Die vulnerable Gesellschaft -  Frauke Rostalski

Die vulnerable Gesellschaft (eBook)

Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
189 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81462-4 (ISBN)
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Viele der gegenwärtig sehr heftig geführten Debatten sind Ausdruck einer schleichenden Werteverschiebung. Sie verändert unsere Gesellschaft grundlegend, ist uns aber kaum bewusst. Mehr und mehr scheinen wir bereit, Einschränkungen unserer individuellen Freiheit hinzunehmen, um einem gesteigerten Sinn für Verletzbarkeit gerecht zu werden. So verwandeln wir uns langsam in eine Gesellschaft von 'Vulnerablen'. In ihrer packenden Untersuchung macht uns Frauke Rostalski auf diesen neuen Konflikt zwischen Freiheit und Verletzlichkeit aufmerksam - und plädiert für ein offenes Gespräch: Wieviel Vulnerabilität möchten wir uns auf Kosten der Freiheit zugestehen? Rostalski zeigt, wie sehr Vorstellungen von Vulnerabilität bereits zu Veränderungen im Recht geführt haben - nicht nur in Fragen medizinischer Risiken wie einer Pandemie, sondern auch im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung, der Suizidbeihilfe, des Schutzes vor Diskriminierung und des Schwangerschaftsabbruchs. Vulnerabilität ist aber nicht nur das heimliche Leitmotiv eines neuen Rechts und einer neuen Ethik. Die neue Empfindlichkeit hat auch unsere Debattenkultur eingenommen und blockiert so gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Frauke Rostalski fordert uns dazu auf, diese «Diskursvulnerabilität» in Schach zu halten - damit wir das dringende Gespräch über Freiheit und Verletzbarkeit auch wirklich führen können.

Frauke Rostalski, geboren 1985, ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Seit 2020 ist sie Mitglied des deutschen Ethikrates. Zuletzt ist von ihr erschienen: "Der Tatbegriff im Strafrecht" (2019) und "Das Natürlichkeitsargument bei biotechnologischen Maßnahmen" (2019).

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Kennzeichen einer vulnerablen Gesellschaft


Jeder Mensch ist verletzlich. Menschen können einander Wunden zufügen – physische wie psychische. Sie können krank werden, in wirtschaftliche Not geraten, einsam sein. Pandemien und Naturkatastrophen bedrohen den Wohlstand und die Existenz. Jeder muss eines Tages sterben. In ihrer Verletzlichkeit sind die Menschen unweigerlich aufeinander angewiesen. Das Kleinkind wird von seinen Eltern auf jedem seiner Schritte begleitet. Es wird gefüttert, an die Hand genommen, getragen. Der alte Mensch bedarf selbst wieder der Unterstützung durch andere, die seinen Arm halten und ihm den Alltag erleichtern, manches Mal auch erst ermöglichen. Wer schwer krank wird, ist auf Pflege angewiesen. Verletzlich sind auch diejenigen, die sich selbst nicht so fühlen. Ihre Unversehrtheit ist zerbrechlich. Verletzungen können sie jederzeit treffen und ihnen mitunter ganz plötzlich widerfahren. Wer heute stark ist, kann morgen schwach sein und der Hilfe bedürfen.

Verletzlichkeit weist verschiedene Dimensionen auf. Sie betrifft neben dem Körper des Menschen auch dessen Psyche und kann sich in ganz unterschiedlichen Weisen und Zusammenhängen zeigen, in denen der Mensch anderen und seiner Umwelt ausgesetzt ist. Die Gründe für ein solches Ausgesetztsein sind vielschichtig. Sie können sich aus der bloßen Nähe zu anderen ergeben, die Zugriff auf den eigenen Körper oder die eigene Psyche erlangen. Verletzlich ist der Mensch dann etwa gegenüber der Gefahr gewalttätiger Übergriffe oder verbaler Attacken. Die Unfähigkeit, sich anderen zu entziehen, kann aber auch aus bestimmten sozialen Strukturen erwachsen. Vulnerabilität zeigt sich in Abhängigkeitsverhältnissen wie etwa in der Schule, der Ausbildung oder in Einrichtungen der Pflege, soweit sie durch ein Machtgefälle bestimmt sind. Menschen können besonders verletzlich sein aufgrund bestimmter persönlicher Eigenschaften wie Behinderung, Krankheit oder Alter. Ebenso können sie durch ihre Lebensumstände vulnerabel sein, was sich beispielsweise bei Geflüchteten zeigt, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, in denen wenige Rückzugsmöglichkeiten für den Einzelnen bestehen. Daneben sind Einsamkeit und wirtschaftliche Not wichtige Faktoren für die individuelle Verletzlichkeit des Menschen. Soziale Ungerechtigkeit schafft bzw. vertieft die Vulnerabilität der davon Betroffenen. Und nicht zuletzt: Verletzlichkeit äußert sich in einem spezifischen Grad der Ausgesetztheit gegenüber nichtmenschlichen Gewalten – wie etwa bei Überschwemmungen, starker Hitze und Trockenheit, Erdbeben oder Pandemien.

Im ersten Kapitel wollen wir die Merkmale einer vulnerablen Gesellschaft näher kennenlernen. Dazu widmen wir uns den für diese Untersuchung so wichtigen Begriffen der Vulnerabilität und der Resilienz. Ich beziehe mich dabei auf verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, wobei ein Fokus auf der Philosophie von Emmanuel Lévinas liegt, der sich in besonderer Weise mit der Verletzlichkeit als Conditio humana befasst hat. Eine vulnerable Gesellschaft entsteht erst dann, wenn eine kritische Masse an Bürgern sich selbst als vulnerabel begreift. Es ist daher von vordringlichem Interesse, welche Eigenschaften einem Prototyp des vulnerablen Menschen zugeschrieben werden können. Hierüber geben die Gedanken Lévinas’ in besonderer Weise Aufschluss.

Vulnerabilitätsannahmen wirken sich darauf aus, wie von gesellschaftlicher Seite mit Risiken umgegangen wird. Von zentraler Bedeutung für eine vulnerable Gesellschaft ist daher auch die Wahrnehmung von Risiken und die Frage, wie diese verarbeitet werden. Dabei möchte ich dafür argumentieren, dass wachsende Zuschreibungen von Verletzlichkeit dazu führen, dass die eigenverantwortliche Risikobewältigung mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Begreifen sich Menschen zunehmend als vulnerabel, liegt es nahe, dass sie im Umgang mit Risiken nach externer, vor allem staatlicher Unterstützung verlangen. In den Worten der Philosophin Svenja Flaßpöhler: «Je empfindsamer der Mensch für Gewalt, Leid, Tod wird, desto größer das Begehren, diese Gefahren verlässlich zu bannen. Je sensibler eine Gesellschaft, desto lauter der Ruf nach einem schützenden Staat.»[1] Für diese Entwicklung sprechen nicht zuletzt aktuelle Vorschläge aus dem rechtswissenschaftlichen Spektrum, die wir näher betrachten werden.

Im ersten Kapitel geht es mir nicht um eine Diagnose mit Blick auf die gegenwärtige deutsche Gesellschaft. Das hier gezeichnete Portrait einer vulnerablen Gesellschaft dient als analytisches Konstrukt. In dieser Eigenschaft bleibt es notwendig abstrakt und einseitig. Für die spätere Analyse kann auf dieses wichtige Instrument gleichwohl nicht verzichtet werden – im Gegenteil. Denn allein auf dieser Basis lässt sich in späteren Kapiteln eine Rechtsentwicklung aufzeigen, die Anhaltspunkte dafür liefert, dass sich die Gesellschaft tatsächlich in die Richtung einer vulnerablen Gesellschaft bewegt. Der in diesem Kapitel entworfene Typus der vulnerablen Gesellschaft liefert damit eine Grundlage für Reflexionen darüber, ob eine solche Entwicklung wünschenswert erscheint.

Vulnerabilität und Resilienz


Das Denken in den Kategorien von Verletzlichkeit und Resilienz hat lange Zeit ein Schattendasein in spezifischen fachwissenschaftlichen Diskursen und einzelnen Disziplinen geführt. Dies hat sich mit den Coronajahren geändert. Vulnerabilität hat als gängiger Begriff Einzug gehalten in die allgemeine öffentliche Diskussion. Sie findet sich als wichtige Kategorie nicht nur in Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates,[2] sondern auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.[3] Leitartikel überregionaler deutscher Tageszeitungen nehmen auf die Vulnerabilität einzelner Menschen ebenso selbstverständlich Bezug wie Studiogäste in abendlichen Talkshowformaten. Die darin liegende Erweiterung des öffentlichen Sprachschatzes findet ihren Ausgangspunkt in dem Bemühen, die besondere Betroffenheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen durch Ereignisse, Umwelteinflüsse oder Verhaltensweisen zum Ausdruck zu bringen. Diese Bedeutung von Vulnerabilität leitet sich aus einer Verwendung des Begriffs im Kontext der Pandemie ab, wo er weit überwiegende Interessen des Gesundheits- und Lebensschutzes zum Ausdruck brachte. Vulnerabilität war hier mehr als eine allgemeine Verletzlichkeit, die alle Menschen charakterisiert. In Zeiten der Pandemie bezeichnete Vulnerabilität keine bloße Conditio humana, sondern diente der Kennzeichnung einer besonderen Verletzlichkeit. In dieser Bedeutung setzt sich die Konjunktur des Vulnerabilitätsbegriffs mittlerweile weit über den Bereich der Coronapandemie fort.

Soziologen wie Rechtswissenschaftler beschreiben mitunter die gesamte Gesellschaft als vulnerabel. Andreas Reckwitz sieht die spätmoderne Gesellschaft einer Vielzahl von Risikokonstellationen ausgesetzt – wie zum Beispiel dem Klimawandel, der Instabilität der globalen Sicherheitsarchitektur und der hohen Abhängigkeit von komplexen Technologien, die mit der Digitalisierung einhergeht. Seine Diagnose lautet: Die spätmoderne Gesellschaft lasse sich als «gesteigert vulnerable Gesellschaft»[4] beschreiben. Dies stößt auf Zuspruch aus dem Kreis der Rechtswissenschaften.[5] Darin finden sich Stimmen, die die Gesellschaft zum Beispiel in einer Pandemie als vulnerabel begreifen. Das pandemische Geschehen schlage bis auf die privateste Ebene des menschlichen Miteinanders durch und beeinträchtige den Einzelnen unmittelbar und weitreichend in seiner individuellen Lebensführung. Erschwert werde dies noch durch ständige Wissensdefizite, die immer neue, teils eingriffsintensive Anpassungen erforderlich machen. Dadurch werde die gesellschaftliche Funktionsfähigkeit so umfangreich eingeschränkt, dass die Rede von einer vulnerablen – also besonders verletzlichen – Gesellschaft gerechtfertigt sei.

Der Umstand, dass der Begriff der Vulnerabilität zum Gegenstand einer Vielzahl von sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts geworden ist, deutet auf «ein neues Verständnis des Subjekts» hin, auf «eine andere Anthropologie, in der der Mensch als vulnerables Subjekt in das Zentrum des Dramas der eigenen Geschichte rückt».[6] Ein einheitlicher Begriff der Vulnerabilität lässt sich für die Autoren dieses Zitats allerdings kaum ausmachen. Einen Fokus möchte ich im Folgenden auf die Philosophie von Lévinas richten, der sich um den Begriff der Verletzbarkeit in besonderer Weise verdient gemacht hat. Zunächst lohnt allerdings noch ein Blick auf andere...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Reihe/Serie Beck Paperback
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Corona • Debattenkultur • Diskursvulnerabilität • Edition Mercator • Empfindlichkeit • Ethik • Freiheit • Freiheitsbeschränkung • Gesellschaft • Illiberalismus • Liberalismus • Mercator • Pandemie • Rechtswissenschaft • Selbstbestimmung • Verletzbarkeit • Verletzlichkeit • Verwundbarkeit • Werte • Werteverschiebung
ISBN-10 3-406-81462-X / 340681462X
ISBN-13 978-3-406-81462-4 / 9783406814624
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