Heimsuchung - Jenny Erpenbeck

Heimsuchung

Roman

(Autor)

Buch | Softcover
192 Seiten
2010
btb (Verlag)
978-3-442-73894-6 (ISBN)
8,99 inkl. MwSt
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Ein Haus an einem märkischen See – und wie ein ganzes Jahrhundert in ihm wütetEin Haus an einem märkischen See: Es ist der Schauplatz für fünfzehn Lebensläufe, Geschichten, Schicksale von den Zwanzigerjahren bis heute. Das Haus und seine Bewohner erleben die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit der Nachwende. Jedem einzelnen Schicksal gibt Jenny Erpenbeck eine eigene literarische Form, jedes entfaltet auf ganz eigene Weise seine Dramatik, seine Tragik, sein Glück. Alle zusammen bilden ein Panorama des letzten Jahrhunderts, das verstört, beglückt, verunsichert und versöhnt.

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u.a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sich vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor. Durch den ungeheuren Druck, den das Eis ausübte, waren die erfrorenen Stämme der Eichen, Erlen und Kiefern zerknickt und niedergemalmt worden, Teile des Felsmassivs waren gesprengt, zersplittert, zerrieben worden, Löwe, Gepard und Säbelzahnkatze in südlichere Gegenden vertrieben. Über das Felsmassiv hinweg drang das Eis nicht. Dann wurde es nach und nach still, und das Eis begann seine Arbeit, den Schlaf. Während es über Jahrtausende hinweg seinen riesigen kalten Körper nur zentimeterweise ausstreckte oder herumschob, schliff es die Felsbrocken unter sich allmählich rund. In wärmeren Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten schmolz das Wasser an der Oberfläche des Eisblocks ein wenig, und glitt an Stellen, an denen der Sand unter dem Eis leicht fortzuspülen war, unter den schweren riesigen Leib. So trat das Eis, wo eine Erhebung sein Vorankommen hinderte, als Wasser sich selbst unterlaufend, den Rückweg an und floß bergab. In kälteren Jahren war das Eis einfach nur da, lag und war schwer. Und wo es, schmelzend, in wärmeren Jahren Rinnen unter sich in den Boden gegraben hatte, da preßte es in den kälteren Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten sein Eis mit aller Macht wieder hinein, um sie zu verschließen.Als vor etwa achtzehntausend Jahren erst die Zungen des Gletschers zu schmelzen begannen und dann, während die Erde sich weiter erwärmte, überhaupt alle seine südlicheren Glieder, ließ er nur wenige Pfänder in der Tiefe der Rinnen zurück, Inseln von Eis, verwaistes Eis, Toteis wurde es später genannt.Vom Körper, zu dem es einst gehört hatte, abgeschnitten und eingesperrt in die Rinnen, taute dieses Eis erst viel später, etwa um dreizehntausend vor Beginn der christlichen Zeitrechnung wurde es wieder Wasser, versickerte in der Erde, verdunstete in der Luft und regnete wieder herab, als Wasser begann es, zwischen Himmel und Erde zu kreisen. Wo es nicht tiefer dringen konnte, weil der Boden schon satt war, sammelte es sich über dem blauen Ton und stieg an, schnitt mit seinem Spiegel quer durch die dunkle Erde und wurde nur in der Rinne wieder sichtbar als klarer See. Der Sand, den das Wasser selbst vom Felsen gerieben hatte, als es noch Eis war, rutschte jetzt hier und da von den Seiten in diesen See und sank auf dessen Grund, so bildeten sich an manchen Stellen unterseeische Berge, an anderen Stellen blieb das Wasser so tief, wie die Rinne ursprünglich war. Eine Zeitlang würde der See jetzt inmitten der märkischen Hügel seinen Spiegel dem Himmel hinhalten, würde glatt daliegen zwischen Eichen, Erlen und Kiefern, die jetzt wieder wuchsen, viel später würde er, wenn es irgendwann Menschen gab, von diesen Menschen sogar einen Namen bekommen: Märkisches Meer, aber eines Tages würde er auch wieder vergehen, denn, wie jeder See, war auch dieser nur etwas Zeitweiliges, wie jede Hohlform war auch diese Rinne nur dazu da, irgendwann wieder ganz und gar zugeschüttet zu werden. Auch in der Sahara gab es einmal Wasser. Erst in der Neuzeit trat dort das ein, was man in der Wissenschaft als Desertifikation bezeichnet, zu deutsch Verwüstung.Der GärtnerWoher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon da. Er geht den Bauern bei der Veredelung ihrer Obstbäume im Frühling zur Hand, okuliert Wildlinge um Johannis auf treibende, oder im zweiten Safttrieb auf schlafende Augen, kopuliert die Äste der zu veredelnden Bäume oder schäftet sie an, je nach Dicke, bereitet die notwendige Mischung aus Harz, Wachs und Terpentin und verbindet die Wunde dann mit Papier oder Bast, jeder im Dorf weiß, daß die Bäume, die von ihm umgepfropft werden, beim weiteren Wachsen die regelmäßigsten Kronen zeigen. Im Sommer wird er von den Bauern als Schnitter und zur Aufstellung der Hocken geholt. Auch bei der Trockenlegung des dunklen Bodens der Parzellen am Seeufer fragt man ihn gern um Rat, er versteht sich darauf, die Zöpfe aus grünem Fichtenreisig zu flechten, steckt sie in der richtigen Tiefe in die Bohrlöcher zur Ableitung des Wassers. Er geht den Dorfleuten bei der Reparatur der Pflüge und Eggen zur Hand, schlägt im Winter mit ihnen gemeinsam Holz und zersägt die Stämme. Ihm selbst gehört kein Grund- und auch kein Waldstück, allein wohnt er in einer verlassenen Jagdhütte am Rande des Waldes, wohnt da schon immer, jeder im Dorf kennt ihn und dennoch wird er von den Leuten, jungen und alten, nur Der Gärtner genannt, als hätte er sonst keinen Namen.Der Großbauer und seine vier TöchterWenn eine heiratet, darf sie sich ihr Brautkleid nicht selbst nähen. Auch in ihrem eigenen Haus darf das Brautkleid nicht hergestellt werden. Auswärts wird es genäht und beim Nähen darf keine Nadel zerbrechen. Der Stoff für ein Brautkleid darf beim Nähen nicht gerissen, er muß geschnitten werden. Ist beim Zuschneiden ein Fehler passiert, darf das Stück Stoff nicht mehr verwendet werden, es muß ein neuer Streifen vom gleichen Stoff nachgekauft werden. Die Schuhe für die Hochzeit darf die Braut sich nicht von ihrem Bräutigam schenken lassen, sondern muß sie sich selber kaufen, und zwar von den Pfennigen, die sie zuvor über lange Zeit hinweg gesammelt hat. Die Hochzeit darf nicht in der heißesten Zeit, also nicht an den Hundstagen stattfinden, aber auch nicht im wetterwendischen Monat April, die Wochen des Aufgebots vor der Hochzeit dürfen nicht auf die Marterwoche vor Ostern fallen, und bei der Hochzeit selbst soll Vollmond sein, oder wenigstens zunehmender Mond, der beste Monat für eine Hochzeit ist Mai. Einige Wochen vor dem Hochzeitstermin wird das Aufgebot bestellt und im Schaukasten ausgehängt. Die Freundinnen der Braut flechten Blumengirlanden und umkränzen damit den Kasten. Ist das Mädchen im Dorf beliebt, werden es drei oder mehr Ranken sein. Eine Woche vor dem Hochzeitstag wird mit dem Schlachten und Backen begonnen, aber die Braut darf auf keinen Fall ein Feuer im Ofen flackern sehen. Am Tag vor der Hochzeit kommen nachmittags die Kinder des Dorfes und poltern, sie werfen Geschirr in den Torweg, so daß es zerbricht, aber kein Glas, und bekommen von der Hochzeitsmutter Kuchen gereicht.

Erscheint lt. Verlag 4.1.2010
Reihe/Serie btb
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 204 g
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • DDR • Deutschland • Deutschland, Geschichte; Romane/Erzählungen • DrittesReich • Heimito von Doderer-Literaturpreis • Hertha-Koenig-Literaturpreis • Krieg • Roman • WeimarerRepublik
ISBN-10 3-442-73894-6 / 3442738946
ISBN-13 978-3-442-73894-6 / 9783442738946
Zustand Neuware
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