Vom Aufstehen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ein Leben in Geschichten | Die Wiederentdeckung einer Jahrhundertautorin
eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
224 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43897-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Aufstehen -  Helga Schubert
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Ein Jahrhundertleben - verwandelt in Literatur Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. Helga Schubert erzählt in kurzen Episoden und klarer, berührender Sprache ein Jahrhundert deutscher Geschichte - ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Mehr als zehn Jahre steht sie unter Beobachtung der Stasi, bei ihrer ersten freien Wahl ist sie fast fünfzig Jahre alt. Doch erst nach dem Tod der Mutter kann sie sich versöhnen: mit der Mutter, einem Leben voller Widerständen und sich selbst.

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte >Vom Aufstehen< den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Vom Erinnern


Aus dem Westen in den Osten und eigentlich auch nur für drei Stunden war der Verlagslektor gekommen.

Nun stieg er als Einziger aus und blieb erwartungsvoll stehen, angelächelt von der Rotkreuzschwester des Bahnsteigs.

Sie brauchte ihm nicht beim Umsteigen zu helfen: Niemand aus diesem Zug war bei ihr angemeldet.

Hier steigt man nicht aus, man setzt sich nicht in ein duftendes Bistro mit tiefen Fenstern und betrachtet die an- und abfahrenden, die verpassten Züge.

Hier gibt es gar kein Bahnhofscafé mehr, auch keinen Fahrkartenschalter. Eine Weile stand auch der Fahrkartenautomat unten im Tunnel nicht mehr, die Bahn transportierte ihn ab, weil er immer wieder aufgebrochen wurde.

Der Verlagslektor war müde: Erst von Frankfurt am Main nach einem Arbeitstag am Computer mit dem Nachtzug bis Hamburg, dann hatte er sich mit dem Regionalzug hierher nach Bad Kleinen in Mecklenburg durchgeschlagen.

Bad Kleinen? Zwei Tote vor einigen Jahren und ein zurückgetretener adeliger Generalstaatsanwalt. Ein Tod geklärt, der andere umstritten, schon in die Literatur eingegangen.

Der eine Tote, aus der RAF, kam auch aus dem Süden des Westens, ich glaube aus Wiesbaden, kann man dazu schon Süden Deutschlands sagen? Es geht ja immer weiter südlich, unvorstellbar weiter südlich, Baden-Baden, Freiburg, Konstanz, immerzu ist seit dreißig Jahren mein Land nicht zu Ende.

Er kam hierher zu seinem geheimen Treffen, weil er sich hier vermutlich vollkommen außerhalb der Welt, die ihn suchte, wähnte.

Falsch gedacht, denn auch hier konnte man nun seinen Steckbrief betrachten, auch hier las man Zeitung und wusste, dass er und seine Leute in der DDR, als sie noch real existierte, mit Kleinbürgeridentitäten in Hochhäusern unter Regierungsschutz lebten nach ihrer Sturm-, Drang- und Mordzeit im Westen.

Aber wo waren sie nun untergetaucht? Nachdem ihre Führungsoffiziere vom Ministerium für Staatssicherheit Versicherungen verkauften.

Wo trafen sie sich geheim?

In Bad Kleinen auf dem Bahnhof in der Mitropa. Die West-Weltrevolution aß Bockwurst von einem Pappteller mit Bautzener Mostrich, das denke ich mir jetzt aus, aber was hätten sie sonst bestellen sollen? Überall standen doch diese Wurstwärmer mit dem Wasser am Siedepunkt. Sie saßen dort ganz allein, während die Ostmenschen, unter die sie sich jahrelang unerkannt mischen konnten, seit der Einheit Deutschlands und deren ungewohnt verteuerten Dienstleistungen nicht mehr in Bahnhofs-Gaststätten saßen, sondern die Rostocker Bockwürste in Zehnerpackungen in Lake und Folie im Supermarkt erwarben und zu Hause verzehrten.

Nur weil sie alle hier ihre Autos abbezahlen wollten, fiel die West-Weltrevolution in der Mitropa in Bad Kleinen auf.

An diesem für uns nächstgelegenen Bahnhof sollte ich den Verlagslektor mit dem Auto abholen, denn querfeldein fährt kein Bus und wenn, sowieso nur morgens um 6.28 Uhr als Schulbus und dann auch nicht in unsere Richtung. Ich hätte ein Taxi überreden können, auf dem Bahnhofsvorplatz auf ihn zu warten, aber der einzige Taxifahrer weit und breit hatte sich schon lange aufs Abschleppen verlegt, weil sie hier so gern Airbagging spielen: Erst wird das Auto geknackt, dann kurzgeschlossen, dann in beträchtlicher Geschwindigkeit das Gaspedal durchgetreten, die hügelige Landstraße hinauf und hinunter, langsamere Autos überholend, auch vorm Berg links von der durchgezogenen Linie, gestern war hier auch niemand entgegengekommen, gegen einen Alleebaum gelenkt, dann zeigte sich ja, ob der Airbag aufging. Bei Autos ohne Airbag waren die Chancen geringer, dass der Airbag funktionierte, aber das war das Risiko. Manchmal waren die geknautschten Autos menschenleer und auch gar nicht so blutverschmiert, wenn der Taxifahrer sie abschleppte, da war es also gut gegangen, die Fahrer lebend geflohen. Polizei und Rettungsdienst, also die 110- und 112-VW-Busse, atmeten auf, und der Taxifahrer konnte die Autos ausschlachten oder wieder aufbauen, ganz nach Wunsch der Versicherung und der Besitzer. Also, ein Taxi hatte ich nicht bestellt, den Verdienstausfall hätte ich dem Taxifahrer gar nicht ersetzen können, wenn es ausgerechnet, während er tatenlos auf dem Bahnhofsvorplatz auf diesen Verlagslektor aus dem Westen wartete, ein schönes Auto erwischt hätte und ein anderer ihm beim Abschleppen zuvorgekommen wäre.

Wie immer auf dem Bahnhofsvorplatz dachte ich an den Hubschrauber der GSG 9, der damals hier landete, weithin zu hören und zu sehen, auch für die konspirativen Bockwurstesser in der Mitropa, an die schwarz maskierten Polizisten, die hundert Stufen in den Tunnel hinunterrennend, auch sie ungeschützt vor den Blicken der Bockwurstesser, die sich für den nächsten abfahrenden Zug entscheiden konnten, also Bahnsteig 1, die schwarzen Polizisten folgten einem Hinweis auf ein geheimes Treffen untergetauchter RAF-Leute, ausgerechnet hier am Ende der Welt in der verflossenen DDR, ich dachte an sie, wie sie im langen, tiefen Tunnel unter den Bahngleisen den Funkkontakt verloren und einer von einem der Meistgesuchten, der gerade Kaffee getrunken hatte in der Bahnhofskneipe mit Aussicht auf Bahnhofsvorplatz und Hubschrauber, darum der Vorsprung bei seiner Flucht, aus nächster Nähe am Ende der Treppe zum Bahnsteig erschossen wurde, als er ihn lebend ergreifen wollte. Und wie auch der Meistgesuchte bald auf den Gleisen tot lag.

Man soll den Osten nicht unterschätzen, seine Funklöcher, seine Leere, seine vollkommene Durchsichtigkeit. Sogar der Generalstaatsanwalt, ein Adliger, trat zurück. Und die Bahn wagte nicht, eine Gedenktafel für den erschossenen GSG-9-Mann zu errichten wegen der Drohung angeblich fortschrittlicher Kräfte aus dem Westen, dann die Bahngleise sitzend zu blockieren. Ein Jahr später hörte ich im Radio, dass für ein paar Stunden ein Blumenstrauß und eine kleine Papptafel auf Gleis 1 im Bahnhof Bad Kleinen an den erschossenen jungen Polizisten erinnerten, und ich fuhr auch dahin mit einem Gartenblumenstrauß, alles war leer, aber im Hintergrund standen zwei groß gewachsene Männer, der eine vielleicht einer von denen, die ich im Fernsehen maskiert bei den Befragungen gesehen hatte: Hat einer von euch den flüchtenden RAF-Mann mit dessen eigener Waffe erschossen, nachdem er euren Kollegen umgebracht hat? Warum habt ihr über ihm gekniet auf den Gleisen? Und wer von euch?

Ich legte meinen Blumenstrauß vor das Bild des toten Polizisten, da kam ein junges Paar mit einem vielleicht Achtjährigen hinter mir die Stufen hoch und blieb auch zum Gedenken stehen. Der zweite Mann kam näher und fragte das Kind:

Weißt du, warum hier Blumen liegen?

Das Kind antwortete: Ja, das hier war ein Polizist, der einen Verbrecher fangen wollte, nur mit den Händen, und da hat sich der Verbrecher umgedreht und ihn totgeschossen. Der Polizist wollte den gar nicht erschießen.

Woher weißt du das?

Das haben mir meine Eltern so erklärt.

Dann wandte sich der Mann an mich: Sie haben Blumen, sind Sie extra hergekommen? Und warum?

Ich antwortete.

Er schrieb mit, dann sah er mich an:

Sie sprechen ja druckreif, kann ich Sie mit Namen und Beruf in unserer Zeitung verwenden?

Ich war einverstanden, aber er bedauerte, als er meinen Beruf hörte, nein, eine Schriftstellerin konnte er nicht gebrauchen, und dann noch eine Berlinerin, nein: untypisch.

Ich bin untypisch. Das sagte mir auch der Kardiologe kürzlich: Na ja, mit Medikamenten kriegen wir Ihren Blutdruck nicht allein runter, Sie sind nicht die typische Mecklenburgerin, Sie springen zu schnell an.

Als der Verlagslektor ausstieg, sah ich ihn gleich, denn er blieb ruhig stehen, neben der Rotkreuzschwester, und sah auf den großen sonnigen nahen Schweriner See, gleich neben den Gleisen, darum hatte ja auch der Kaiser in Vorzeiten hier gekurt, und darum heißt es nun Bad Kleinen und nicht Kleinen wie davor.

Niemand sonst außer uns stieg vom Bahnsteig in den Tunnel hinunter und dann wieder die hundert Stufen zum Bahnhofsvorplatz hoch. Kein Fahrstuhl, keine Rolltreppe.

Immer, wenn ich hier ankomme oder abfahre, stürmen die Schwarzmaskierten an mir vorbei, und einer von ihnen muss sterben.

Am Ende der Treppe hatte ich ihm schon alles erzählt.

Das ist ja hier eine Idylle, direkt am See, sagte er bei der Begrüßung.

Der Verlagslektor kam nicht nur aus dem Süden, nein, er stammte auch aus dem Süden. So weit im Osten war er noch nie. Jedenfalls noch nie so hoch in dessen Norden, sagte er entschuldigend und erwartungsvoll.

Und als wir mit der Arbeit fertig waren, also die wenigen erwünschten Korrekturen besprochen hatten, die Rechtschreibreform war gerade über uns gekommen, und ich wollte eigentlich am liebsten alles weiter zusammenschreiben, was meiner Meinung nach in ein Wort gehörte und nicht in zwei oder drei, immer will ich alles zusammenhalten und nichts auseinanderfallen lassen, aber er wusste nicht, in welche Richtung sich die Regeln bewegen würden, und das Manuskript sollte in den Druck, – als er eigentlich an die nahe Ostsee weiterreisen wollte, wenn er schon mal hier war, musste er als Dienstreise-Belohnung oder -Gelegenheit doch an die Ostsee weiter, das hatte er sich extra so auf den Donnerstag gelegt, so war der Rückfahrfreitag ein kleiner Urlaub im Unbekannten, sah er sich in der menschenleeren Landschaft um unser kleines Haus einmal im Kreise bis zum Horizont um und fragte, ob hier überhaupt noch jemand lebe, im wahrsten Sinne des Wortes, man lese doch von der Landflucht, besonders der jungen...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bayerischer Buchpreis • Berlin • DDR • DDR-Literatur • Deutsche Geschichte • Deutschland • Erinnerung • Erzählungen • Frauen • Frauen in der Literaturgeschichte • Frauenleben • Frauenschicksal • Geschichten • Hinterpommern • Ingeborg-Bachmann-Preis • Literaturgeschichte • Mecklenburg • Nachkriegsliteratur • Ostberlin • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-423-43897-5 / 3423438975
ISBN-13 978-3-423-43897-1 / 9783423438971
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