Lügen über meine Mutter (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

****

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
448 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30368-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lügen über meine Mutter -  Daniela Dröscher
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Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag. »Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? Schonungslos und eindrücklich lässt Daniela Dröscher ihr kindliches Alter Ego die Jahre, in denen sich dieses  »Kammerspiel namens Familie« abspielte, noch einmal durchleben. Ihr gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge. Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen. 

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. 

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. 

Kapitel 2


An den Tagen nach dem Vorfall bemühte ich mich, unseren sonderbaren Ausflug mit keinem Wort zu erwähnen. Noch nie hatte ich etwas so Aufregendes so streng geheim halten müssen. Es kostete mich große Konzentration, meinem Vater nicht aus Versehen doch zu erzählen, wie sehr sich der Tankwart über den Kuchen gefreut hatte. Sogar ein Portemonnaie hatte meine Mutter ihm geschenkt. Durch ihre Arbeit in der Lederwarenfabrik besaß sie viele schöne »Muster«.

Meine Mutter tat das Ihre, um das Missgeschick geheim zu halten. Ihre größte Not bestand darin, die Beule auf meinem Stirnansatz zu kaschieren. Selbst durch den dichten Pony schimmerte es blauviolett hindurch. Wann immer ich Martha-Oma begegnete, lief ich daher mit gesenktem Kopf, aus Angst, sie könnte uns verpetzen.

»Was hott dann das Kind«, grummelte sie. »Macht ä Gesiescht wie drei Dach Räjewetter.«

Dann aber kam ein Brief von der Polizei, und noch bevor meine Mutter ihn an sich nehmen konnte, fischte Martha-Oma das Schreiben zielsicher aus der Post, um es meinem Vater am Abend zu präsentieren.

Die Wohnung meiner Großeltern lag direkt unter unserer eigenen, man musste nur die graue Marmortreppe rauf- oder runterlaufen. Getrennte Briefkästen waren da nicht nötig, hatte mein Vater bei ihrem Einzug befunden. Martha-Oma war das nur recht, so konnte sie meiner Mutter wunderbar hinterherspionieren.

Ein Autofahrer hatte die Polizei wegen des liegen gebliebenen Wagens verständigt.

Niemand, las mein Vater mit zitternder Stimme vor, durfte hierzulande sein Fahrzeug einfach auf dem Seitenstreifen parken. Nicht einmal ein Warndreieck hatte meine Mutter aufgestellt.

»Das ist doch nicht so schwer.« Mein Vater konnte es nicht fassen, wie sich eine kluge Frau wie meine Mutter so dumm anstellen konnte.

Dem Schreiben war ein Bußgeld beigelegt.

»Fast dein Monatsgehalt«, sagte mein Vater, fuhr sich durch sein dichtes eisblondes Haar, das ihm halblang über die Ohren fiel, und seufzte tief.

Ich wurde von Kopf bis Fuß begutachtet, und es dauerte nicht lange, bis er die Beule auf meiner Stirn entdeckte. Augenblicklich schrie er los.

Nicht nur meine Mutter, auch Kanzler Kohl bekam nun sein Fett weg, hatte er doch noch immer, entgegen allen Versprechen vor der Wahl, keine bundesweite Anschnallpflicht durchgesetzt.

Selbst ich wurde gehörig angeschnauzt.

»Dieses Kind«, stöhnte mein Vater, wie so häufig, wenn ich mich verletzte oder Unsinn anstellte. »Warum musst du auch immer hinten drin stehen?«

Die Hauptschuldige aber war klar meine Mutter.

»Fahrlässig ist das«, rief er.

Dass meine Beule kaum noch wehtat, interessiere ihn nicht. Unklar blieb, was ihn am meisten erzürnte: die Geldstrafe oder das Vergehen oder dass meine Mutter das Unglück verschwiegen hatte oder dass ich in Gefahr gebracht worden war.

Meine Mutter ärgerte sich derweil über ihre Schwiegermutter, die sich wieder einmal in Privatangelegenheiten eingemischt hatte. Der gemeinsame Briefkasten war schon häufig Anlass für schlimmen Streit gewesen. Meine Mutter hatte keine Chance, die an sie adressierte Post an sich zu nehmen, die Briefträgerin kam am Vormittag, wenn sie selbst auf der Arbeit war, und einmal mehr kritisierte sie die fehlende Privatsphäre, was mich seltsamerweise an dreckige Unterhosen denken ließ.

»Post von de Polizei. Nä, geh fatt«, brabbelte meine Oma unbeirrt.

»Der Brief war an mich adressiert. An mich!« Das Gesicht meiner Mutter glühte und funkelte, als sie ohne ein Wort der Erklärung zur Tür hinaus verschwand. Fuchsteufelswild hieß dieser Zustand.

 

Am frühen Abend kam Martha-Oma, mitten in die Nachrichten hinein, im Stechschritt zu uns in die Wohnung hinaufgeeilt. Sie war eine kleine Frau mit hellblondem Dutt, und wie immer, wenn sie sich über etwas aufregte, zitterte der erbsengroße blaue Pfefferfleck auf ihrem rechten Nasenflügel.

»So ä dreggisch Weibsstick. Nä, nä. Geh fatt«, kläffte sie meine Mutter an, die aber feilte weiter unbeirrt an ihren Fingernägeln, ohne den Blick zu heben.

»Kumm schnell«, drängte sie meinen Vater. »Guckt aisch das ahn.«

Mit klopfendem Herzen folgte ich den Erwachsenen. Alle bis auf meine Mutter liefen los in Richtung des kleinen Gemüsegartens, der zusammen mit anderen Parzellen entlang des einzigen kleinen Bachs im Ort lag. Ich hatte nur meine Turnschläppchen an, jeder Schritt schmerzte auf dem steinigen Kiesweg, aber ich biss die Zähne zusammen. Der Garten war für Martha-Oma das, was Iwona für mich war: ihr Ein und Alles.

Als wir am Tor ankamen, lagen Harken, Rechen und Heckenscheren, die sonst sorgfältig in einem eigenen Schuppen untergebracht waren, über den kleinen Gehweg verstreut. Eine Bohnenstange war umgebogen, Radieschen und Möhren lagen verstreut und halb vertrocknet zwischen den Beeten. Das Ganze sah ein wenig aus wie in dem Buch mit der unartigen Struwweliese, die in einem Wutanfall den Garten der strengen Nachbarin verwüstet hatte. Erschrocken sah ich nach meinem Vater, der mit grauem Gesicht dastand.

»So ä Zores«, zeterte Martha-Oma. »So ä verriggt Huhn.«

Ich schluckte. Sie sprachen von meiner Mutter. Allen schien klar, dass nur sie die Übeltäterin sein konnte. Ich merkte, wie mein Herz laut klopfte.

»Still«, mischte Ludwig-Opa sich ein. »Net vor dem Kinn.« Er gab sonst ungern Befehle, aber meine Mutter und er mochten einander gern. Er nahm mich an die Hand.

»Kumm, Elasche. Mir gehn Beehre pflicke.«

Mein Vater blieb mit einem betroffenen Gesicht zurück. Während er seiner Mutter dabei half, das Gröbste wiederherzurichten, lösten Ludwig-Opa und ich die reifen Beeren von den Stielen und sammelten sie in einem kleinen weißen Eimer. Am kostbarsten waren die Himbeeren. Es war die Obstsorte, die meine Mutter am liebsten mochte, und bei jeder Frucht, die ich von ihrem grünen Docht streifte, wurde ich trauriger.

Auf dem Rückweg trug mich mein Vater huckepack, weil mir die Füße so weh taten, dass ich nicht laufen konnte, nicht ohne mich dafür gehörig anzuschnauzen, wie ich ohne richtige Schuhe in den Garten hatte loslaufen können. »Unselbstständig« nannte er dieses Verhalten, an dem meine Mutter Schuld hatte. Immerhin wäre ich schon sechs.

Ich genoss den Ausblick von seinen Schultern. Vögel saßen aufgereiht auf den Hochspannungsleitungen und zwitscherten ein leises Lied in die Abenddämmerung. Sie überlebten die Rast auf den gefährlichen Drähten nur, solange sie dabei den Mast nicht berührten, hatte mir Ludwig-Opa einmal erklärt.

Der Streit, der nach unserer Rückkehr losbrach, war so heftig, dass ich, die ich oben auf der leberbraunen Treppe vor meinem Kinderzimmer saß, jedes Wort verstehen konnte.

Meine Mutter versuchte, sich zu wehren, aber als sie nach einer ganzen Weile mit verweintem Gesicht aus dem Wohnzimmer stürmte, stand die Entscheidung fest. Sie würde allein in Kur fahren, ich durfte nicht mit in das sagenumwobene »Baden-Baden«.

 

Am Tag des Abschieds stand die große beigefarbene Reisetasche meiner Mutter vor dem filigranen schmiedeeisernen lackschwarzen Tor, das unseren Hof zur Straße hin begrenzte.

Mein Vater, meine Großeltern und ich standen aufgereiht da, wie die Orgelpfeifen. Es war früh am Vormittag und noch kühl. Meine Mutter trug ihre Pelzjacke über den Schultern, zum Ärger von Martha-Oma, die ihr dieses Kleidungsstück neidete.

»Ah, uuhs fein Dähmsche«, höhnte sie immer.

Mein Vater stand neben mir, die Arme vor der schlaksigen Brust verschränkt. Einerseits wirkte er erleichtert, dass meine Mutter ohne mich in Kur fuhr, mir gegenüber aber schien er verunsichert. Fast, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

»Ludwig-Opa passt auf dich auf«, sagte er.

»Das arm klär Kinn«, sagte Martha-Oma und presste mich dabei gegen ihre Kittelschürze, die leicht nach Bratenduft roch.

»Das arm Elasche«, bekräftigte sie erneut ihre Fürsorge in Richtung meiner Mutter, die augenblicklich die Stirn in Falten legte. Sie mochte es nicht, wenn jemand meinen Namen verniedlichte. Es musste seltsam für sie sein, mich in der Obhut einer Frau zurückzulassen, die sie nicht ausstehen konnte.

Meine Mutter beugte sich zu mir herab. Hastig umschlang ich ihren Hals. Unbedingt wollte ich ihre warme Haut spüren. Mir ihren Geruch einprägen. Sie roch warm, süßlich, oft entdeckte ich einen Hauch von Karamell darin. Meine Kehle war wie zugeschnürt, aber ich schaffte es, keine Träne zu weinen. Am liebsten hätte ich mich an sie geklammert. Es war das erste Mal, dass meine Mutter länger fort sein würde, und ich vermisste sie schon jetzt, obwohl sie noch leibhaftig vor mir stand.

»Pass auf dich auf. Ja?«, flüsterte sie, ihr Gesicht ganz nah an meinem.

Ihr Körper blieb selbst in dieser letzten Umarmung auf Abstand. Ich spürte eine Art Rüstung. Eine Grenze, von der ich nicht wusste, ob sie zwischen mir oder ihr oder durch uns beide verlief.

Ein letztes Mal strich meine Mutter mir über das Haar. Dann winkte ich bereits, beide Hände in die Höhe gereckt, bis der Käfer auf die Hauptstraße abbog und um die Ecke verschwand. Es war, als hätte sich mit einem Mal eine Lücke in mir aufgetan, eine leere Stelle, die sich tief in meinem Inneren und zugleich außerhalb meines Körpers zu befinden...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1980er-Jahre • 80er Jahre • Anna Seghers-Preis • Autobiographisch • Bodyshaming • Bonner Republik • Buch für Mütter • Bundesrepublik • Coming of Age • Dröscher neuer Roman • Emanzipation • Emanzipationsgeschichte • Familiendrama • Familiengeschichte • Familienroman • Frauenbild • Geschenkbuch für Mütter • Herkunft • kleinbürgerliche Konventionen • Körperbewusstsein • Körperbilder • literarische Autofiktion • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • Ministerium für Mitgefühl • Patriarchat • Übergewicht • Ursprungsfamilie • Zeige deine Klasse
ISBN-10 3-462-30368-6 / 3462303686
ISBN-13 978-3-462-30368-1 / 9783462303681
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