Der Westen (eBook)

Die neue Geschichte einer alten Idee | Warum die Vorstellung von der »westlichen Zivilisation« ein Mythos ist
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2023 | 1. Auflage
530 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3057-0 (ISBN)

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Der Westen -  Naoíse Mac Sweeney
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Eine radikal neue Darstellung, wie die Idee von der »westlichen Zivilisation« unsere Geschichte geformt hat Washington, Library of Congress. Mehr als ein Dutzend ehrwürdige Männer schauen von oben auf Naoíse Mac Sweeney herab - Moses, Homer und Herodot, Kolumbus, Michelangelo und Beethoven ... Zusammen sechzehn Bronzebüsten, die die Entstehung der 'westlichen Zivilisation«  repräsentieren sollen. Doch wo in dieser Erzählung, denkt sich die Historikerin und Archäologin, findet sie als Frau mit Einwanderungsgeschichte ihren Platz? Deshalb fasst Mac Sweeeney den Entschluss, eine andere Geschichte des Westens zu schreiben. Darin tritt Herodot nicht als berühmter »Vater der Geschichtsschreibung« auf, sondern als Migrant, der aus der türkischen Provinz vor seinen Häschern flüchtet. Sie erzählt von einer mächtigen römischen Matriarchin und einem islamischen Gelehrten, einem griechischen Kreuzfahrer und einem Sklavenmädchen im neuen Amerika. Ihre faszinierende Erzählung zeigt, dass das Konzept des »Westens« erfunden wurde zur Rechtfertigung von Ausgrenzung und Rassismus - und bis heute genau dazu dient.

Naoíse Mac Sweeney wurde 1982 als Tochter chinesischer und irischer Eltern in London geboren. Sie ist Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem griechische Migration und Kolonialisierung sowie die Verwendung der Antike im zeitgenössischen politischen Diskurs. Für ihre Arbeiten über das klassische Altertum hat sie zahlreiche akademische Auszeichnungen erhalten. Der Westen ist ihr erstes Buch für ein breites Publikum.. 

Naoíse Mac Sweeney wurde 1982 als Tochter chinesischer und irischer Eltern in London geboren. Sie ist Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem griechische Migration und Kolonialisierung sowie die Verwendung der Antike im zeitgenössischen politischen Diskurs. Für ihre Arbeiten über das klassische Altertum hat sie zahlreiche akademische Auszeichnungen erhalten. Der Westen ist ihr erstes Buch für ein breites Publikum.. 

Einleitung
Die Bedeutung der Herkunft


Herkunft ist wichtig. Wenn wir fragen: »Woher kommst du?«, dann fragen wir in Wahrheit oft: »Wer bist du?« Das gilt für jeden einzelnen Menschen wie für Familien und ganze Länder. Es gilt auch für ein so großes und komplexes Gebilde wie den Westen.

In den Kulturkriegen, die den Westen derzeit erbeben lassen, geht es zentral um diese Überschneidung von Herkunft und Identität. Im letzten Jahrzehnt ist es zu einer toxischen Polarisierung des politischen Diskurses gekommen, die zum Sturz von Statuen und zur Delegitimierung von Wahlen durch amtierende Staatschefs geführt hat. Die Identitätskrise im Westen ist zum größten Teil Reaktion auf ein umfassenderes globales Geschehen. Die Welt verändert sich, und die Grundlagen der Westlichen Vorherrschaft werden erschüttert. Wir haben in diesem historischen Moment die Chance, den Westen radikal zu überdenken und ihn für eine bessere Zukunft zu erneuern. Dazu müssen wir aber bereit sein, uns mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nur wenn wir uns klarmachen, woher der Westen kommt, können wir die Frage beantworten, was der Westen sein könnte und sollte.

Der Begriff »der Westen« kann sich auf eine geopolitische Formation oder eine kulturelle Gemeinschaft beziehen und bezeichnet in der Regel eine Reihe moderner Nationalstaaten, die sowohl kulturelle Merkmale als auch politische und wirtschaftliche Grundsätze gemeinsam haben. Dazu gehören die Ideale der repräsentativen Demokratie und des Marktkapitalismus, ein nominell säkularer Staat auf dem Fundament einer jüdisch-christlichen Moral und eine psychologische Tendenz zum Individualismus.1 Keines dieser Merkmale ist nur im Westen anzutreffen und keines von ihnen in allen Ländern des Westens, aber es charakterisiert den Westen, dass in der Regel alle oder die meisten dieser Attribute zusammen auftreten. Dasselbe gilt für viele klischeehafte Symbole von Verwestlichung, wie Champagner und Coca-Cola, Opernhäuser und Einkaufszentren. Ein besonders bezeichnendes Merkmal des Westens ist jedoch die Vorstellung von einem gemeinsamen Ursprung, der zu einer gemeinsamen Geschichte, einem gemeinsamen Erbe und einer gemeinsamen Identität geführt habe.

Der Ursprungsmythos des Westens stellt dessen Geschichte so dar, dass er die atlantische Moderne bruchlos über die europäische Aufklärung, den lichten Glanz der Renaissance und die Finsternis des Mittelalters auf ihren Ursprung in den klassischen Welten Roms und Griechenlands zurückführt. Dies ist zur ebenso kanonischen wie klischeehaften Standardversion der Geschichte des Westens geworden. Sie ist aber falsch. Diese Version der Geschichte des Westens – eine Große Erzählung über die griffig so genannte »Westliche Zivilisation«, die einen einzigen, ununterbrochenen Faden von Plato bis zur NATO spinnt2 – ist sachlich falsch, und sie verfälscht die Tatsachen aus ideologischen Gründen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein Buch über den Aufstieg des Westens als kulturelle oder politische Einheit. Zu diesem Thema gibt es bereits eine Vielzahl von Büchern, die ebenso viele Erklärungen liefern, wie der Westen seine globale Vorherrschaft erlangte.3 Mein Buch zeichnet stattdessen den Aufstieg einer bestimmten Version der Geschichte des Westens nach, einer Version, die heute so weit verbreitet und tief verwurzelt ist, dass sie oft gedankenlos akzeptiert wird, obwohl sie moralisch problematisch und sachlich falsch ist. Mein Buch entfaltet und entschlüsselt die Große Erzählung, die als »Westliche Zivilisation« bezeichnet wird.

Diese Version der Geschichte des Westens, die »Große Erzählung« von der »Westlichen Zivilisation«, umgibt uns überall. Ich erinnere mich an die Situation, in der mir erst so richtig bewusst wurde, wie tief dieser Mythos verwurzelt ist: Ich saß im Lesesaal der Library of Congress in Washington. Als ich zufällig zur Decke schaute, stellte ich mit Unbehagen fest, dass ich nicht nur von den stets wachsamen Bibliothekaren beobachtet wurde, sondern auch von sechzehn lebensgroßen Bronzestatuen, die auf der Galerie unter der vergoldeten Kuppel standen: Aus der Antike waren es Moses, Homer, Solon, Herodot, Platon und der heilige Paulus, aus der Alten Welt Europas Kolumbus, Michelangelo, Bacon, Shakespeare, Newton, Beethoven und der Historiker Edward Gibbon, aus der Neuen Welt Nordamerikas der Jurist James Kent, der Ingenieur Robert Fulton und der Physiker Joseph Henry. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die gesamte Einrichtung des Raumes mit den Statuen, den Wandmalereien und sogar der Anordnung der Bücherregale eines betonen sollte: dass wir an den Arbeitstischen Teil einer intellektuellen und kulturellen Tradition waren, die Jahrtausende zurückreichte. Und die, die vor uns Teil dieser Tradition gewesen waren, wachten buchstäblich über unsere Arbeit – vielleicht ermunternd, vielleicht mit kritischem Blick.4

Mir kamen zwei beunruhigende Gedanken. Der erste, rein instinktive war, dass ich fehl am Platze sei. Ich hatte das Gefühl, jemand wie ich (weiblich, »Mischling«) gehöre nicht in eine Tradition, die man sich üblicherweise als von Weißen Elitemännern repräsentiert vorstellt. Ich tat diesen Gedanken rasch als lächerlich ab (schließlich saß ich in diesem Moment auf einem privilegierten Platz an einem Lesetisch), aber dann überkam mich als zweiter Gedanke eine viel gewichtigere Besorgnis: Repräsentierten diese sechzehn Figuren wirklich die Vergangenheit des Westens? War die Erzählung, die sie miteinander verknüpfte, ein akkurates Abbild seiner Geschichte?

Die Standarderzählung von der Westlichen Zivilisation ist so allgegenwärtig, dass die meisten von uns nur selten innehalten, um über sie nachzudenken, und noch seltener, um sie zu hinterfragen. Obwohl sie zunehmend (und zwar erfolgreich) infrage gestellt wird, ist diese Erzählung immer noch omnipräsent. Wir lesen von ihr in Schulbüchern und populärwissenschaftlichen Geschichtswerken, die die Geschichte des Westens in der Regel »mit den Griechen und Römern beginnen lassen, sie dann durch das europäische Mittelalter verfolgen, anschließend das Zeitalter der europäischen Entdeckungen und Eroberungen in den Blick nehmen und zu guter Letzt die moderne Welt genauer analysieren«.5 Die Sprache solcher Werke ist in der Regel mit genealogischen Metaphern gespickt, die die Westliche Zivilisation mit Begriffen wie »Erbe«, »Entwicklung« und »Abstammung« darstellen.6 Immer wieder lesen wir dergleichen wie: »Die westliche Zivilisation ist etwas, was wir von den alten Griechen, den Römern und der christlichen Kirche auf dem Weg über die Renaissance, die wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung geerbt haben.«7 Diese Vorstellung von der Westlichen Zivilisation als einem linear weitergegebenen kulturellen Erbe wird uns von klein auf eingetrichtert. Im ersten Band einer einflussreichen Kinderbuchserie, bevor es losgeht mit den wundersamen Abenteuern, wird die Westliche Zivilisation als »lebendige Kraft« bezeichnet, als »Flamme«, die sich in Griechenland entzündete, von dort nach Rom weitergetragen wurde, später in Deutschland, Frankreich und Spanien brannte, bevor sie mehrere Jahrhunderte lang England erleuchtete und schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika kam.8 Herkunft ist wichtig, und mit unserer Antwort auf die Frage, woher der Westen kommt, sagen wir, was der Westen unserer Meinung nach fundamental ist.

Die imaginäre kulturelle Genealogie des Westens wird in den Reden populistischer Politiker, in den Artikeln von Journalisten und in den Analysen von Fachleuten ausdrücklich beschworen. Sie liegt Symbolen und Begriffen zugrunde, die auf dem gesamten politischen Spektrum verwendet werden. So wird in der zeitgenössischen politischen Rhetorik häufig von der griechisch-römischen Antike als der (angeblichen) Geburtsstätte des Westens Gebrauch gemacht. Als ein Mob am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmte, angeblich um die Westlichen Werte zu verteidigen, trugen die Randalierer Fahnen mit altgriechischen Zitaten und Plakate, auf denen (Noch-)Präsident Donald Trump als Julius Caesar dargestellt war. Einige trugen Nachbildungen antiker griechischer Helme, andere waren sogar in voller römischer Uniform erschienen.9 Als die Europäische Union 2014 eine Initiative zur Bekämpfung der irregulären Einwanderung und der Flüchtlingsströme startete, wählte sie dafür den Namen »Operation Mos Maiorum« als Verweis auf die Traditionen des alten Roms.10 Und als Osama bin Laden 2004 einen heiligen Krieg gegen den Westen ausrief, forderte er die Muslime zum »Widerstand gegen das neue Rom« auf.11 Diese Erzählung von der Westlichen Zivilisation wird jedoch nicht nur in Werken der Geschichtswissenschaft und in politischen Zusammenhängen beschworen. Sie ist vielmehr ständig um uns und Teil unseres täglichen Lebens. Wir sehen sie, kodiert in den Entwürfen von Kostüm- und Szenenbildnern, in Filmen und im Fernsehen. Wir begegnen ihr, in Stein gebannt, nicht nur in der Library of Congress, sondern auf der ganzen Welt in der neoklassizistischen Architektur der einstigen Kolonialmächte.12 Sie ist so...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2023
Übersetzer Norbert Juraschitz, Jens Hagestedt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afrika • Antike • Archäologie • Ausgrenzung • Europa • Feminismus • Gender • Gerechtigkeit • Geschichtsschreibung • Globaler Süden • Globalgeschichte • Kolonialismus • Migration • Nationalismus • Patriarchat • Race • Rassismus • white supremacy • Zivilisation
ISBN-10 3-8437-3057-1 / 3843730571
ISBN-13 978-3-8437-3057-0 / 9783843730570
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