Kinder mit (senso-)motorischen Beeinträchtigungen -  Britta Dawal

Kinder mit (senso-)motorischen Beeinträchtigungen (eBook)

Aufgaben und Möglichkeiten der Interdisziplinären Frühförderung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
232 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-031749-9 (ISBN)
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Ausgewählte Beeinträchtigungen der (senso-)motorischen Entwicklung werden in diesem Buch ICF-basiert erläutert und durch Fallbeispiele illustriert. Ansätze einer interdisziplinären Diagnostik werden vorgestellt, um darauf aufbauend eine partizipationsorientierte Förderplanung unter Einbezug der gesamten Familie mit ihren Ressourcen und Bedürfnissen zu entwickeln. Neben der konkreten Gestaltung pädagogischer und therapeutischer Ansätze in der Frühförderung werden Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Eltern/Bezugspersonen sowie ihren umgebenden Netzwerken dargestellt. Fallbeispiele zeigen Ausgestaltungsmöglichkeiten, um die Teilhabe der Kinder in der Gesellschaft zu ermöglichen und zu sichern.

Dr. Britta Dawal (geb. Gebhard) ist Professorin für Frühpädagogik mit den Schwerpunkten Frühförderung und Diversität an der Fachhochschule Südwestfalen im Fachbereich Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften.

2 Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen in der Frühförderung


Bewusst wird im Kontext dieses Buches von Kindern mit motorischen Beeinträchtigungen gesprochen. Dieser Terminus wurde gewählt, um der Heterogenität des Personenkreises gerecht zu werden. Andere gebräuchliche Begrifflichkeiten sind »motorische Entwicklungsauffälligkeiten«, womit ein eher schwammiger Oberbegriff gemeint ist, der die Begriffe »Entwicklungsverzögerung« und »Entwicklungsstörung« mit einschließt (Jenni 2021, 404). Unter einer motorischen Entwicklungsverzögerung wird in der Regel eine zeitliche Abweichung (Rückstand) von der Entwicklungsnorm verstanden, die prinzipiell auch aufholbar ist, z. B. durch Entwicklungsanregung und -förderung. Eine motorische Entwicklungsstörung hingegen geht von einem Persistieren, d. h. Bestehenbleiben, aus und die Abweichung von der Norm muss mindestens zwei Standardabweichungen umfassen (Jenni 2021, 404). In der Nutzung der Begrifflichkeit motorische Beeinträchtigung soll der Störungsbegriff bewusst vermieden werden, da er im Sinne einer inklusiven Pädagogik einerseits etikettierend ist und zudem vor dem Hintergrund der Variabilität in der Entwicklung wenig angemessen scheint. Phänomene, die von anderen mit dem Begriff »motorische Entwicklungsstörung« bezeichnet werden, schließt diese Begrifflichkeit mit ein. Gleichzeitig wird hiermit einem aktuellen Verständnis von Behinderung, wie es in der ICF vertreten wird, Rechnung getragen, worauf weiter unten in diesem Kapitel eingegangen wird. Jedoch wird an einigen Stellen (▸ Kap. 2.3: Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen) der Begriff der Störung weiterhin verwendet, wenn es sich dabei um eine feststehende Terminologie (u. a. aus medizinisch diagnostischer Perspektive) handelt.

Motorische Beeinträchtigungen können in jedem Lebensalter auftreten. Sie können in angeborene und erworbene motorische Beeinträchtigungen unterteilt werden. Eine häufig vor, während oder kurz nach der Geburt auftretende motorische Beeinträchtigung ist die Zerebralparese, auch mit CP abgekürzt. Ein Beispiel für eine erworbene motorische Beeinträchtigung ist eine Querschnittlähmung, die vor allem auf Grund einer Verletzung des Rückenmarks durch einen Unfall entstanden ist.

Eine andere Einteilung motorischer Beeinträchtigungen kann nach dem Ort der Schädigung vorgenommen werden (Hülshoff 2010; Leyendecker 2005).

Leyendecker (2005, 108) unterscheidet in drei Gruppen verschiedener Formen, die er als Körperbehinderungen (1 – 3) bzw. motorische Beeinträchtigungen (4 – 5) bezeichnet:

  • 1.

    Schädigungen von Gehirn und Rückenmark, z. B. Zerebralparesen (siehe Fallbeispiel Svea), Epilepsien, (angeborene und erworbene) Querschnittlähmungen (siehe Fallbeispiel Hanna)

  • 2.

    Schädigungen von Muskulatur und Knochengerüst, z. B. Muskeldystrophien, Dysmelien (Fehlbildungen von Gliedmaßen), Kleinwüchsigkeit

  • 3.

    Schädigung durch chronische Krankheit oder Fehlfunktion von Organen, z. B. Mukoviszidose, rheumatische Erkrankungen.

Neben diesen motorischen Beeinträchtigungen, deren Ursachen meist auf einer strukturellen Ebene der Organsysteme bzw. Körperfunktionen und -strukturen (vgl. ICF) zu finden sind, können weitere Ursachen ausgemacht werden, die von Leyendecker (2005, 108) als Beeinträchtigungen, die die Entwicklung motorischer Funktionen betreffen, bezeichnet werden. Hierzu zählen z. B.

  • 4.

    Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) (nach ICD 10, Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung nach DSM V) (siehe Fallbeispiel Max und Fallbeispiel Mia) sowie

  • 5.

    Haltungsschwächen und Beeinträchtigungen der motorischen Entwicklung, die auf eine geistige Beeinträchtigung (Intelligenzminderung) zurückzuführen sind.

Aber wie kann aktuell die Klientel in der Frühförderung beschrieben werden? Einerseits weisen viele Kinder in der Frühförderung eine Verzögerung in der motorischen Entwicklung auf. In der FranzL-Studie (Held et al. 2010, Teil I) wird die Zahl mit 80 – 90 % angegeben. Jedoch muss diese Verzögerung nicht automatisch zu einer Behinderung im Sinne der ICF (World Health Organization 2001) führen. Andererseits hat sich der Personenkreis innerhalb der Frühförderung gewandelt. Wie in der ISG-Studie (Maelicke et al. 2013) beschrieben, gibt es immer weniger Kinder mit »klassischen«, nach ICD-10/11 diagnostizierbaren »Behinderungen« in der Frühförderung. Auch Lamschus und Sohns (2016) beschreiben in Bezug auf ihre Untersuchung im Jahr 2013 in Thüringen, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen ca. 78 % in der Frühförderung ausmachen, 12,5 % der Kinder »körperliche Behinderungen« aufweisen sowie 10,7 % eine Frühgeburt, wobei nicht auszuschließen ist, dass diese bereits in den erstgenannten Gruppen miterfasst wurden. Auch kann durch die Frühgeburt eine körperlich-motorische Beeinträchtigung bedingt sein. Demgegenüber nimmt die Anzahl der Kinder, die unter ungünstigen Lebensbedingungen aufwachsen, z. B. auf Grund von Armutsverhältnissen oder familiären Bedingungen, zu. Dies kann eine sekundäre Auswirkung auf die motorische Entwicklung haben, indem z. B. wenig altersgerechte Spielanregung erfolgt oder die körperliche Aktivität bei Kindern eher eingeschränkt ist.

Vertiefend werden im Folgenden drei motorische Beeinträchtigungen vorgestellt. Diese werden Basis für Fallbeispiele sein, sowohl in Bezug auf die Anamnese, Diagnostik als auch die Förder- und Behandlungsplanung.

Die ausgewählten motorischen Beeinträchtigungen werden nach einem gleichbleibenden Prinzip vorgestellt. Hierbei wird das bio-psycho-soziale Modell der ICF (World Health Organization 2001) zugrunde gelegt. Für ein Verständnis der Krankheitsbeschreibungen und deren Einordnung, wird ein Exkurs in verschiedene Klassifikationen vorangestellt. Weitere Ausführungen zur ICF sind u. a. in dieser Reihe (Seidel 2022) erschienen.

ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)

Bei der ICF handelt es sich um eine international gültige Klassifikation. Mit dem Begriff »Klassifikation« wird im Allgemeinen die Einordnung von Phänomenen, die bestimmte gemeinsame Merkmale haben, in ein nach Klassen gegliedertes System bezeichnet. Im Rahmen des »diagnostischen Prozesses« werden bestimmte Merkmale oder Personen in diagnostische Klassen bzw. in Kategorien eines Klassifikationssystems eingeordnet (Wittchen & Lachner, 1996, zit. nach Rief & Stenzel 2012, 10).

Die ICF ist 2001 englischsprachig in einer Erwachsenenversion erschienen, 2005 erschien die deutsche Fassung. Seit 2007 liegt eine englischsprachige Version für Kinder- und Jugendliche vor, die ICF-CY, wobei CY für »Children and Youth« steht. Seit 2011 gibt es die deutschsprachige Fassung der Kinder- und Jugendversion in Form eines gedruckten Buchs. Die ICF-CY-Version ist in Bezug auf das Rahmenkonzept der ICF identisch, jedoch ist in der CY-Version der Entwicklungslogik der Kindheit und der unterschiedlichen Lebenssituationen von Kindern und Erwachsenen Rechnung getragen. Eine Zusammenführung der beiden Versionen ist englischsprachig erfolgt, deutschsprachig in Planung. Seit 2019 wird die ICF-CY daher nicht mehr aktualisiert. Im Folgenden wird einheitlich nur auf die ICF verwiesen – Codierungen in den Fallbeispielen sind dabei jedoch der ICF-CY aus der 2., korrigierten Auflage entnommen (Hollenweger & Kraus de Camargo 2019).

Die ICF besteht aus unterschiedlichen Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells von Gesundheit: Körperfunktion, Körperstruktur, Aktivität und Partizipation, Umweltfaktoren und personbezogenen Faktoren, wobei die beiden letzteren als Kontextfaktoren bezeichnet werden. All diese Komponenten sind gleichwertig. Zwischen ihnen besteht eine enge Wechselwirkung, wie in Abbildung 2 ersichtlich wird:

Abb. 2:ICF-Komponenten und deren Wechselwirkung (in Anlehnung an Hollenweger & Kraus de Camargo 2019, 51)

Wichtig ist bei der Anwendung dieser bio-psycho-sozialen Sichtweise zu berücksichtigen, dass eine Behinderung immer erst aus der Wechselwirkung von beeinträchtigten bzw. geschädigten Komponenten entsteht. Eine Schädigung im Bereich der Körperfunktionen und -strukturen allein, z. B. eine Fehlbildung einer Gliedmaße (Dysmelie), muss nicht zu einer Behinderung führen. Kann ein Kind mit einer Fehlbildung beispielsweise alle Dinge im täglichen Leben und seine sozialen Bezüge so ausleben, wie es seinen Bedürfnissen nach Entwicklung und Entfaltung entspricht, so fühlt es sich trotz veränderter Voraussetzungen zur Bewegungsausführung möglicherweise nicht eingeschränkt und somit nicht behindert. Diese Perspektive entspricht auch der aktuellen sozialen Gesetzgebung im SGB...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-031749-0 / 3170317490
ISBN-13 978-3-17-031749-9 / 9783170317499
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