An der A26 (eBook)

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2024 | 1. Auflage
120 Seiten
Septime Verlag
978-3-99120-042-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

An der A26 -  Pascal Garnier
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Yolande hat seit fünfzig Jahren das Haus nicht mehr verlassen - seitdem man ihr den Kopf kahlgeschoren hat, weil sie sich während des Zweiten Weltkriegs mit deutschen Soldaten eingelassen hatte. Was draußen passiert, beobachtet sie durch ein Loch im Fensterladen. Ihr Bruder Bernard, ein ehemaliger Eisenbahner, opfert sich für sie auf, während er selbst gegen den unausweichlichen Krebstod kämpft. Gemeinsam und jeder für sich klammern sie sich verzweifelt an den Rest Leben, der ihnen noch geblieben ist. In der Nähe entsteht die neue Autobahn A26. Gelegen inmitten endloser brauner Felder, wird die Baustelle mit ihren Betongruben zum Grab für leichtsinnige oder vom Pech verfolgte Frauen. Vor dem Hintergrund der trostlosen Landschaft des nordfranzösischen Pas-de-Calais mit ihrem niedrigen Himmel entspinnen sich Dramen des Alltags, die die Figuren auf ihre Vergangenheit zurückwerfen und deren Fatalität sie nicht entkommen. »Garnier stürzt dich in eine bizarre, überhitzte Welt und vermengt dabei Tod, Fiktion und Philosophie. Eine berauschende, schmuddelige, klasse Lektüre.« A. L. KENNEDY

PASCAL GARNIER (1949-2010) war Romancier, Verfas- ser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noirgefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.

PASCAL GARNIER (1949–2010) war Romancier, Verfas- ser von Kurzgeschichten, Kinderbuchautor und Maler. In den Bergen der Ardèche, wo er zu Hause war, schrieb er seine in noirgefärbten Bücher, zu deren Protagonisten er sich durch die einfachen Menschen der Provinz inspirieren ließ. Obwohl seine Prosa zumeist sehr dunkel im Tonfall ist, glitzert sie aufgrund seines trockenen Humors und der schrullig schönen Bilder. Immer wieder mit Georges Simenon verglichen, ist Pascal Garnier der König des französischen Roman noir.

Die Lichtstrahlen, die von der Straße durch die geschlossenen Fensterläden fallen, erhellen hier und da Ausschnitte aus dem Chaos, in dem das Esszimmer versinkt. Ein Netz aus schmalen Gräben, das die bunt zusammengewürfelte Anhäufung aus Möbeln, Büchern, Kleidungsstücken und allen möglichen anderen Sachen durchzieht, ermöglicht es, von Zimmer zu Zimmer zu gelangen, vorausgesetzt, man verleiht seinem Körper ein ägyptisches Profil. Gestützt wird diese Müllkippe, die jeden Augenblick in sich zusammenzustürzen droht, mehr schlecht als recht von Stapeln aus Zeitungen und Magazinen.

Yolande hat das gebrauchte Geschirr, die Servietten und die Gläser vom Vorabend in eine Ecke des Tisches geschoben. Jetzt schneidet sie Fotos aus einer Zeitschrift aus und klebt sie anschließend, wie Teile eines Puzzles, auf Pappkarton. Aus der Deckenlampe sickert noch immer dasselbe stumpfe Licht, tagein, tagaus.

›Bernard war heute nicht in der Arbeit, er war zu schwach. Er ist zunehmend erschöpfter und wird immer dünner. Sein Körper ist wie das Haus, ausgehöhlt und von Gängen durchzogen. Wo tue ich ihn hin, wenn er tot ist? Hier ist nirgendwo mehr Platz … Wir werden es schon hinkriegen, wir haben es noch immer hingekriegt, das haben wir im Lauf der Zeit gelernt. Nichts hat dieses Haus je verlassen, selbst das Klo ist jetzt verstopft. Wir behalten alles. Eines Tages werden wir nichts mehr brauchen, weil alles da ist, für immer.‹

Yolande summt leise vor sich hin, begleitet vom Nagen der Mäuse und dem schweren Atmen Bernards im Nebenzimmer.

Er schläft oder stellt sich schlafend. Seine Fingerspitzen spielen mit einer hell schimmernden Plakette, die an einer goldenen Kette hängt. Mehr als gestern und viel weniger als morgen. Er wird nicht mehr zum Arzt gehen. Noch bevor er die Praxis betreten hatte, hatte er gewusst, dass das sein letzter Besuch sein würde und dass er ihn fast nur noch aus Höflichkeit machte. Wie immer hatte Machon diese joviale Art zur Schau gestellt, die Bernard so auf die Nerven geht. Aber gestern Abend hatte er sich noch mehr verstellt als sonst, er verhaspelte sich und sah sich vergebens nach dem Souffleurkasten um. Kurz, er hatte Bernard abgefertigt, während sein Blick verneinte, was seine Lippen bekräftigten.

»Das ist eine Frage der Moral, Monsieur Bonnet, und des Willens. Sie müssen kämpfen, kämpfen! Aber Sie werden sehen, in zwei oder drei Tagen wird es Ihnen schon deutlich besser gehen. Und nicht vergessen: drei morgens, drei mittags, drei abends.«

Zwar hatte Bernard sich erleichtert gefühlt, als er hinausging, aber das lag nicht an den Medikamenten. Die regelmäßigen Besuche beim Arzt, die nun schon seit Monaten andauerten, zehrten genauso an ihm wie seine Krankheit, diese nicht enden wollende Qual. Er war in seinem Leben nie krank gewesen und hatte es als schwere Demütigung empfunden, sich Doktor Machon, den er doch gut kannte, mit Leib und Seele auszuliefern. Seit Jahren fuhr Machon jeden Mittwoch mit dem Zug nach Lille, um seine Mutter zu besuchen. Eines Tages hatten sie angefangen, sich zu grüßen und ein paar Worte zu wechseln, und irgendwann war zwischen ihnen zwar keine Freundschaft, aber ein angenehmes Verhältnis entstanden. Als seine Beschwerden begonnen hatten, hatte Bernard sich ganz selbstverständlich an Machon gewandt. Er war sein Patient geworden, was er schon bald bereut hatte. Wenn er vor dem großen Schreibtisch im Empire-Stil saß, kam er sich immer wie ein Verdächtiger vor, der sich für ein Verhör hat ausziehen müssen, ein des Lebens Schuldiger. Wenn er Machon heute am Bahnhof traf, fühlte er sich nackt und hilflos.

Bernard hatte das Rezept zusammengeknüllt und war in sein Auto gestiegen. Diesmal hatte er sich in der Nähe der Baustelle keinen Platten geholt.

Wie die Schnurrhaare einer Katze spritzten Garben aus Wasser zu beiden Seiten unter den Reifen des R5 hervor. Bernard entdeckte das Leben in seinen winzigsten Erscheinungsformen. Es füllte jeden Tropfen, der die Windschutzscheibe sprenkelte, mit gelbem Licht, Milliarden kleiner Glühbirnen, die die lange Nacht erhellten. Es war auch im Vibrieren des Lenkrads in seinen Händen zu spüren, und im Ballett der Scheibenwischer, das ihn an die Schlussszene eines Musicals denken ließ. Auf die Angst, die die Ungewissheit mit sich brachte, folgte das seltsame Nirwana der Gewissheit. Es war also nur noch eine Frage von Wochen, von Tagen … Er wusste natürlich schon lange, dass er sterben würde, aber an diesem Abend spürte er, dass er eine Grenze überschritten hatte. Im Grunde war es in den letzten Monaten die Hoffnung gewesen, die ihm die meisten Schmerzen bereitet hatte. ›Bernard Bonnet, Ihr Ansuchen um Gnade wurde abgewiesen.‹ Er fühlte sich frei, hatte nichts mehr zu verlieren.

Und dann hatte er im Licht der Scheinwerfer diese rothaarige junge Frau gesehen, die den Daumen rausgehalten hatte, verstrickt in ein Netz aus Nacht und Regen.

»Was für ein Wetter!«

Er hatte gedacht: ›Drei Monate, höchstens.‹ Sie roch nach nassem Hund. Sie war noch keine zwanzig.

»Ich hab den Bus nach Brissy verpasst. Fahren Sie in die Richtung?«

»Ich fahre dran vorbei, ich kann Sie dort absetzen.«

Sie hatte eine dicke Nase, dicke Brüste und dicke Schenkel und roch nach offenem Fenster, nach der Jugend, die sich unerschrocken ins Leben stürzt. Vermutlich hatte Bernards Uniform sie beruhigt, denn sie machte es sich bequem, öffnete ihren Parka und schüttelte ihre moosigen roten Haare.

»Der nächste fährt erst in einer halben Stunde. Ich warte nicht gern. In einem Monat werd ich achtzehn, dann mach ich meinen Führerschein. Ich spar schon darauf, auch auf ein Auto. Mein Schwager verkauft mir seins, einen R5, wie Ihrer.«

»Sehr gut.«

»Ich kenn Sie doch irgendwoher … Arbeiten Sie am Bahnhof?«

»Ja.«

Die Streifen auf ihrer Hose sahen aus wie Kratzer. Sie hatte feste Schenkel und roch so, wie Yolande gerochen hatte, wenn sie mit Verspätung aus der Fabrik gekommen war. Ihr Vater hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen.

»Weißt du, wie spät es ist?«

»Ja, aber wie soll ich denn nach Hause kommen? Busse fahren keine mehr, wir sind im Krieg, hast du das nicht mitbekommen? … Was gibt’s denn zu essen?«

Zu essen gab es immer dasselbe, und Yolande hatte immer irgendwo einen Liebhaber.

»Warum lächeln Sie denn?«

»Wegen Ihnen. Sie erinnern mich an meine Schwester, als sie in Ihrem Alter war.«

»Aha. Wie heißt Ihre Schwester denn?«

»Yolande.«

»Ich bin Maryse. Und Sie, wie heißen Sie?«

»Bernard.«

»So wie mein Schwager.«

Also eine Familiengeschichte, na dann … Er dachte nicht mehr an seinen Tod. Dieses Mädchen war wie sein Leben, ein großes Geschenk, dessen Schleife er sich nie zu lösen getraut hatte.

»Und was macht Ihre Schwester beruflich?«

»Nichts.«

»Sie meinen, sie ist Hausfrau?«

»Wenn Sie so wollen.«

Die Häuser zu beiden Seiten der Straße verschwammen wie in einer braunen Tuschezeichnung. Mitten auf der Fahrbahn tauchte ein dreieckiges gelbes Schild auf, das eine Umleitung anzeigte.

»Die mit ihrer beschissenen Autobahn! Die braucht doch kein Mensch, oder?«

»Das ist der Fortschritt. Ich muss mal kurz anhalten, ein gewisses Bedürfnis, Sie verstehen …«

»Aber klar!«

Das Lachen des Mädchens lärmte in seinen Ohren wie das Läuten einer Klingel, wenn man niemanden erwartet. Der Regen hatte nachgelassen, nur noch ein paar Tropfen, die Tränchen eines Sterns, die ihm ins Gesicht sprühten. Mit den Füßen im Schlamm stehend, hatte er an einen Betonblock gepinkelt, aus dem Metallstangen ragten. Die Bauarbeiten hatten zum selben Zeitpunkt begonnen wie seine Schmerzen. Mit einem schwachen Lächeln hatte er verfolgt, wie rasch sie vorangingen. Der gebeugte Rücken der unfertigen A26 ragte wie ein Sprungbrett in den lila Himmel. Zwischen den Kuppeln zweier Wolken war ein Stern zum Vorschein gekommen. Er hatte einen solchen Ständer gehabt, dass er den Hosenschlitz nicht mehr zubekam. Auf dem Weg zurück zum Auto machten seine Füße bei jedem Schritt ein Geräusch wie Saugnäpfe.

»Ich habe dummerweise meine Uhr verloren. Im Handschuhfach ist eine Taschenlampe …«

»Soll ich Ihnen beim Suchen helfen?«

»Ja, das wäre nett. Vielen Dank.«

Beide wateten durch den Matsch, der Hintern von Maryse nur wenige Zentimeter vor Bernards Nase. Ein ganzes Leben lang an der kurzen Leine gehalten … Als er sich auf sie stürzte, konnte die Kleine nur noch einen Laut von sich geben wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Er lag schwer auf ihr und drückte ihren Kopf in eine Pfütze, während sie in alle Richtungen ausschlug. Es dauerte lange, die Kleine war kräftig. Aber schließlich hatte Bernards Hand, die ihre Kehle zusammenpresste, Maryse und ihre »fast« achtzehn Jahre überwältigt. »Stark wie der Tod! … Ich bin stark wie der Tod!« Seine Augen leuchteten wie die eines Hundes, der den Mond anheult. Das Wasser in der Pfütze beruhigte sich. Kurz darauf spiegelte sich darin nur noch ein leerer Himmel mit einem flackernden Stern. Bernard löste die Umklammerung. Um sein Handgelenk hatte sich eine goldene Kette gewickelt, an der eine Plakette hing: Mehr als gestern und viel weniger als morgen.

Das Schwierigste war gewesen, sie an den Rand der Baustelle zu schleppen. Dort hatte er die Leiche in eines der Löcher fallen lassen, die morgen mit mehreren Kubikmetern Beton gefüllt würden, und sie mit Erde bedeckt. Maryse existierte nicht mehr, hatte vielleicht niemals existiert.

Bernard lässt die Kette auf seinen Bauch fallen. Sie ist unfassbar schwer. Er hat...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2024
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Krimi • Noir • Thriller
ISBN-10 3-99120-042-2 / 3991200422
ISBN-13 978-3-99120-042-0 / 9783991200420
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