na, bist du mal wieder zu spät?«, begrüßte sie ihn gelegentlich. »Ach, Angela, du kennst mich doch!«, gab er dann zurück.

Ein andermal, im November 2007, verbrachte ich mit der Bundeskanzlerin und dem saudischen Botschafter eine kleine Ewigkeit wartend in der Empfangshalle des Flughafens Tegel. Der saudische König Abdullah hatte sich zum Besuch angesagt, und aufgrund seiner besonderen protokollarischen Stellung hatte sich die Kanzlerin nach langem Zögern überreden lassen, ihn am Flughafen abzuholen. In der Regel empfing sie Gäste aus Zeitgründen im Kanzleramt. Nach einer Weile stellte sich jedoch heraus, dass die Abflugmeldung des aus Rom kommenden Königs nicht korrekt war. So wurde es für den Deutschland sehr zugewandten saudischen Botschafter und mich eine quälend lange Stunde mit einer Kanzlerin, deren Stimmung sich angesichts ihres dichten Terminkalenders stetig verdüsterte.

Die personelle Zusammensetzung bei der Reise nach Paris wie auch allen danach war praktisch immer gleich. Stets dabei: der jeweilige Regierungssprecher, denn gleich nach ihrer Büroleiterin Beate Baumann standen der Kanzlerin Uli Wilhelm (2005–2010) und Steffen Seibert (2010–2021) dienstlich am nächsten. Drei Abteilungsleiter des Kanzleramtes gesellten sich regelmäßig hinzu: der Wirtschaftsberater (bis 2011 der spätere Bundesbankpräsident Jens Weidmann, danach Professor Lars-Hendrik Röller), der europapolitische Berater (Uwe Corsepius, während dessen Tätigkeit als Generalsekretär des Rates der EU von 2011 bis 2015 Nikolaus Meyer-Landrut, der anschließend Botschafter in Paris und Ankara wurde) und schließlich ich bzw. ab Ende 2017 mein Nachfolger, der vormalige Bundesrichter Jan Hecker. Außerdem reisten jeweils der/die stellvertretende Büroleiter/in der Kanzlerin mit (Thomas Romes, Bernhard Kotsch, Petra Rülke) sowie die für Logistik zuständige, sehr durchsetzungsfähige Simone Lehmann-Zwiener und Merkels persönliche Assistentin Petra Keller. Auf den vielen Reisen bildete sich so über die Jahre hinweg eine verschworene Gemeinschaft: loyal zur Kanzlerin und einander freundschaftlich verbunden, was aber einschloss, dass gelegentlich in der Sache hart miteinander gerungen wurde.

Jacques Chirac empfing Angela Merkel mit militärischen Ehren im Pariser Élysée-Palast, der erste der vier französischen Präsidenten, mit denen sie in ihrer Kanzlerschaft zusammenarbeitete. Sowohl zu Chirac als auch seinen Nachfolgern Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron pflegte sie eine intensive, teilweise sogar freundschaftliche Beziehung, die dennoch nicht immer spannungsfrei verlief. Aber die deutsch-französische Achse hielt, so wie es Helmut Kohl schon definiert hatte: »Nur wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, werden wir die großen europäischen Herausforderungen und Zukunftsaufgaben bewältigen.« In diesem Sinne war es sehr erfreulich, dass die Nachfolger Chiracs ihrerseits Wert darauf legten, nach ihrer Amtseinführung Berlin den ersten Besuch abzustatten.

Als Kavalier alter Schule begrüßte Chirac Angela Merkel immer mit Handkuss, einer ihr völlig ungewohnten Geste. Nach meinem Eindruck war ihr dies nicht unangenehm. Chirac war der letzte vor dem Zweiten Weltkrieg geborene Präsident Frankreichs und stand ganz in der Tradition Charles de Gaulles, dessen Grabstätte in Colombey-les-Deux-Églises er nach dem Ende seiner Amtszeit 2008 gemeinsam mit Merkel und seinem Nachfolger Sarkozy besuchen sollte. Denn wie für Helmut Kohl war auch für die Kanzlerin das Anknüpfen an die gemeinsame Geschichte eines der Fundamente der deutsch-französischen Freundschaft. Über die sechzehn Jahre ihrer Kanzlerschaft wurde Deutschlands politisches und wirtschaftliches Gewicht stärker, auch im Verhältnis zu Frankreich. Dennoch erinnerte sie sich immer wieder an einen anderen Leitgedanken Helmut Kohls: Vor der Trikolore verneige er sich zweimal, bevor er sich vor der deutschen Flagge verbeuge, pflegte Kohl in Anlehnung an Konrad Adenauer zu sagen.

Dabei ist Angela Merkel eigentlich nicht frankophil, sondern eine in der DDR aufgewachsene Norddeutsche, die Russisch und Englisch spricht und eher der anglophonen Welt zugewandt ist. Nicht von ungefähr führte ihre erste Auslandsreise sie nach dem Fall der Mauer ins kalifornische San Diego. Dennoch bedauerte sie es, dass ihre Französischkenntnisse auch am Ende ihrer Amtszeit immer noch minimal waren; dass ihre Mitarbeiter in der Regel fließend Französisch mit ihren Partnern sprechen konnten, war der ansonsten bei allen Themen von Wissenschaft über Kultur bis Klatsch gern mitredenden Kanzlerin zuweilen sogar ein Dorn im Auge. Von ihrem ersten Besuch in Paris bis 2012 stand ihr bei ihren offiziellen Gesprächen Werner Zimmermann vom Auswärtigen Amt zur Seite, der schon Helmut Kohl und Gerhard Schröder gedolmetscht hatte.

Obwohl ihr die Nähe zu Frankreich also nicht in die Wiege gelegt war, folgte Angela Merkel doch ganz der Tradition Konrad Adenauers und Helmut Kohls. Bei allen, vor allem den europäischen Themen, lautete ihre erste Frage: Wo steht Frankreich, wie können wir zu einer gemeinsamen Position kommen? So auch an jenem 23. November, als man sich unter anderem über die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum europäischen Verfassungsvertrag austauschen wollte.

Nach einem ersten Vorgespräch ging es aber erst einmal rasch zum Mittagessen. Die »Déjeuners« oder »Dîners« im Élysée-Palast gehörten zu den kulinarischen Höhepunkten der Kanzlerreisen, denn die Köche dort zauberten die wunderbarsten Speisen auf den Tisch, dazu wurden die erlesensten französischen Weine gereicht. Dabei trank Chirac selbst gar keinen Wein, sondern Bier. Und weil er besonders deutsches Bier liebte, ließ Angela Merkel ihm auch noch lange nach dem Ende seiner Amtszeit zum Geburtstag immer ein Fässchen nach Hause schicken.

Für beide war die europäische Integration das beste Rezept, eine Wiederholung der kriegerischen Katastrophen zwischen 1870 und 1945 zu verhindern und gleichzeitig Europa im globalen Wettbewerb zu stärken. Dennoch gab es zwischen den beiden Ländern markante Unterschiede. Frankreich sah die Europäische Union eher als Festung zum Schutz europäischer und französischer Kultur, aber auch der Landwirtschaft, während für das vom Freihandel lebende Deutschland der gemeinsame Markt, die Offenheit im Vordergrund standen. Unterschiede gab es auch bei einer weiteren Grundsatzfrage: der Vertiefung und Erweiterung der EU. Für Deutschland war beides wichtig: eine Vertiefung aus historischen Gründen und um die EU schlagkräftiger zu machen; bei der Erweiterung standen die geschichtlichen Gründe im Vordergrund. Angesichts seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland eine moralische Verpflichtung, gerade den baltischen und osteuropäischen Ländern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den Weg in die Union zu bereiten. Frankreich ging diesen Weg zwar mit, allerdings nur zögerlich und mit der Sorge, dass sein Einfluss in Europa zugunsten eines stärker werdenden Deutschlands, auf dessen Märkte sich die osteuropäischen Staaten mehr und mehr ausrichten würden, schwände.

In einer Gesprächspause im Élysée ergab sich für mich die Gelegenheit zu einer ersten inhaltlichen Diskussion mit der Kanzlerin über ein Thema von grundsätzlicher Bedeutung, bei dem eine unmittelbare Entscheidung anstand. Eine Frage, die noch heute von großer Relevanz ist: Wie gehen wir mit den Staaten des westlichen Balkans um? Wollen wir die Länder dieser unruhigen Region in die Europäische Union aufnehmen oder nicht?

Auf der Tagesordnung stand die Frage, ob Nordmazedonien der Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen werden sollte. Frankreich war eher kritisch, die Bundeskanzlerin nicht festgelegt, denn sie war sich der skeptischen Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur möglichen EU-Mitgliedschaft der Balkanstaaten bewusst. Ich erinnerte an den Europäischen Rat von Thessaloniki im Jahr 2003, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs der EU grundsätzlich darauf geeinigt hatten, allen Balkanstaaten die Beitrittsperspektive zu eröffnen. Zu frisch war die Erinnerung an die fürchterlichen Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme. Nur mit der Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU, so führte ich aus, könne eine langfristige Stabilisierung dieser Länder und deren Orientierung an den europäischen Demokratien erfolgen. Und nur so könne auch verhindert werden, dass sich andere Kräfte breitmachten, die mit den europäischen Werten wenig gemein hätten: Russland, die Türkei, Saudi-Arabien und China.

Daraufhin entschied sich die Bundeskanzlerin 2005 klar für die Beitrittsperspektive: Ein stabiler Balkan lag im...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Angela Merkel • Außenpolitik • Auswärtiges Amt • eBooks • Krieg in der Ukraine • Münchner Sicherheitskonferenz • Nationale Interessen • NATO • Neuerscheinung • Russland • Sicherheitsberater • Sicherheitsrat • Systemwettbewerb • Verteidigung
ISBN-10 3-641-30327-3 / 3641303273
ISBN-13 978-3-641-30327-3 / 9783641303273
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