Der Mann, der die Erde wog (eBook)

Fachbuch-Bestseller
Geschichten von Menschen, deren Entdeckungen die Welt veränderten
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
416 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-16058-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mann, der die Erde wog -  Richard Schirach
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»Wir lernen wieder zu staunen.« In den Geschichten, die Richard von Schirach erzählt, geht es um Menschen, deren Dramen, Irrtümer und Enttäuschungen uns oft mehr berühren als ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse. Viele sind heute vergessen wie der englische Exzentriker Henry Cavendish, der im 18. Jahrhundert mit Seilen, Bleikugeln und einem Messrohr das Gewicht der Erde erstaunlich genau herausfindet. Oder der Heidelberger Professor Gustav Robert Kirchhoff, der atemlos hervorstößt: »Das ist entweder Unsinn oder ein ganz großes Ding!« - ehe er mit seinem neu entworfenen Spektralapparat als Erster alle Elemente der Sonne bestimmt. Andere sind weniger vom Glück begünstigt wie Max Planck, der vom Schicksal geprüft wird wie Hiob. Ihm wird alles genommen, was er liebt, bis er gegen Kriegsende im Alter von achtundachtzig Jahren in einem Wäldchen Zuflucht sucht, mit einem Lager aus Laub und nur den Sternen über sich. Immer schwingt in den Geschichten eine Ehrfurcht vor der Schönheit der Schöpfung mit, geht es um die Leidenschaften und Leidensfähigkeit von Menschen, deren Unbeirrbarkeit und Kühnheit des Denkens zu bahnbrechenden Entdeckungen führte.

Richard v. Schirach, geboren 1942 in München, ist Sinologe und Schriftsteller. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Er war Übersetzer und Herausgeber der Autobiografie des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi. Der Stoff wurde ein internationaler Bestseller und später von Bertolucci unter dem Titel 'Der letzte Kaiser' verfilmt. Schirachs eigene Autobiographie 'Der Schatten meines Vaters' erschien 2005. 2012 veröffentlichte er den Bestseller 'Die Nacht der Physiker'.?

Um die Jahrhundertwende ist allerdings das Wissen um Depressionen äußerst dürftig; eine medizinische Hilfe für Boltzmann gibt es nicht. Die mehrfachen Atlantiküberquerungen wirken mit an der Vorstellung, dass Boltzmann, wie ein im Sturm schlingerndes Schiff, Gefahr läuft, auf ein Riff aufzulaufen. Aber wer, wenn er schriee, hörte ihn denn aus der Engel Ordnungen?

Als sich Boltzmann entschließt, sich an das zauberhafte adriatische Sonnengestade zu retten, ist er ein heillos kranker Mann. Der schwarzen Wand, die ihn erdrücken will, hat er nichts mehr entgegenzusetzen.

Die zwei Kulturen

Jahrzehnte nach Boltzmanns Tod reise ich als Münchner Literaturstudent mit einer Freundin in das morbide Triest. Wir wollen dort auf der Suche nach den Spuren von James Joyce und Italo Svevo Gassen und Kaffeehäuser durchstreifen. Danach planen wir einen Abstecher nach Duino, denn wir sind erfüllt von Rilkes Versen und den Duineser Elegien. Die dunklen, rätselhaften Sonette an Orpheus sprechen wir uns im VW vor. Das Dunkel zieht uns an, schlauer werden wir aber nicht daraus. Kein Wunder, denn Rilke selbst hat bekannt, »dass sie weit über mich hinausreichen«.

Hätte mich damals jemand gefragt, ob es irgendetwas Wichtigeres, Tieferes und Befriedigenderes als Literatur gebe, hätte ich, ohne lange zu überlegen, mit Nein geantwortet.

Duino ist einer der malerischsten Orte an der adriatischen Küste. Das Städtchen wird beherrscht von einem wuchtigen Kastell, das sich im Besitz der Familie della Torre e Tasso befindet. Die Schlossherrin zu Rilkes Zeiten, Marie von Thurn und Taxis, war seine Gönnerin, Vertraute und Brieffreundin.

Andachtsvoll nähern wir uns dem auf einer Felsenspitze ausgesetzten Bau. Wir halten inne an einem Marmortisch und blicken auf das Auf und Ab der Wellen der »blauenden« Adria. Hat Rilke nicht vielleicht gerade hier in seinem Traumjahr 1912 seine Feder in das Tintenglas gesenkt, um die ersten Silben seiner Duineser Elegien aufs Papier zu setzen? Schwer vergessen lässt sich der allererste Vers:

»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?«

Von Boltzmann hatte ich, hatten wir nie gehört. Auch in all den großen, geistreichen Seminaren über Schnitzler, Hauptmann, Nietzsche, Fontane, Hebbel usw. fiel sein Name nicht. Als wir den felsigen Rilke-Weg zum Ufer hinabschlendern, ist uns nicht bewusst, dass ausgerechnet Duino der Schicksalsort Boltzmanns ist. Dieser hatte nichts hinterlassen, als er starb, keinen Abschiedsbrief, keine letzte Botschaft. Das scheint fortzuwirken, denn auch noch Jahrzehnte später erinnert nichts an ihn. Erst 2006, hundert Jahre nach seinem Tod, wurde vor dem ehemaligen Hotel Ples (heute: United World College of the Adriatic) eine Tafel angebracht und seiner gedacht.

Ein oder zwei Jahre nach diesem Rilke-Feiertag gab ich mein Germanistikstudium auf. Ich wollte mehr Welt erfahren, andere Länder, Menschen und Sprachen kennenlernen. Als ich nach einigen Jahren nach Deutschland zurückkam, hatte mich die angelsächsische Literatur verführt. Ich war fasziniert von Bertrand Russell, George Bernard Shaw, Virginia Woolf, Evelyn Waugh. Eines Tages entdeckte ich einen ungewöhnlich welterfahrenen, kenntnisreichen und witzigen Romancier namens Charles Percy Snow. C. P. Snow war nicht nur ein hinreißender Autor, sondern auch ein Wissenschaftler, der in Physik mit einer Arbeit über »Spektroskopie« promoviert hatte. 1959 hielt er eine Rede über zwei Kulturen, die sich verhängnisvollerweise sprachlos gegenüberstehen. Er meint damit die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Dieser Vortrag zog scharfe Debatten nach sich.

Als die Diskussion verraucht und längst vergessen war, stieß ich auf die folgende Passage, die mich direkt anzusprechen schien. Schon das bloße Wort Thermodynamik hatte mir immer Unbehagen bereitet, nicht zu reden von einem so unglücklich gewählten Begriff wie Quantenmechanik. Snow knüpft sich die Angehörigen jener literarisch geprägten Kultur vor, denen er immer wieder im Universitätsleben und auf Veranstaltungen begegnete:

»Sie lächeln mitleidig, wenn Sie von Naturwissenschaftlern hören, die bedeutende Werke der englischen Literatur nie gelesen haben. Sie tun diese Leute als ungebildete Spezialisten ab. Dabei ist Ihre eigene Ignoranz und Spezialisierung genauso erschreckend. Wie oft bin ich in größerem Kreise mit Leuten zusammen gewesen, die, an den Maßstäben der überkommenen Kultur gemessen, als hochgebildet gelten und die mit beträchtlichem Genuss ihrem ungläubigem Staunen über die Unbildung der Naturwissenschaftler Ausdruck gaben. Ein- oder zweimal habe ich mich provozieren lassen und die Anwesenden gefragt, wie viele von ihnen mir den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beschreiben könnten. Man reagierte kühl – man reagierte aber auch negativ. Und doch bedeutete meine Frage auf naturwissenschaftlichem Gebiet etwa dasselbe wie: ›Haben Sie etwas von Shakespeare gelesen?‹«

Snow zielte mit dieser Gegenüberstellung in erster Linie auf das britische Erziehungssystem, das seit dem Viktorianischen Zeitalter stets die wissenschaftliche Erziehung vernachlässigt hatte zugunsten der humanistischen Bildung, mit der Betonung auf dem Erlernen des Griechischen und Lateinischen. Er spart nicht mit Polemik. Die literarisch gebildeten Intellektuellen, die keinen Begriff davon hätten, welche Gebäude die Naturwissenschaften hochziehen, stehen für ihn auf der Stufe von Neandertalern. C. P. Snow selbst war der beste Beweis, dass diese Zwei-Kulturen-Theorie schon beim Niederschreiben widerlegt wurde, auch wenn der sich nachts in die »Edda« vertiefende Teilchenphysiker ebenso unwahrscheinlich ist wie der Germanist, der sich fragt, warum das farbige Spektrum des Sonnenlichts farbig ist.

Ich musste an die Snow-Stelle denken, als ich viele Jahre später, bei einem Schach spielenden Büchertrödler auf der Münchner Leopoldstraße verweilend, ein vergilbtes Büchlein über den mir unbekannten Robert Mayer in die Hand nahm. Darin kam dieses ominöse Wort »Thermodynamik« wieder vor. Das Buch hatte mich gefunden. Seitdem weiß ich, dass es bei der Thermodynamik um nichts anderes geht, als Wärme und Bewegung miteinander in Beziehung zu setzen. Mayers Leben, diesem »Aufschrei einer Existenz, die höchste Einsicht erfahren hat und von ihren Mitmenschen nicht verstanden wird« und in einer Irrenanstalt mit »Schreckbädern« gequält wird, habe ich die Geschichte »Von Nichts kommt nichts« gewidmet.

Bald wollte ich mehr über die mir fremde und unbekannte Welt der Naturwissenschaften wissen. Ich gewann dort einen Einblick in höchst unterschiedliche Persönlichkeiten, die – so genial, bizarr, verschroben, grenzenlos reich oder bitterarm, gewitzt und unbeholfen sie sein mochten – ihr Leben einer Aufgabe verschrieben hatten, hinter der sie zurückgetreten waren und die uns damit ein denkwürdiges Vermächtnis an Selbstlosigkeit und Beharrlichkeit hinterlassen. Auffallend viele dieser Entdecker, wie Robert Bunsen, der eine sehr kostengünstige Batterie entwickelt hatte, verzichteten auf jede Patentierung und überließen anderen das Millionengeschäft; ebenso handelte Albert Michelson, der die Geschwindigkeit des Lichtes gemessen hat und Erfinder des heute überall eingesetzten Interferometers ist, oder die Curies. Mit dem Aufkommen des Erfinder-Unternehmers endete allerdings diese selbstlose Zeit. Der Berliner Physik-Professor Walther Nernst, Nobelpreisträger und Entdecker des Dritten Hauptsatzes der Thermodynamik, ist der pfiffige Erfinder einer neuartigen Lampe. Für die Überlassung der Patente seiner »Nernstlampe« an die AEG handelt er eine ungewöhnlich hohe Summe aus. Thomas Alva Edison erstarrt vor Bewunderung und Schreck, als ihm Nernst während der Weltausstellung in Chicago 1893 von seinem Coup erzählt. Nernst hat eine Million Reichsmark bekommen, und er, Edison, findet und findet den richtigen Glühfaden nicht und steckt immer noch in finanziellen Nöten.

Hinter jeder Entdeckung stehen Menschen und deren Leben; ihre Visionen, Leiden und Taten sprechen oft mehr zu uns als die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sie uns hinterlassen haben. Leidenschaften, Ehrgeiz, Irrtümer und Enttäuschungen begleiten jeden Schritt dieser Menschen, um die es im Folgenden geht. Aber das Gefühl, nur der Wahrheit verpflichtet zu sein und ihre Bestimmung im Leben gefunden zu haben, durchdringt sie alle. Manche verfehlen dadurch auch das Leben, und nicht wenige verfallen der Macht und vergessen, dass Wissenschaft Verantwortung trägt und dazu da ist, den Menschen zu dienen.

Visionen und Leidenschaften haben wir die wunderbarsten und kuriosesten Geschichten zu verdanken. In den langen, ziemlich faden und dunklen Wintermonaten auf dem Land leisteten mir die Gestalten, die dieses Buch bevölkern, Gesellschaft. Ich werde nie vergessen, wie mir der menschenscheue Henry Cavendish mit seiner hohen Krächzstimme aus seinem Leben erzählte, während die Buchenscheite im Kachelofen prasseln. Mitte des 18. Jahrhunderts, schon fast 70-jährig, hatte er sich entschlossen, mithilfe von Seilen, Winden, Bleikugeln und einem dünnen Messrohr die Welt zu wiegen. Er benötigte mehr als ein Jahr für seine täglichen Messreihen und kam dem tatsächlichen Gewicht unglaublich nahe. Durch ihn erfahre ich die Geschichte seines Freundes John Michell, der sich als Cambridger Geologie-Professor aufs Land zurückgezogen hat und dort als Vikar wirkt. Er entwickelt eine Leidenschaft für den Bau von Fernrohren. Mit einfachsten Mitteln baut er ein Teleskop, das eine Zeitlang als das beste der Welt gilt; aber dann gehen Kräfte und Geld zur Neige. Das »Große Teleskop« wird nie fertig...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2017
Zusatzinfo mit s/w-Abb. im Text
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
Schlagworte Die Nacht der Physiker • eBooks • Eine kurze Geschichte der Zeit • Gödel, Escher, Bach • Physik • Sternstunden der Menschheit
ISBN-10 3-641-16058-8 / 3641160588
ISBN-13 978-3-641-16058-6 / 9783641160586
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