Vom Ende des Gemeinwohls (eBook)

Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491175-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Ende des Gemeinwohls -  Michael J. Sandel
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Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch - Bestseller-Autor Michael J. Sandel erklärt, warum Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD - das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft. Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg - und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems, das Erfolg auf Leistung und Talent zurückführt, gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sich angestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind. Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest, dessen Zeugen wir aktuell weltweit sind. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in den demokratischen Gesellschaften zu, Verlierer und Gewinner des Systems entfernen sich sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene immer weiter voneinander. Statt an einer trennenden Ethik des Erfolgs festzuhalten, müssen wir an einer Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit arbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt. »Michael Sandel: Der Meister für die großen Fragen des Lebens« Andrew Anthony, »The Guardian« »Wir sollten die Würde der Arbeit erneuern und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es bei der Arbeit nicht nur darum geht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass es auch darum geht, zum Gemeinwohl beizutragen und dafür Anerkennung zu bekommen.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Gemeinwohls«

Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt.

Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt. Helmut Reuter, geboren 1946, arbeitet seit 1995 als freier Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Neben den Werken Michael J. Sandels hat er u.a. Bücher von John Hands, Lawrence M. Krauss oder Niall Ferguson übersetzt. Er lebt in der Nähe von München.

Überzeugend ist Sandel vor allem dort, wo er zu den psychosozialen Dynamiken und zur normativen Theorie der Leistungsgesellschaft Stellung nimmt.

Sandels exzellente Analyse kann man als Warnung an die Politiker in Europa lesen, das öffentliche Interesse und die soziale Gerechtigkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Das Buch von Sandel ist ein Augenöffner, sehr verständlich und zugänglich geschrieben und doch mit einer Fülle an Fußnoten gut begründet.

Sandel hat eine brauchbare politische Kartografie entworfen, die die Bedingungen nachzeichnet, die Trump möglich machten.

Einführung: Reinkommen


Im März 2019, als Schüler der High Schools auf die Ergebnisse ihrer Uni-Bewerbungen warteten, veröffentlichten Bundesanwälte eine erstaunliche Bekanntmachung. Sie klagten 33 wohlhabende Eltern an, sich auf ein ausgeklügeltes Betrugssystem eingelassen zu haben, damit ihre Kinder bei Elite-Universitäten angenommen wurden, darunter Yale, Stanford, Georgetown und die University of Southern California.[3]

Im Zentrum des Schwindels stand ein skrupelloser Berater für College-Zulassungen namens William Singer. Er leitete eine Firma, die sich um ängstliche, betuchte Eltern kümmerte. Singers Unternehmen war darauf spezialisiert, das stark auf Wettbewerb ausgelegte Zulassungssystem der Universitäten zu manipulieren, das in den letzten Jahrzehnten zum wichtigsten Tor zu Wohlstand und Ansehen geworden war. Für Schüler, denen die von den Spitzen-Unis verlangten astronomischen Qualifikationen fehlten, entwickelte Singer unlautere Umgehungsmöglichkeiten – er bezahlte die Prüfer von Tests wie SAT und ACT dafür, die Antwortbögen von Schülern zu korrigieren und so deren Ergebnisse zu verbessern, bestach Trainer, Bewerber zu angeworbenen Sportlern zu erklären, auch wenn die Schüler den Sport gar nicht ausübten. Er lieferte gefälschte Sportzeugnisse und kopierte die Gesichter von Bewerbern mittels Photoshop in Aufnahmen aktiver Athleten.

Singers gesetzwidriger Zulassungsdienst war nicht billig. Der Vorsitzende einer angesehenen Anwaltskanzlei bezahlte 75000 Dollar dafür, dass seine Tochter an einem Universitäts-Eintrittsexamen teilnehmen konnte. Das betreffende Testzentrum wurde von einem Prüfer beaufsichtigt, den Singer dafür bezahlte, dass die Schülerin die erforderliche Note auch bekam. Eine Familie bezahlte Singer 1,2 Millionen Dollar, damit ihre Tochter als Anwärterin für die Fußballmannschaft von Yale angenommen wurde, obwohl sie mit Fußball nichts zu tun hatte. 400000 Dollar der Summe verwendete Singer, um den gefälligen Trainer zu bestechen, der ebenfalls angeklagt wurde. Eine Fernsehschauspielerin und ihr Mann, ein Modedesigner, bezahlten Singer 500000 Dollar dafür, dass er ihren beiden Töchtern die Aufnahme als fingierte Anwärterinnen für die Rudermannschaft der University of Southern California ermöglichte. Eine andere prominente Persönlichkeit, die durch ihre Rolle in der Serie Desperate Housewives bekannte Schauspielerin Felicity Huffman, ergatterte irgendwie einen Sonderpreis: Für nur 15000 Dollar ließ Singer die SAT-Ergebnisse ihrer Tochter manipulieren.[4]

Insgesamt nahm Singer innerhalb der acht Jahre, in denen er seinen Schwindel mit den Uni-Zulassungen betrieb, 25 Millionen Dollar ein.

Der Skandal löste allgemeine Empörung aus. In einer Zeit der Polarisierung, in der die Amerikaner sich kaum auf irgendetwas einigen konnten, wurde er über das gesamte politische Spektrum hinweg in allen Medien porträtiert und verurteilt – auf Fox News und MSNBC, im Wall Street Journal und in der New York Times. Alle waren sich einig, dass es verwerflich sei, die Aufnahme an Elite-Universitäten durch Bestechung und Betrug zu erlangen. Doch die Entrüstung brachte noch etwas anderes zum Ausdruck, etwas, das tiefer reichte als der Ärger über privilegierte Eltern, die illegale Mittel nutzten, um ihren Kindern den Zugang zu prestigeträchtigen Unis zu verschaffen. Auf eine Weise, die nur schwer in Worte zu fassen war, handelte es sich um einen sinnbildlichen Skandal: Einen, der weitaus größere Fragen zu dem Thema aufwarf, wer warum vorankommt.

Die Empörung äußerte sich zwangsläufig in politisch unterschiedlich gefärbten Aussagen. Stellvertreter von Präsident Trump nutzten Twitter und Fox News, um die in den Schwindel verstrickten Liberalen Hollywoods anzuprangern. »Schaut euch an, wer diese Leute sind«, höhnte Lara Trump, eine Schwiegertochter des Präsidenten, auf Fox. »Die Eliten Hollywoods, die liberalen Eliten, die immer über Gleichheit für alle geredet haben, und dass jeder eine faire Chance bekommen sollte, sie sind die größten Heuchler von allen: Sie schreiben Schecks aus, um zu betrügen und ihre Kinder in diese Schulen zu kriegen – wo die Studienplätze doch eigentlich an die Kinder gehen sollten, die sie wirklich verdienen.«[5]

Die Liberalen ihrerseits stimmten zwar zu, dass der Betrug qualifizierten Kindern die Plätze vorenthielt, die sie verdienten. Sie sahen darin jedoch eher ein eklatantes Beispiel einer viel weiter verbreiteten Ungerechtigkeit: Der generellen Rolle von Reichtum und Privilegien bei der Uni-Zulassung, auch wenn nichts Ungesetzliches daran beteiligt war. Bei der Verkündung der Anklage erklärte der Staatsanwalt, welcher Grundsatz hier auf dem Spiel stand: »Es darf kein separates Zulassungssystem für Reiche geben.«[6] Doch Leitartikler und Kommentatoren wiesen schnell darauf hin, dass bei der Vergabe von Studienplätzen regelmäßig Geld im Spiel sei – am auffälligsten bei der besonderen Berücksichtigung, die Kindern von Alumni und großzügigen Spendern an vielen amerikanischen Universitäten zuteilwürde.

Als Reaktion auf die Versuche von Trump-Anhängern, liberalen Eliten die Schuld an dem Zulassungsskandal zuzuschieben, veröffentlichten Liberale Berichte, wonach Jared Kushner, der Schwiegersohn des Präsidenten, trotz bescheidener Noten in Harvard angenommen worden war, nachdem sein Vater, ein reicher Immobilienentwickler, der Universität 2,5 Millionen Dollar gespendet hatte. Trump selbst soll der Wharton School an der University of Pennsylvania angeblich 1,5 Millionen Dollar gespendet haben, als seine Kinder Donald Jr. und Ivanka die Business School besuchten.[7]

Die ethischen Aspekte der Uni-Zulassung

Singer, der Kopf des Schwindels, bestätigte, dass eine große Spende manchmal dafür sorgt, einem gering qualifizierten Bewerber einen Zugang durch die »Hintertür« zu verschaffen. Seine eigene Technik, die er als »Seiteneingang« bezeichnete, sah er daher lediglich als kostengünstige Alternative. Seinen Kunden sagte er, die übliche Hintertür sei »zehnmal so teuer« wie sein Betrugssystem, und dazu auch noch unzuverlässiger. Eine große Spende für eine Uni biete keine Garantie für einen Studienplatz – sein Seiteneingang mit Bestechungsgeldern und falschen Prüfungsergebnissen dagegen schon. »Meine Familien wollen eine Garantie«, erklärte er.[8]

Auch wenn Geld sowohl Zulassungen durch die Hintertür als auch durch den Seiteneingang erkaufen kann, sind diese beiden Zugangsformen moralisch gesehen nicht identisch. Zunächst einmal ist die Hintertür legal, was für den Seiteneingang nicht zutrifft, wie der Staatsanwalt betonte: »Wir reden hier nicht über die Spende für ein Gebäude, damit Ihr Sohn oder Ihre Tochter mit höherer Wahrscheinlichkeit von einer Uni angenommen wird. Wir reden von Täuschung und Betrug, von gefälschten Prüfungsnoten, gefälschten Sportbescheinigungen, gefälschten Fotos und bestochenen Universitätsangestellten.«[9]

Mit ihren Anklagen gegen Singer, seine Kunden und die bestechlichen Trainer erklärten die Bundesanwälte den Universitäten nicht, dass sie keine Plätze für Studienanfänger verkaufen durften; sie zerschlugen lediglich ein betrügerisches Netzwerk. Abgesehen von der Legalität unterscheiden sich die Hintertür und der Seiteneingang aber noch in einem anderen Punkt: Wenn Eltern ihren Kindern den Studienplatz durch eine große Spende erkaufen, geht das Geld an die Uni, die es dafür verwenden kann, die für alle angebotene Ausbildung zu verbessern. Bei Singers Masche geht das Geld an Dritte, weshalb der Universität wenig oder gar nicht geholfen ist. (Zumindest eine der von Singer bestochenen Personen, der Segeltrainer in Stanford, verwendete das Bestechungsgeld anscheinend zur Unterstützung des Segelprogramms. Andere steckten das Geld in die eigene Tasche.)

Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit kann man jedoch nur schwer zwischen der Hintertür und dem Seiteneingang unterscheiden. Beide verschaffen den Kindern wohlhabender Eltern einen Vorteil, weil sie anstelle von besser qualifizierten Bewerbern angenommen werden. Beide ermöglichen es dem Geld, sich über Leistung und Verdienst hinwegzusetzen.

Eine Zulassung aufgrund von Leistung definiert den Zugang durch die Vordertür. Mit Vordertür ist – in Singers Worten – gemeint, dass man es »aus eigener Kraft schafft«. Diesen Zugangsweg halten die meisten Menschen für fair; Bewerber sollten aufgrund der eigenen Leistung und nicht wegen des Geldes der Eltern angenommen werden.

In der Praxis ist es selbstverständlich nicht ganz so einfach. Denn Geld schwebt sowohl über der Vordertür als auch über der Hintertür. Maßstäbe für Leistung sind nur schwer von wirtschaftlichem Vorteil abzulösen. Standardtests wie der SAT geben vor, die Leistung als solche zu messen, so dass Schüler mit bescheidenem Hintergrund ihre intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren können. In Wahrheit spiegeln SAT-Noten das Familieneinkommen jedoch recht genau wider. Je reicher die Familie eines Schülers ist, desto höher ist die Bewertung, die er oder sie wahrscheinlich bekommen wird.[10]

Wohlhabende Eltern melden ihre Kinder nicht nur bei...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2020
Übersetzer Helmut Reuter
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aktuelle Themen • American dream • Chancengleichheit • Corona • Covid-19 • Demokratie • Ethik • Gemeinwohl • Gerechtigkeit • Gesellschaft • Globalisierung • Harvard • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Leistungsgesellschaft • Meritokratie • Moralphilosophie • Philosophie • Politik • Politische Philosophie • Populismus • Sozialer Aufstieg • Systemkritik • Technokratie • Themen der Zeit • Ungleichheit
ISBN-10 3-10-491175-4 / 3104911754
ISBN-13 978-3-10-491175-5 / 9783104911755
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