Neun Stämme -  Karl-Heinz Kohl

Neun Stämme (eBook)

Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
313 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81351-1 (ISBN)
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Was haben Montaignes Kulturkritik und die amerikanische Demokratie, Freuds Totemismus-Theorie und Lévi-Strauss' Strukturalismus, Brücke-Maler und Surrealisten, Hippies und die Sexuelle Revolution miteinander gemein? Karl-Heinz Kohl zeigt am Beispiel von neun Stämmen, wie diese und viele andere Theorien, avantgardistische Strömungen, Emanzipations- und Protestbewegungen vom faszinierten Blick auf indigene Völker geprägt wurden. Er erklärt, wie die Indigenen sich die Faszination des Westens selbst zunutze machten und wie eng verflochten die scheinbar so gegensätzlichen Welten in der Moderne sind. Sein anschaulich und fesselnd geschriebenes Buch ist ein großer Wurf, der die Debatten über 'kulturelle Aneignung' neu beleben wird. Seit den ersten großen Entdeckungsfahrten an der Schwelle zur Neuzeit haben Berichte von fremden Ländern und Menschen die Europäer in ihren Bann geschlagen. Ihre Nacktheit hat europäische Sitten in Frage gestellt. Ihre Gesellschaftsordnungen haben Protestbewegungen beflügelt. Ihre Kunst hat die europäischen Avantgarden inspiriert. Und ethnographische Beschreibungen haben - von Friedrich Engels' materialistischer Geschichtsauffassung bis zum postkolonialen «Anthropophagismus» - zu einer Flut an Theorien geführt, die teils bis heute unser Bild vom Menschen prägen. Karl-Heinz Kohl erklärt, warum der Westen vor allem in neun Stämmen sein Alter Ego gefunden hat. Er geht den Berichten über sie nach, erzählt anschaulich, wie sie über 200 Jahre lang die europäische Kultur auf den Kopf gestellt haben, und zeigt an vielen überraschenden Beispielen, wie sich auch die indigenen Kulturen in diesem Prozess verändert haben.

Karl-Heinz Kohl ist Professor em. für Kultur- und Völkerkunde an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 1996 bis 2016 war er Direktor des Frobenius-Instituts für kulturanthropologische Forschung. Bei C.H.Beck erschienen von ihm die Einführung 'Ethnologie' (3. Auflage 2012) sowie 'Die Macht der Dinge' (2003).

Einleitung


Der Einfluss indigener Völker auf die europäische Kultur- und Wissenschaftsgeschichte ist lange unterschätzt worden. Gewöhnlich hat man ihn unter dem Begriff «Primitivismus» abgehandelt und damit den schon aus der Antike bekannten gesellschaftskritischen Strömungen zugeordnet, die in einem Zurück zu einem naturnahen, einfacheren und ursprünglicheren Leben ein Heilmittel gegen die Übel sahen, die das Leben im kulturellen Zustand mit sich bringt. In den 1930er Jahren von den Ideenhistorikern Arthur O. Lovejoy und George Boas geprägt, setzte sich der Begriff vor allem in der Kunstgeschichte durch. Bereits 1938 verwendete Robert Goldwater ihn als Titel seines Buchs Primitivism in Modern Art über die Entdeckung der «primitiven Kunst» durch die Avantgarde-Künstler des frühen 20. Jahrhunderts. Allgemeiner bekannt wurde er aber erst durch die von William Rubin kuratierte Ausstellung «‹Primitivism› in 20th Century Modern Art», die 1984 im New Yorker Museum of Modern Art stattfand. Sie setzte neue Maßstäbe und war ein großer Publikumserfolg, wurde aber auch heftig angegriffen. Denn viele störten sich an der Herkunft des Begriffs aus der auch damals schon längst obsolet gewordenen Bezeichnung «Primitive».[1]

Trotz dieser Einwände hat sich der Begriff des Primitivismus im wissenschaftlichen Sprachgebrauch langfristig durchgesetzt und auch im deutschsprachigen Raum zu einer Reihe beachtlicher Studien zur Geschichte des Exotismus geführt.[2] Als Sammelbegriff für die vielfältigen Anregungen und Impulse, die von indigenen Völkern für die europäische Kulturgeschichte ausgingen, ist er aber ungeeignet. Denn er suggeriert eine Einheitlichkeit der betreffenden Völker und ihrer Kulturen, die über ihre faktische Diversität hinwegtäuscht. Im Prinzip trifft das auch auf die Bezeichnung «indigene Völker» zu. Doch ist sie ebenso wie die aus ihr abgeleiteten Begriffe «Indigene» und «Ureinwohner» insofern legitim, als es sich um Selbstbezeichnungen handelt, unter denen sich diese Völker zusammengeschlossen haben, um gemeinsam den Kampf gegen ihre Unterdrückung und für die Wiederherstellung ihrer alten Rechte zu führen.

Ausgangspunkt dieses Buchs ist nicht das Konglomerat von Vorstellungen, die man sich in Europa über die «Ureinwohner» machte. Stattdessen wird ein anderer Weg eingeschlagen. Anhand von neun ausgewählten indigenen Gesellschaften gehe ich der Frage nach, welche Spuren sie in der europäischen Kultur-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte hinterlassen haben. Die Auswahl der neun Beispiele ist keinesfalls willkürlich, denn gerade die Tupinambá, Irokesen und Aranda, die Kwakiutl, Bororo und Palauer, die Hopi, Samoaner und Dogon haben erstaunlich viel zur Moderne beigetragen. Zugleich sind sie aber auch repräsentativ für die vielen «Stämme», aus denen die heutige Weltkultur hervorgegangen ist.

Die neun Kapitel folgen einem einheitlichen Aufbau: Sie beginnen mit einer kurzen Einleitung, auf die eine Darstellung der jeweiligen Erstbegegnungen folgt, soweit sie sich anhand der Aufzeichnungen europäischer Seefahrer, Reisender und Naturforscher rekonstruieren lassen. Zwei Weltsichten prallten dabei jeweils aufeinander, denen unterschiedliche Verhaltenskodizes entsprachen. Sie boten ständig Anlass zu Missverständnissen, wie sie in First-Contact-Situationen weit eher die Regel als die Ausnahme sind. Doch verliefen die Erstbegegnungen meist friedlich. Statt mit Worten verständige man sich durch den Austausch von Gegenständen.

Auf die See- und Überlandreisenden, die in bis dahin unbekannte Regionen vordrangen und deren Aufenthalt bei einzelnen lokalen Bevölkerungsgruppen oft nur wenige Tage dauerte, folgten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Ethnologen. Von einer Ausnahme abgesehen, fällt die systematische Erforschung der im Buch behandelten «neun Stämme» zeitlich mit der Etablierung des Fachs als universitäre Disziplin zusammen. Dabei kam Deutschland, in dem es damals weit mehr Völkerkundemuseen gab als in jedem anderen Land, eine Vorreiterrolle zu. Ethnologie wurde an einigen Universitäten schon vor der Einrichtung der ersten ordentlichen Lehrstühle unterrichtet. Meist waren Museumsdirektoren und -kustoden damit betraut, die in den Fächern Geographie oder Anthropologie für Völkerkunde habilitiert wurden und danach als Privatdozenten oder Honorarprofessoren lehrten.

Auffällig viele Ethnologen der ersten Generation wie Adolf Bastian, Augustin Krämer oder Karl von den Steinen hatten Medizin studiert und zusätzlich Veranstaltungen in physischer Anthropologie belegt. Ihrer naturwissenschaftlichen Vorbildung entsprechen die bis ins kleinste Detail gehenden Beschreibungen der physischen Erscheinungsform, der Hautfarbe, der Haartracht und des Körperschmucks der von ihnen besuchten Völker sowie ihrer Jagd- und Kriegswaffen, Werkzeuge, Arbeitsgeräte und übrigen materiellen Kulturgüter. Anders als ihre Vorgänger blieben sie in der Regel weit länger an einem Ort, da sich in der Nähe ihrer ethnographischen Untersuchungsregionen meist schon Missionare, Siedler und Händler niedergelassen hatten, mit deren Gastfreundschaft sie rechnen konnten. Doch selbst ein Aufenthalt von mehreren Monaten reichte nicht aus, um die jeweiligen Lokalsprachen zu erlernen. Bei allem, was sie über die Kosmologien, die Glaubensvorstellungen und rituellen Praktiken der Indigenen wissen wollten, waren sie auf die Hilfe ihrer schon viele Jahre vor Ort ansässigen Gastgeber angewiesen, da zuverlässige Informationen über die mündlich weitergegebenen Überlieferungen zu erlangen ungleich schwerer war.

Erfolgreicher waren sie dagegen beim Sammeln kultureller Artefakte für die Museen ihrer Heimatländer. Dabei legten sie Wert darauf, dass ihr Erwerb immer auf legalem Weg erfolgte, auch wenn sie sie oft nur gegen billige Handelsgüter eintauschten. Denn alles andere hätte ihrem moralischen Selbstanspruch widersprochen. Sie waren nämlich überzeugt davon, dass die «Naturvölker» zum baldigen Aussterben verurteilt seien, und sahen es als ihre Mission an, deren Kulturerbe vor dem endgültigen Untergang zu bewahren. Einer der Begründer und Hauptvertreter der sogenannten «Rettungsethnologie» war Adolf Bastian. Er verglich das unaufhaltsame Vordringen der «Zivilisation» mit einer Feuersbrunst, die die «Naturvölker» über kurz oder lang von der Erde hinwegfegen werde, und rief dazu auf, ihre materiellen und geistigen Hervorbringungen als unwiederbringliche Zeugnisse der Menschheitsgeschichte zu sammeln und für die Zukunft aufzubewahren. Auch er selbst trug dazu bei, indem er bei seinen neun Reisen um die Welt für das Berliner Völkerkundemuseum Abertausende von Objekten zusammentrug. Bereits zweieinhalb Jahrzehnte nach seiner Eröffnung verfügte es dank seiner unermüdlichen Reisetätigkeit über die größte ethnologische Sammlung der Welt.

Bastians gutgemeinter Appell blieb nicht ungehört. Viele taten es ihm gleich. Franz Boas sorgte dafür, dass man auch in den USA seinem Beispiel folgte. Er propagierte dort die «salvage ethnography», und bei den amerikanischen Ethnologen brach ebenfalls die Sammelwut aus.[3] Sie nahm solche Ausmaße an, dass es oft sogar zu einem regelrechten «Ausverkauf» der besonders begehrten kultischen Gegenstände kam. So «rettete» der amerikanische Ethnologe Frank Cushing die sogenannten «Fetische» der Zuñi für die Wissenschaft, indem er sie während einer Hungersnot gegen Lebensmittel eintauschte. Denn unter anderen Umständen hätten die Zuñi sich wahrscheinlich nicht von ihnen getrennt.[4] Die Präsentation dieser und anderer indigener Kulturgüter in den Naturhistorischen Museen der amerikanischen Großstädte führte dazu, dass sie das Interesse breiterer Bevölkerungskreise auf die Ureinwohner des Landes lenkte. Die verachteten «doomed races» hatten offensichtlich mehr zu bieten, als man ihnen zugetraut hatte. Hinzu kam, dass deren abgelegene Reservationen durch die Erweiterungen der interkontinentalen Schienennetze in den 1880er Jahren auch für Besucher aus den urbanen Zentren in erreichbare Nähe rückten. Der Touristenboom, der daraufhin einsetzte, half, das Kulturerbe der indigenen Völker auf eine andere Weise zu erhalten. An die Stelle der musealen Hortung trat dessen Vermarktung. Ob in den Dörfern der First Nations an der amerikanischen Nordwestküste oder in den Hopi- und Zuñi-Reservationen im Südwesten der USA, überall setzte ein reger Handel mit Masken, Holzschnitzereien und anderen traditionellen Erzeugnissen ein, die bei den Touristen als Souvenirs begehrt waren und bald eigens für den Verkauf hergestellt wurden.

In den identitätspolitischen Debatten der letzten Jahre spielte der Begriff der...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Erbe • Ethnologie • Geschichtsauffassung • Indigene • Indigene Völker • Kultur • Kunst • Moderne • Stämme • Westen • Wurzeln
ISBN-10 3-406-81351-8 / 3406813518
ISBN-13 978-3-406-81351-1 / 9783406813511
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