Past - Present - Progressive -

Past - Present - Progressive (eBook)

Praxisbuch zur DDR und Nachwendezeit in der außerschulischen Bildung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
194 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8216-6 (ISBN)
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Die erinnerungskulturellen Debatten und Konflikte über den Umgang mit der DDR, 1989 und der darauffolgenden Transformationszeit haben zugenommen. Zur Debatte steht, wer erinnert, woran erinnert werden soll, welche Perspektiven dafür notwendig sind und welche fehlen, wo die Geschichte beginnt, wo sie aufhört und welche Bedeutung sie für die Gegenwart hat. Diese Debatten treffen auf ein Handlungsfeld, das sich im Umbruch befindet, das sich verjüngt und professionalisiert. Vor welchen Herausforderungen außerschulische Bildner:innen stehen, ist Gegenstand dieses Buches.

Christina Schwarz, studierte Kulturwissenschaften und Philosophie an der Universität Leipzig. Nach dem Studium arbeitete sie unter anderem in der DDR-Gedenkstätte Amthordurchgang, die sie 2017 als Interimsgeschäftsführerin leitete. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt 'Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung' des Forschungsverbundes. Alexander Leistner, Jg. 1979, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Referent in der Fachgruppe 'Politische Sozialisation und Demokratieförderung' am Deutschen Jugendinstitut.

Revolution, Freiheit, Einheit: Probleme historischer Meistererzählungen von 1989


Jörg Ganzenmüller

Im Sommer 2019 löste der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Debatte darüber aus, wem die friedliche Revolution eigentlich gehöre. Zuvorderst ging es in dem folgenden Streit um die Bedeutung der Bürgerrechtler:innen für das Ende der SED-Diktatur. In der hitzig geführten Kontroverse darüber, ob sich „die Normalos“ im Herbst 1989 auf der Straße oder hinter den Gardinen befunden hätten, kamen zweierlei Deutungen des revolutionären Umbruchs zum Ausdruck.1 In Pollacks Darstellung habe der „Aufstand der Normalbürger“ den Weg in die Einheit geebnet:

„Während die Oppositionellen noch lange an einem dritten sozialistischen Weg in der DDR festhielten, sorgten die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Sehnsucht nach Konsum und Freiheit und ihrem Ruf ‚Wir sind ein Volk‘ für den Durchbruch. Es waren dann erneut diese Normalos, die 1990 zum Verdruss der ostdeutschen Oppositionellen (und vieler westdeutscher Intellektuellen) die Vollendung der Revolution ermöglichten, indem sie nicht die Partei der Oppositionellen, sondern mit überwältigendem Vorsprung die CDU und damit die deutsche Einheit wählten.“ (Pollak 2019)

Gegen diese Darstellung einer ‚nationalen Erhebung‘, die auf den Straßen und an den Wahlurnen gleichermaßen stattgefunden habe, wandte sich eine ganze Reihe der angesprochenen ostdeutschen Oppositionellen. Sie setzten diesem nationalen Narrativ eine Befreiungserzählung entgegen. Nicht die Nation, sondern eine Avantgarde von Bürgerrechtler:innen habe die „friedliche Freiheitsrevolution“ getragen und die Freiheit für alle erkämpft, auch für die lange Zeit passive „Mehrzahl der bisher nörgelnden opportunistischen Ostdeutschen“ (Eckert 2019). Die Debatte, ob mutige Freiheitskämpfer:innen oder die Nation die SED-Diktatur zum Einsturz gebracht hat, spiegelt die beiden zeitgenössischen Erzählungen des revolutionären Umbruchs wider, die bis heute die Deutungen von 1989 prägen: diejenige von der errungenen Freiheit und diejenige von der wiedererlangten nationalen Einheit.2

Freiheit und Einheit: Zwei Meistererzählungen von 1989


Das liberale Erfolgsnarrativ beschreibt 1989 als glücklichen Endpunkt einer 200-jährigen europäischen und einer 150-jährigen deutschen Freiheitsgeschichte. Es ist eng mit der Bezeichnung „friedliche Revolution verknüpft und zeichnet eine Linie von den Protesten der DDR-Bürgerrechtler in den 1980er Jahren über die Massenproteste im Herbst 1989, die Arbeit der Runden Tische bis zu den Volkskammerwahlen im März 1990 und der Bildung der ersten demokratischen Regierung der DDR. Es ist eine Erzählung von der Rückgewinnung der Volkssouveränität – symbolisch verdichtet in dem Ruf „Wir sind das Volk!“ – und der Selbstdemokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft (vgl. Kowalczuk 2009).

Das nationale Narrativ betont hingegen den Wandel des Straßenprotestes im Winter 1989/90. Dort habe die nationale Frage die Forderung nach mehr Partizipation bald überlagert. Symbolhafte Verdichtung erfuhr dieser Veränderung der Ziele im Wandel des Ausrufs „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“. Das nationale Narrativ rückt den Mauerfall vom 9. November 1989 ins Zentrum der Erzählung. Im liberalen Narrativ hat die Öffnung der Grenzen keine entscheidende Bedeutung für die friedliche Revolution. Sie ging vom bereits sklerotischen SED-Regime aus, das mit der Öffnung eines Ventils die eigene Existenz zu retten versuchte. In der nationalen Meistererzählung symbolisiert der 9. November hingegen die scheinbar unaufhaltsame Drift der Ereignisse hin zur deutschen Einheit. Die Teilung erscheint schon mit der Grenzöffnung faktisch aufgehoben. Fortan tritt Helmut Kohl als entscheidender Akteur auf, der den Weg zur staatlichen Einheit ebnete. Eher marginal behandelt wird die friedliche Machtübergabe, die durch Verhandlungen zwischen der SED und den Vertretern der Runden Tische ausgehandelt wurden. Die Selbstdemokratisierung der DDR schrumpft auf dem scheinbar unaufhaltsamen Weg in die Einheit zu einer wenig bedeutsamen Randnotiz (vgl. Rödder 2009).

In Öffentlichkeit und Wissenschaft dominieren diese beiden Erzählstränge bis heute und werden häufig zu einer Meistererzählung von der Freiheit in der Einheit verflochten. Gemeinsam ist allen Varianten, dass sie in hohem Maße sinnstiftend sind. Erstens erzählen sie eine Erfolgsgeschichte, denn am Ende des revolutionären Umbruchs stehen die Freiheit der Ostdeutschen und die Einheit Deutschlands. Zweitens legitimieren sie das Handeln der damaligen Akteur:innen, die einen schnellen Weg zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten wählten, um die Einheit zu vollenden und die Freiheit zu sichern. Drittens bieten sie eine Identifikationsfläche, indem sie Heldengeschichten erzählen. Die Debatte zwischen Detlef Pollack, Ilko-Sascha Kowalczuk und anderen dreht sich letztlich genau darum: Wer darf sich heute mit den Protestierenden vom Herbst 1989 identifizieren?

Historische Sinnstiftung strebt per se nach Eindeutigkeit. Was nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet, für Ambivalenzen ist in der Regel kein Platz. Dies ist auch das Problem bei den Meistererzählungen von 1989. Dazu gehört, dass die friedliche Revolution zumeist mit den Massenprotesten des Herbstes 1989 gleichgesetzt wird, die in der Grenzöffnung vom 9. November ihren vermeintlichen Schlusspunkt finden. Die Runden Tische, die den Prozess der Selbstdemokratisierung und die gestalterische Rolle der ostdeutschen Akteur:innen repräsentieren, werden marginalisiert oder ganz ausgeblendet. Dies liegt auch daran, dass mühsame Verhandlungen mit Repräsentant:innen der alten Macht weniger heroisch anmuten, als Menschen, die einer übermächtigen Staatsgewalt friedliche entgegentreten. Im nationalen Narrativ wird nach der Grenzöffnung wiederum Helmut Kohl als ‚Kanzler der Einheit‘ zum handelnden Akteur, hinter dem alle anderen als Staffage erscheinen. Selbst die erste, frei gewählte Volkskammer und ihre umfassende Demokratisierung der DDR werden in der Erzählung einer rasch vollzogenen deutschen Einheit zur Randnotiz.

Ebenso keinen Platz in einer Erfolgsgeschichte haben die populistischen und rechtsradikalen Stimmen während der Massenproteste. Auf der Demonstration am 4. Dezember 1989 in Berlin schlugen zahlreiche Transparente einen neuen, aggressiven Ton an. Sie brandmarkten die Machthaber als „Volksbetrüger“ und „Verräter“, die das Volk verachten würden (Jessen 2017, S. 42). Diese Transparente fanden keinen Eingang in das Bildgedächtnis der friedlichen Revolution. Sie stören sowohl das liberale Narrativ, in der das Volk nach Freiheit und nicht nach Ausgrenzung strebt, als auch das nationale Narrativ, das sich schon 1989 von nationalistischen Vereinnahmungen abgrenzen musste. Es gibt auch nur wenige Fotographien von Neonazis auf den Montagsdemonstrationen, obwohl diese im Februar 1990 wegen der Überhandnahme rechtsradikaler Strömungen abgesagt wurden. Erst in der rückblickenden Frage nach den Wurzeln des Rechtsradikalismus in Ostdeutschland stellt sich die Frage, inwieweit Pegida bereits im Herbst 1989 begann und auch die AfD zum Erbe von 1989 gehört.

Verratene Revolution und westliche Übernahme: Gegenerzählungen zu 1989


Schon früh haben sich Gegenerzählungen etabliert, die nicht zuletzt aus den Defiziten der liberalen und nationalen Meistererzählung resultieren. Unter den Bürgerrechtsaktivist:innen verbreitete sich von dem Moment an, als sich eine schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die damit verbundene Marginalisierung ihrer politischen Vorstellungen abzuzeichnen begann, der...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8216-1 / 3779982161
ISBN-13 978-3-7799-8216-6 / 9783779982166
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